Blätter für klassische Homöopathie

Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Klassische Homöopathie

Kleine Fallstudien aus der homöopathischen Praxis

Von Roger Rissel

Vortrag beim 12. Therapeutentreffen der DGKH in Moos

Fortsetzung aus NHP 11/2006

Zusammenfassung

Es werden drei Kasuistiken vorgestellt und Fragen, die sich dem Behandler bei der Arbeit stellen, aufgezeigt und reflektiert. So wird auf den Stellenwert einer Causa sowie auf die Repertorisation und die Patientenführung eingegangen.

Schlüsselwörter
Repertorisation, Causa, Patientenführung, Karl Julius Aegidi.


Einleitung

Durch die sorgfältige Erhebung und Niederschrift der Anamnese und die Dokumentation des Fallverlaufs bieten Einzelfalldarstellungen nicht nur eine gute Möglichkeit, als Lehrbeispiele in der Ausbildung verwendet zu werden, sie dienen auch der Reflexion der eigenen Arbeitsweise und der Methodik der Homöopathie an sich. Es werden darüber hinaus Krankheitszusammenhänge deutlicher und das Wissen über Krankheiten wird erweitert.

Kasuistik 2

Frühkindliche Entwicklungsverzögerung mit verzögerter Markreifung

Auswahl der Symptome

Die Mutter ist durch die wahrgenommenen Auffälligkeiten des Gemütszustandes und den Befund der Kernspintomographie sensibilisiert in der Beobachtung ihres Sohnes, so dass die genannten Symptome sorgfältig auf ihren Krankheitswert überprüft werden müssen.

Der kurze und gestörte Schlaf sowie das nächtliche Zähneknirschen wurden als Symptome für die Repertorisation herangezogen. Die Rubrik “Extremitäten, Lähmung – Ungeschicklichkeit – Beine – stolpert beim Gehen” wurde mit dem beobachteten Hypotonus und dem kaum mehr wahrnehmbaren Nystagmus ebenfalls hinzugenommen. Mit diesen Symptomen ist die zentralnervöse Störung gut in der Repertorisation repräsentiert. Auch das Nasenbluten nachts wurde als ein zwar zu diesem Zeitpunkt nicht mehr relevantes aber auffallendes Symptom ausgewählt.

Ergänzend wurden die Gemütssymptome Eigensinn und die Geräuschempfindlichkeit einbezogen. Mit der Rubrik “Eigensinnig” wurde versucht, das Suchen nach Körperkontakt bei Fremden, während es bei den Eltern abgelehnt wird, annähernd zu erfassen.
Man könnte versucht sein, das mitfühlende Wesen des Patienten mit in die Repertorisation zu nehmen. Hier wurde bewusst darauf verzichtet, da es sich dabei nicht um ein krankhaftes Symptom handelt. (Rep. 3)

Kommentar

An den vorderen Stellen der Auswertung konkurrieren Calcium carbonicum, Hyoscyamus und Belladonna miteinander. Die Entscheidung fällt auf Calcium, da sich dieses Arzneimittel homöopathisch als passend für die individuelle Symptomatik zeigt und aus der Erfahrung mit dieser Arznei bekannt ist, dass sie bei Entwicklungsverzögerungen erfolgreich eingesetzt wurde. Um diese Qualität zu berücksichtigen, kann man die Rubrik spätes Laufen und spätes Sprechen synonym heranziehen. Diese Rubrik wurde nicht in die Repertorisation aufgenommen. Sie nützt streng genommen nicht bei der Suche nach der Symptomenähnlichkeit, da es sich bei dieser Rubrik um eine Heilanzeige aus der Erfahrung bei der Anwendung der Arznei handelt und nicht um ein Prüfungssymptom. An Belladonna und Hyoscyamus ist bei akuten Infekten des Patienten als mögliche homöopathische Arznei zu denken.

Materia-medica-Vergleich der Arznei Calcium carbonicum CK, Bd. 2 (7)
Symptom Nr.:
350 Empfindlich gegen Geräusch, abends beim Einschlafen
381 Starkes Bluten der Nase
382 Etwas Nasenbluten Nachts
373 Schwitzen der Füße
1543 Im Schlafe kauet er oft und schluckt dann
1549 Unruhe im Körper lässt sie nicht lange auf einer Stelle liegen
1553 Unter Hin- und Herwerfen erwacht er öfters aus dem Schlafe
1555 Oefteres Erwachen aus dem Schlafe, als ob er schon ausgeschlafen hätte
1557 Schlaf nur von 11 bis 2, 3 Uhr; dann kann sie nicht mehr schlafen und ist bloß munter
Die Symptome der Ungeschicklichkeit sowie der Nystagmus konnten in der Materia Medica nicht gefunden werden. Im Neuen Clark sind Hinweise auf die schlaffe Faser (Hypotonus) und das späte Laufenlernen zu finden.

(Materia-medica-Vergleich der Arznei Calcium carbonicum)

Verordnung: Calc-c. LM 6 (Fa. Arcana), 3 Tropfen auf 1 Glas Wasser, eine Teelöffelspitze (linsengroßer Tropfen), 1 x täglich (Testdosis).

Rückmeldung am 13.02.2006: Die Arznei wurde wie angewiesen seit einer Woche gegeben. Die Sprache des Patienten wurde nach den ersten Einnahmen sehr undeutlich. Auch die ersten Nächte waren unruhiger als vorher. Er erwachte zu den genannten Zeiten. Einmal kam er erst um 4 Uhr ins Bett der Eltern. Der bei der Erstkonsultation bestehende leichte Infekt war ganz verschwunden. Es trat auch in den ersten Tagen der Arzneieinnahme prompt wieder das frühere Nasenbluten auf.

Verordnung: Da bei dieser Dosierung vorübergehende Verschlimmerungen und ein früheres Symptom kurzzeitig aufgetreten waren, wurde die Dosierung als angemessen erachtet und blieb deshalb unverändert. (Wäre die Verschlimmerung anhaltend gewesen, hätte pausiert und danach mit niedrigerer Dosis weiterbehandelt werden müssen.)

Rückmeldung am 03.03.2006: Nach wie vor erwache ihr Sohn noch sehr früh am Morgen zu den genannten Zeiten. Das Gesamtbild seines Verhaltens sei stabiler und er sei “fitter”.

Ansatzweise suche er den Kontakt zu fremden Menschen wenn er müde sei. Er schmuse aber nicht mehr mit ihnen. Positiv sei, dass er sich anderen Kindern zuwende (Entwicklung auch unabhängig von der Arznei möglich!). Er sei vermehrt eigensinnig. Er widerspreche mehr als früher. Auch wäre er selbstständiger geworden. Er könne sich nun rasch und ohne zu ermüden die Strümpfe selbst anziehen. Er schlafe gut ein. Tagsüber sei er schon noch häufig müde.

Kommentar

Eine positive Wirkung ist nicht mit Sicherheit festzumachen. Die Entwicklungsfortschritte könnten auch ohne die Arznei oder durch die begleitenden Maßnahmen bedingt sein. Die Nachfrage nach dem Zähneknirschen kann nicht spontan beantwortet werden, weshalb gebeten wurde darauf zu achten.

Verordnung: Calc-c. LM 9, nach einer Woche der Testdosis sollte auf 1/4 Teelöffel erhöht werden. Eine Rückmeldung wurde in 14 Tagen erbeten.

Rückmeldung am 27.03.2006: Es ginge ihrem Sohn gut. Es bestünde kein Zähneknirschen mehr. Der Schlaf sei deutlich ruhiger. Er erwache zwar noch nachts, schlafe aber bis 7 Uhr, wenn er nicht vorher durch das Aufstehen der Eltern (Weckerklingeln) gestört würde. Die Motorik habe sich deutlich gebessert. Nur wenn er müde sei, zeige sich das Stolpern und Hängenbleiben. Er traue sich jetzt auch unbekannte Spielgeräte auszuprobieren und sei dabei überraschend geschickt. Die Eltern seien sehr zufrieden.

Verordnung: Die Dosis sollte von 3 Tropfen auf 5 Tropfen ins Glas erhöht werden und weiterhin daraus 1/4 Teelöffel gegeben werden. Eine Rückmeldung wurde in 14 Tagen erbeten.

Rückmeldung am 30.03.2006: Es sei wieder heftiges Nasenbluten aufgetreten, das für mehr als eine halbe Stunde angehalten habe. Auch bestünde ein Schnupfen, der am Abklingen sei.

Verordnung: Weiter wie bisher verordnet.

Rückmeldung am 10.05.2006: An Ostern trat hohes Fieber auf mit 40,5 °C. Der Notdienst-Kinderarzt hatte ein Antibiotikum verordnet. Genauere Nachfrage ergab, dass klassische Belladonna-Symptome (heißer Kopf, kalte Extremitäten, delirante Träume) aufgetreten waren. Die Mutter hatte Belladonna in der Hausapotheke und wurde angeleitet, in einem ähnlichen Fall einen Erstbehandlungsversuch mit Belladonna zu machen, falls der Therapeut nicht erreichbar sei.
Ihr Sohn sei stabiler am Tag. Er schlafe nachts häufig durch und erwache noch früh. Es sei kein Zähneknirschen mehr zu beobachten. Die Motorik sei weiter gebessert.

Verordnung: Calc-c. LM 12, 5 Tropfen 1/4 Teelöffel; nach einer Woche auf 1/2 Teelöffel steigern.

Betrachtung

Können wir an diesem Behandlungsfall die Heilwirkung von Calcium carbonicum Hahnemanni eindeutig festmachen? Kritisch betrachtet ist das sehr schwierig. Die objektiven Krankheitsbefunde sind wage, wie aus den Arztberichten ersichtlich ist. Es kommt zu einer langsamen, stetig zunehmenden Besserung des Patienten. Dies kann aber auch mit den Fördermaßnahmen und den physiologischen Entwicklungsfortschritten mit dem Älterwerden des Kindes zusammenhängen.

Die auffallende Verbesserung beim Bruxismus (Zähneknirschen) kann man auf die Mittelwirkung zurückführen. Da es sich hierbei auch um eine zentralnervöse Störung handelt, kann eine Wirkung der Arznei auf die gesamte zentralnervöse Situation angenommen werden. So kann zumindest vorsichtig an dem bisherigen Therapiekonzept festgehalten werden, denn die Besserung der Situation ist, auch im Allgemeinen, überaus erfreulich.

Kasuistik 3

Rezidivierende Atemwegsinfekte nach Appendizitis perforans

Am 16.03.2006 kam eine Mutter mit ihrem kranken siebenjährigen Sohn in die Praxis. Da die jüngere Schwester (fünf Jahre alt) nicht wie geplant betreut werden konnte, wurde sie mitgebracht. Die kleine Schwester erschien körperlich kräftiger und sogar älter als ihr Bruder.

Das Hauptproblem des Jungen seien die rezidivierenden Infekte der oberen Luftwege. Ihr Sohn bekäme jeden epidemischen Infekt. Auch der Hallenbadbesuch löse regelmäßig einen Infekt aus. Dieser beginne mit Kopfschmerzen in den Stirnhöhlen. Die Absonderungen hätten alle Farben, von gelb über grün bis braun und zeigten auch Spuren von rotem Blut. Es komme dann zu einer Kehlkopfbeteiligung, die sich in einer rauen Stimme zeige, und dann stelle sich der Husten mit einer Kurzatmigkeit und einer Verengung der Bronchien ein. Diese Entwicklung gehe rasch vor sich, innerhalb von Stunden und sei mit Fieber verbunden. Bei den akuten Krankheitserscheinungen träte nachts im Bett ein extrem starker Schweiß am Stamm auf, so dass die Mutter zweimal das Bettzeug erneuern müsse. Der Appetit fehle dann ganz und es bestehe eine Durstlosigkeit. Diese Infekte erforderten regelmäßig die Behandlung mit Antibiotika und den Einsatz von Bronchodillatoren, die inhaliert würden. Mit dem Inhalator kämen auch Kortikiode zum Einsatz. Ihr Sohn sei auch zweimal an einer echten Grippe erkrankt gewesen und habe deshalb nun auch eine Grippeimpfung erhalten.

Neben den Kopfschmerzen im Zusammenhang mit den Infekten träten Kopfschmerzen nach übermäßigem Schokoladengenuss auf. Lesen beim Autofahrten löse Kopfschmerzen in der Stirn aus. Zwischen dem 2. und 3. Lebensjahr habe der Patient sich häufig erbrochen, sei unleidlich gewesen und habe nicht angefasst werden wollen. Auch ungewohnte Situationen lösten dies aus. Es zeige sich auch eine hohe Lichtempfindlichkeit. Da der Vater an Migräne leidet, wurden diese Symptome in einen Zusammenhang mit den Kopfschmerzen gebracht.

Im September 2005 hatte der Patient eine Kopfverletzung mit Bewusstlosigkeit, retrograder Amnesie und Schwindel. Die Narbe war noch gerötet.

An früheren Krankheiten gab die Mutter häufige Mittelohrentzündungen und Tonsillitiden an. Es kam auf beiden Seiten zu einer Trommelfellperforation. Die zu Beginn unauffällige Sprachentwicklung stockte durch eine Einschränkung des Gehörs. Abhilfe hatte eine operative Entfernung der Polypen gebracht. Im gleichen Jahr (2002) war eine Appendizitis aufgetreten, die zuerst nicht erkannt wurde. Bei der Operation war der Wurmfortsatz schon perforiert und machte eine zweifache Antibiose postoperativ notwendig. Das zuerst gegebene Antibiotikum brachte Hautreaktionen und eine Temperaturerhöhung mit Tachykardie. (Die Mutter berichtete, dass auch sie selbst mit 13 Jahren eine Perforation des Appendix hatte.) Ihr Sohn habe im Zusammenhang mit dieser Erkrankung 4 kg abgenommen und dies bis heute nicht aufholen können. Er sei rasch erschöpft und das mache Probleme bei allen sportlichen Aktivitäten. Er wäre der Langsamste in seiner Klasse. Nach dieser Erkrankung hatten die Bronchitiden und Pneumonien begonnen.

2004 wurde eine Operation wegen eitriger Entzündungen am Penis notwendig, die in monatlichen Abständen auftraten. Es lag eine Phimose vor mit einem zu kurzen Penisbändchen.

2005 wurde eine Tonsillektomie durchgeführt.

Weiter war auf Nachfragen zu erfahren, dass die ersten Zähne mit 11/4 Jahren durchgebrochen seien. Ein Schneidezahn im Unterkiefer fehlte. Laufen und Sprechen wurden zeitgemäß entwickelt. Ein anfängliches Schielen habe sich von selbst gegeben. Im Vorsorgeheft stand bei der Untersuchung mit 4 Jahren der Eintrag “Hypotonus der Muskulatur”.
Im Zusammenhang mit dem zu niedrigen Gewicht wurde über fehlenden Appetit berichtet.

Der Patient mochte rohes Obst und Gemüse, auch rohe Zwiebeln. Er esse gerne gut gewürzt (Salz und Pfeffer), denn die Mutter koche so. Fleisch, gekochtes Gemüse und Reis möge er nicht.

Der kleine Junge hatte sich, auch auf mein gezieltes Nachfragen hin, mehr und mehr in das Anamnesegespräch eingebracht, und darauf angesprochen wie er schlafe berichtete er, dass er abends im Dunkeln Mumien sähe. Vor diesen Mumien habe er große Angst. Er sehe dabei auch Gegenstände und Gespenster. Er träume auch schlecht in letzter Zeit. Er schreie im Schlaf wegen der Albträume auf. Es seien wieder die Mumien, Skelette und Fratzen von denen er träume. Beim Erzählen dieser Beschwerden wurde der Patient sehr emotional bewegt und weinte. Er habe Angst vor dem Schlafen und so könne das doch nicht bleiben. Er berichtete, dass er die Mumien in einem Buch der Schulbücherei gesehen und seither die Probleme habe.
Die Mutter hatte zwar die Albträume und die abendlichen Einschlafprobleme bemerkt, über die Details hatte sie aber nun erstmals etwas erfahren.

Ihr Sohn nähme sich alles sehr zu Herzen, so auch die Krebskrankheit der Patentante mütterlicherseits. In der Schule sei es ihm zu laut. Wenn er sehr geärgert würde (Schwester, Klassenkameraden) wehre er sich wild.

Die Familienanamnese zeigte bei der Mutter ein allergisches Asthma, bei der Schwester der Mutter ein Osteosarkom (Typ II) und beim Vater der Mutter ebenso ein allergisches Asthma.

Der Vater leide an Migräne und einer Hypertriglyzeridämie. Die Schwester des kleinen Patienten sei gesund.

Die körperliche Inspektion ergab keine weiteren Auffälligkeiten. Die Operationsnarbe am Bauch war unauffällig, die Zunge rein. Die Handrücken des Patienten waren rau.

Fallanalyse

Betrachtet man die zeitliche Abfolge der Erkrankungsphänomene des Patienten, so scheint der Blinddarmdurchbruch das markanteste Ereignis zu sein. Seit dieser Zeit bestehen die rezidivierenden Atemwegserkrankungen und ebenso der Gewichtsverlust und die Leistungsschwäche. Auch dass die Mutter mit 13 Jahren eine Appendixperforation hatte, verstärkt die Aufmerksamkeit hierauf. Viele Homöopathen würden geneigt sein, an dieser Stelle von Unterdrückung zu sprechen. Aber was ist denn unterdrückt worden? Die lebensgefährliche Infektion im Bauchraum durch die Perforation der Appendix? Klarer und auch deutlich mehr im begrifflichen Kontext der Homöopathie kann von einer Aktivierung der hereditären Psora oder besser von der Aktivierung von veranlagten Krankheitsdispositionen gesprochen werden.
Die durch das Anschauen von Büchern ausgelöste Geistessymptomatik und Schlafstörung stellen Erkrankungsphänomene dar, die durch das zu wählende Arzneimittel abgedeckt sein sollten.
Die Mutter gibt spontan an, dass sie umgehend über die Auswirkungen des Buches mit den Bibliothekaren sprechen wird. Weitere Empfehlungen zur Diät und Lebensführung sind nicht notwendig. Alle bisher gebrauchten Arzneien können bei Bedarf wie bisher angewendet werden.
Rep. 4a / Rep. 4b (siehe Naturheilpraxis 12/2006)

Kommentar

Als auffallendere Symptome gehen der nächtliche reichliche Schweiß bei den akuten Infekten und die Durstlosigkeit in die Repertorisation ein, da sich diese Symptome immer bei den Infekten so zeigen.

Die Träume werden durch 2 Rubriken repräsentiert. An Gemütssymptomen gehen die Illusionen, das nächtliche Aufschreien und die Geneigtheit zum Weinen ein. Als Hauptsymptome werden die Kopfschmerzen bei den Infekten, die spastische Komponente, die sich an den Bronchien abspielt, die Appetitlosigkeit und die rauen Hände mit in die Repertorisation einbezogen. Frühere Symptome werden nicht verwandt, da gute aktuelle Symptome vorhanden sind. Die beiden Repertorisationen zeigen synonyme Rubriken in Rep. 4a, die dann verknüpft werden in Rep. 4b. Es ist sinnvoll synonyme Rubriken zu verknüpfen und ein Symptom nicht doppelt oder mehrfach in die Wertung einzubringen. Die “Beratung” wäre weniger objektiv, weil dadurch bestimmte Symptome ein unangemessenes Gewicht erhalten würden.

Obwohl man beim Lesen der Symptome an Calcium carbonicum denkt und dieses Mittel zur Symptomatik des Patienten gute Ähnlichkeitsbezüge aufweist, beispielsweise die starke Beeindruckbarkeit durch das Anschauen der Bilder, die Durstlosigkeit im Fieber, liegt es erst an Stelle 9 bzw. 10 der Repertorisation! Auf jeden Fall sollte an dieses Mittel als mögliches Folgemittel von Sulfur gedacht werden.

Arznei handelt und nicht um ein Prüfungssymptom. An Belladonna und Hyoscyamus ist bei akuten Infekten des Patienten als mögliche homöopathische Arznei zu denken.

Materia-medica-Vergleich der Arznei Arznei Sulfur, CK, Bd. 5 (8)
Symptom Nr.:
584-588 Symptome mit Appetitlosigkeit
1410 Harte trockene Haut der Hände
1804 Unruhige Nächte; er erwachte jedes Mal mit Schreck, wie aus einem fürchterlichen Traume und war nach dem Erwachen noch mit ängstlichen Phantasien wie von Geistern beschäftigt, wovon er nicht sogleich loskommen konnte
1882 Schreckliche, angstvolle Träume, alle Nächte
1883 Erschreckende, ängstliche Träume von Todesgefahr und Toten
1892 Beim Schließen der Augen gleich Traumbilder
1893 Abends im Bette, gleich nach dem Schließen der Augen, schweben ihr scheußliche, abenteuerliche Fratzen-Gesichter vor, deren sie sich nicht erwehren kann

Materia-medica-Vergleich der Arznei Sulfur, CK, Bd. 5 (8)

Verordnung (20.03.06): Es wurde Sulfur LM 6 (Fa. Arcana) 3 Tropfen in ein Glas Wasser, daraus einen linsengroßen Tropfen, verordnet. Die Repertorisation und der Hintergrund häufiger Antibiotikaanwendungen (Erfahrungswert, keine direkten homöopathischen Ähnlichkeitsbezüge) gaben Sulfur den Vorzug. Die Traum- und Geistessymptome werden von Sulfur gut abgedeckt wie der Materia-medica-Vergleich zeigt.

Rückmeldung eine Woche nach Einnahmebeginn (30.03.2006): Seit drei Tagen bestehe etwas Schnupfen. Der Appetit sei deutlich besser. Die Visionen wären unverändert. Er erwache häufig gegen 1:30 Uhr und könne nicht wieder einschlafen. Wenn er davon spreche, dass er diese Visionen habe, sei er emotional nicht mehr so beteiligt wie vor der Einnahme der Tropfen. Die Haut am Handrücken könnte möglicherweise etwas gebessert sein.

Verordnung: Da bis auf den Appetit keine deutliche Besserung zu sehen ist und der akute Infekt durch größere Arzneigaben kupiert werden könnte, wird die Dosis auf 1/4 Teelöffel erhöht.

Rückmeldung am 18.04.2006: Der Schnupfen sei rasch weggegangen, berichtete die Mutter am Telefon. Sonst sei die Situation wie beim letzten Bericht. Ihr Sohn schlafe jetzt durch. Die Albträume und das Schreien seien nicht mehr aufgetreten. Abends gäbe es “Theater” wegen der Visionen. Er habe 2 1/2 kg zugenommen. Es falle auf, dass ihr Kind sehr zum Weinen geneigt und widerspenstig sei. Auch sei die Nase verstopft. Die Mutter wolle vom Kinderarzt einen allergischen Hintergrund abklären lassen. Die Haut am Handrücken sei unauffällig.

Verordnung: Es sollte nun in der Apotheke Sulfur LM 9 bestellt werden. Für eine Woche sollte der linsengroße Tropfen eingenommen werden und dann wieder 1/4 Teelöffel voll.

Rückmeldung am 22.05.2006: Ihrem Sohn gehe es sehr gut, berichtete die Mutter. Er habe jetzt die ganze Zeit über keine Infekte gehabt, obwohl sie selbst seit drei Wochen an einem Infekt leide. Den Tod der Patentante habe ihr Sohn auch gut verwunden (sie starb aufgrund einer TBC bei bestehender Lungenfibrose). Er schlafe durch, esse gut, habe keine Albträume und keine Visionen mehr. Das Körpergewicht betrug nun 24 kg (Angabe im Fragebogen: 19,6 kg).

Verordnung: Die Mutter wurde über die Bedeutung einer weiteren Fortführung der Behandlung mit Dosissteigerung informiert und Sulfur in der LM 12 verordnet. Die erste Woche sollte weiter 1/4 Teelöffel eingenommen werden, die zweite Woche 1/2 Teelöffel und so Woche für Woche auf das Doppelte gesteigert werden.

Rückmeldung am 13.06.2006: Es wurde bis vor zwei Tagen 1 Teelöffel Arzneilösung gegeben. Seit etwa letzter Woche seien kleine weiße Pickel an den Unterarmen und im Gesicht des Patienten aufgetreten, wie Milien. Dies habe der Patient schon früher einmal gehabt. Auch sei die Nase wieder etwas verstopft. Alle anderen Beschwerden seien nicht mehr aufgetreten. Der Appetit sei gut und die Stimmung auch.

Verordnung: Die Arzneieinnahme soll bis zum Wochenende pausiert werden. Wenn eine Besserung zu beobachten sei, solle weiterhin keine Arznei mehr eingenommen werden. Bleibe die Nase verstopft und die Haut unverändert, solle mit 1 Teelöffel Arzneilösung weiterbehandelt werden. Eine Rückmeldung wurde für in 2-3 Wochen vereinbart.

Betrachtung

Schlussbetrachtung

...

Anmerkungen
1 Genneper 2001, 82-83.
2 Dingler, W.: Kleiner Fragebogen. Werner Dingler Verlag, Konstanz.
3 “Die Frenzelbrille ist eine Leuchtbrille mit Gläsern von 15 Dioptrien Stärke. Sie wird als Untersuchungsinstrument eingesetzt, um die Augenbewegungen (auch genannt Nystagmus) eines Patienten besser erkennen zu können. Die stark brechenden Linsen verhindern zum einen das scharfe Sehen des Probanden. Dadurch wird die Dauer des Nystagmus verlängert. Zum anderen werden die Augen für den Untersuchenden größer und somit deutlicher dargestellt, der Nystagmus ist deutlicher zu beobachten. Die Art der Bewegungen lässt Rückschlüsse auf die Ursachen von Gleichgewichtsstörungen zu” (aus: www.wickipedia.de).
4 Polypen sind eine umgangssprachliche Bezeichnung für die adenoide Rachenmandelwucherungen, die beim Blick in den Mund nicht sichtbar sind, da sie anatomisch hinter den Gaumenbögen liegen.
5 Mandeln sind der umgangssprachliche Begriff für die Tonsillen des lymphatischen Rachenrings, im engeren Sinn der Gaumenmandeln. Der Begriff leitet sich von der Mandelform der Tonsillen ab.

Literatur:
(1) Clarke, J. H.: Der Neue Clarke, Bd. 1-4. Greifenberg: Hahnemann Institut, 2005.
(2) Genneper/Wegener (Hrsg.): Lehrbuch der Homöopathie, 1.Aufl. Heidelberg: Haug, 2001.
(3) Hahnemann, S: Organon der Heilkunst, Textkritische Ausg. der 6. Aufl. Neuausgabe, Heidelberg: Haug, 1999.
(4) Hahnemann, S: Organon der Heilkunst, 5. verbesserte und vermehrte Aufl. Dresden und Leipzig: Arnold 1833.
(5) Hahnemann, S: Reine Arzneimittellehre, Bd. 1. Typographische Neugestaltung der 3. verm. Aufl. von 1830. Heidelberg: Haug, 1995.
(6) Hahnemann, S: Reine Arzneimittellehre (RA), Bd. 3. Typographische Neugestaltung der 2. verm. Aufl. von 1825. Heidelberg: Haug, 1995.
(7) Hahnemann, S.: Die chronischen Krankheiten (CK), Band 2. Unveränd. 5. Nachdr. der Ausg. Letzter Hand. Düsseldorf: Schaub, 1835 – Heidelberg: Haug, 1991.
(8) Hahnemann, S.: Die chronischen Krankheiten, Band 5. Unveränd. 5. Nachdr. der Ausg. Letzter Hand. Düsseldorf: Schaub: 1839 – Heidelberg: Haug, 1991.
(9) Handley, R.: Auf den Spuren des späten Hahnemann. Stuttgart: Sonntag, 2001.
(10) Kent, J. T.: Zur Theorie der Homöopathie, 4. Aufl. Heidelberg: Haug 1996.
(11) Luft, B./Wischner, M.: Samuel Hahnemanns Organon Synopse. Die 6 Auflagen von 1810-1842 im Überblick. Heidelberg: Haug, 2001.
(12) Poeck/Hacke: Neurologie, 12. aktualisierte und erweiterte Auflage. Heidelberg: Springer, 2006.
(13) Rissel, R.: Betrachtungen zur Causa anhand eines interessanten Falles aus der alten Literatur, in: NHP 1/2003.
(14) Rissel, R.: Reaktionen auf die Arzneimittelgabe. Ein kritischer Vergleich von Hahnemann und Kent, in: NHP 5/2004.
(15) Schmidt, J.: Taschenatlas Homöopathie in Wort und Bild. Heidelberg: Haug, 2001.
(16) Schmidt, J. / Kaiser, D. (Hrsg.): Samuel Hahnemann: Gesammelte kleine Schriften. Heidelberg: Haug, 2001.
(17) Simbürger, F.: ComRep ML2, Software für Homöopathie, Eching.
(18) Vigoureux, R.: Karl Julius Aegidi. Leben und Werk des homöopathischen Arztes. Quellen und Studien zur Homöopathiegeschichte, Band 6. Heidelberg: Haug, 2001.
(19) Wischner, M.: Fortschritt oder Sackgasse? Die Konzeption der Homöopathie in Samuel Hahnemanns Spätwerk, 1. Nachdr. Essen: KVC Verlag 2001.

Anschrift des Verfassers:
Roger Rissel
Friedrich-Naumann-Str. 24
55131 Mainz



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