Blätter für klassische Homöopathie

Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Klassische Homöopathie

Kleine Fallstudien aus der homöopathischen Praxis

Von Roger Rissel

Vortrag beim 12. Therapeutentreffen der DGKH in Moos

Zusammenfassung

Es werden drei Kasuistiken vorgestellt und Fragen, die sich dem Behandler bei der Arbeit stellen, aufgezeigt und reflektiert. So wird auf den Stellenwert einer Causa sowie auf die Repertorisation und die Patientenführung eingegangen.

Schlüsselwörter
Repertorisation, Causa, Patientenführung, Karl Julius Aegidi.

Einleitung

Durch die sorgfältige Erhebung und Niederschrift der Anamnese und die Dokumentation des Fallverlaufs bieten Einzelfalldarstellungen nicht nur eine gute Möglichkeit, als Lehrbeispiele in der Ausbildung verwendet zu werden, sie dienen auch der Reflexion der eigenen Arbeitsweise und der Methodik der Homöopathie an sich. Es werden darüber hinaus Krankheitszusammenhänge deutlicher und das Wissen über Krankheiten wird erweitert.

Kasuistik 1

Beschwerden eines Neugeborenen

Am 21.09.2005 meldete sich ein bereits in Behandlung befindlicher junger Mann und berichtete über die Geburt seines ersten Kindes, einer Tochter, die vor drei Tagen zu Hause geboren wurde. Beide Eltern seien in Sorge, da das Kind bei der Geburt nur 2800 g gewogen habe und nicht trinke. Deshalb waren eine Homöopathin, eine Osteopathin und eine Stillberaterin hinzugezogen worden. Die Hausgeburt, die sich über 18 Stunden hingezogen hatte und bei der er kräftig mithelfen musste durch starkes Drücken auf den Bauch seiner Frau, hätte ihn “ganz schön viel Kraft gekostet”. Die Hausgeburt habe ihn und seine Frau sehr gefordert.

Am 14.10.2005 wurde das Neugeborene dieses Patienten in der Praxis vorgestellt. Als Beweggrund wurde angegeben, dass die Homöopathin, bei der die Mutter in Behandlung sei, weit weg niedergelassen sei und so ein Homöopath in räumlicher Nähe miteinbezogen werden sollte. Das kleine Mädchen schlief ruhig während des Praxisbesuchs. Die Mutter berichtete, was sich alles ereignet hatte in den 26 Tagen seit ihre Tochter auf der Welt sei. Nach der lange dauernden Geburt habe ihr Kind nicht trinken wollen.

Auch mit Zwingen zum Trinken sei nichts zu machen gewesen. Sie habe beim Anlegen nur einen roten Kopf bekommen, aber nichts getrunken. Am Dienstagmorgen (dritter Tag) wurden 3 Globuli (mohnsamengroß) Silicea C30 von der Homöopathin, welche die Mutter behandelt, verordnet. Das Kind habe dann den Tag über geschlafen. Da sie sonntags geboren wurde und bis Dienstagabend immer noch nicht getrunken hatte, wurde um 22 Uhr eine Osteopathin aufgesucht. Diese erhob als Befund eine Stauchung der Halswirbelsäule, aufgrund der das Neugeborene den Mund nicht richtig öffnen und den Kopf nicht nach rechts drehen könne. Nach der Behandlung habe der Säugling gegähnt, die Stirn gerunzelt und sich gestreckt. Der betreuende Kinderarzt stellte am nächsten Tag die Gesundheit des Neugeborenen fest. Am Donnerstag erfolgte das erste Trinken über 1 1/2 Stunden, dabei war der Kopf rot, die Hände verkrampft und das Kind schrie sehr. Am Freitag (23.09.) erfolgte eine Vorstellung in der Klinik. Der Verdacht auf eine behandlungsbedürftige Gelbsucht bestätigte sich nach einer Blutuntersuchung nicht. Die Hebamme wendete darauf Lycopodium an, einen Globulus in der C30, worauf das Kind besser trinken konnte.

Am 28.09. (10 Tage nach der Geburt) wurden abends 3 Globuli Aconitum C30 gegeben (Verordnung der Homöopathin). Darauf habe das Kind heftig reagiert mit anhaltendem Strampeln und Schreien. Drei Tage später wurden erneut 3 Globuli Silicea C30 gegeben, auf die keine erkennbare Reaktion erfolgte. Es traten Blähungen auf und nach dem Trinken wurde viel geschrieen bei rotem Kopf. Nach dem Hinlegen verschlimmerte sich das Befinden deutlich, und in die Arme nehmen und Wiegen besserte den Zustand. Morgens ging es noch relativ gut. Nachmittags und abends verschlechterte sich die Situation. Es wurde “Windsalbe” auf den Bauch eingerieben und Fencheltee zugefüttert. Es gluckere laut im Bauch, berichteten die Eltern. Das Kind überstrecke den Rücken bei Bauchschmerzen und wenn es etwas nicht wolle. Vor zwei Tagen wurde von der Homöopathin Magnesium carbonicum in der C12 zweimal täglich 5 Globuli verordnet. Seither ginge es besser. Der Säugling trinke nun alle 2-3 Stunden, jedoch nur an der rechten Brust – die linke Brustwarze der Mutter sei nicht so gut entwickelt, was das Trinken dort unmöglich mache. Das Neugeborene wog damals 2560 g bei 48 cm Länge.

Kurzanamnese der Mutter:
Schilddrüsenunterfunktion aufgrund einer Hashimoto-Thyreoiditis; Medikation: 100 µg Euthyrox.
Hüftdysplasie beidseitig; OP als Säugling und mit drei Jahren.
Heuschnupfen und Nahrungsmittelallergie gegen Tomaten, Wein, Fisch, Milch.
Zahngesundheit: Trägt Amalgamfüllungen und hat als Zahnarzthelferin viel mit Amalgam gearbeitet.
Die Schwangerschaft verlief ohne Probleme.

Überlegung und Vorgehen:
Nachdem das Kind schon einige Arzneimittel von verschiedenen Behandlern erhalten hatte und seine Beschwerden zurzeit mit dem aktuellen Mittel gebessert waren, wurde keine zusätzliche Verordnung gemacht. Mutter und Kind wurden entlassen mit dem deutlichen Hinweis, dass die Eltern sich bei einer Verschlechterung der Situation melden müssten und dann eine Arzneiverordnung erfolgen würde.

Kommentar
Es sind mit der Homöopathin und der Hebamme schon zwei Therapeuten am Werk, die homöopathische Arzneien geben und verordnen. Ist ein Dritter, der sich hier einschaltet und Mittel verordnet, nicht zu viel des Guten? Hier wurde genau aus diesem Grund und einer Situation die keinen dringenden Handlungsbedarf erkennen ließ, zuerst Zurückhaltung geübt mit der klaren Anweisung, sich bei einer Zunahme von Beschwerden zu melden.

Am 27.10.2005, zwei Wochen nach der Vorstellung in der Praxis (der Säugling war mittlerweile fast sechs Wochen alt), erfolgte ein schriftlicher Bericht der Mutter. Die zufriedenstellende Situation seit dem letzten Praxisbesuch habe sich nun verschlechtert. Die bereits genannten Symptome wurden bestätigt und eine Verschlechterung der Beschwerden nach dem Trinken hervorgehoben. Tragen und Wiegen bessere nicht immer. Manchmal würde Besserung durch Windeabgang oder Stuhlgang eintreten. Beim Trinken schlafe die Tochter momentan nach kurzer Zeit ein.

Nachdem versichert wurde, dass nun die homöopathische Behandlung ganz in eine Hand gelegt werden sollte, erfolgte eine Rücksprache über die Mittelverordnung mit der bisher behandelnden Homöopathin, welcher der obige Bericht, zugesandt durch die Patientin, ebenso vorlag.
Rep. 1 - siehe Naturheilpraxis 11/2006

Kommentar
Die Hinweise der Osteopathin, dass eine Stauchung durch den Geburtsvorgang verursacht worden sei, ließ eine Verletzungsfolge als “Causa” wichtig erscheinen. Es sollte einer Causa jedoch nicht eine solch große Bedeutung beigemessen werden, wie dies häufig geschieht.1 Die Symptomenähnlichkeit ist für die homöopathische Verordnung der entscheidendere Aspekt. Eine Causa stellt kein bei Arzneiprüfungen aufgetretenes Symptom dar, sie ist ein von außen einwirkender Umstand. Eine Causa-Rubrik im Repertorium hat eine beratende Qualität. Sie gibt Auskunft über einen erfolgreichen Einsatz bestimmter homöopathisch gewählter Arzneien bei Vorhandensein dieser Causa. Solche Rubriken zeigen die bisher gemachten Erfahrungen auf. Sie müssen durch neue mögliche Erfahrungen mit anderen Arzneimitteln ergänzt werden können. Damit alleine relativiert sich die Bedeutung der Causa-Rubriken im Repertorium (s. auch (13)). Hier wurde die Rubrik “Folgen von Verletzungen” dennoch zur Repertorisation verwendet, um Arzneien, die sich bereits bewährt haben, deutlicher zu gewichten. (Es ist einiges erlaubt, wenn es reflektiert wird und man sich dabei bewusst ist, was man tut).

Des Weiteren wurden die sicher beobachteten Symptome des Kindes für die Repertorisation zugrunde gelegt: Die Bauchschmerzen nach dem Essen, der rote Kopf, die Darmgeräusche, die Flatulenz und die nachmittäglich-abendliche Verschlimmerung. Der Besserung durch Wiegen wurde zum damaligen Zeitpunkt noch keine so große Bedeutung beigemessen, da das Symptom nicht stark ausgeprägt war, man das allgemein mit Säuglingen zu tun pflegt und die positive Wirkung ein bekanntes Phänomen ist. Auch andere Symptome wurden nicht für die Repertorisation herangezogen, da sie sich wenig beständig zeigten. Es wurde versucht, der für die junge Mutter schwierigen Situation, der Sorge um das Kind und der dadurch bedingten übergroßen Aufmerksamkeit, Rechnung zu tragen. Für das Symptom 3 der Repertorisation wurden zwei Rubriken miteinander verknüpft (s. Legende zu Rep. 1). Die beiden Rubriken “Abdomen – Flatulenz – Auftreibung des Bauches” und “Rektum – Flatus (Blähungsabgang)” stehen für eine Symptomatik, die physiologisch eng zusammenhängt. Dies kann jedoch kritisch hinterfragt werden, da es auch vorkommt, dass eine Aufblähung des Bauches ohne Blähungsabgang besteht oder Winde ohne eine Auftreibung des Bauches abgehen. Die bisher gegebenen Arzneimittel Silicea und Lycopodium haben dem Repertorisationsergebnis nach durchaus Ähnlichkeitsbezug zur Symptomatik der Patientin. Es fallen nun unter anderem Chamomilla und Arnika auf. Fast jede der ersten 20 Arzneien der Auswertung (Rep. 1) hat Ähnlichkeitsbezug zu den zur Repertorisation herangezogenen Symptomen. Dies bedeutet, dass die Rangfolge der Arzneien nur aufgrund des Grades, den eine einzelne Arznei hat, zustande kommt. Die Repertorisation berät den Homöopathen bei der Arzneimittelwahl, nicht mehr. Arnika kommt nun aufgrund seiner besonderen Beziehung zur stumpfen Traumatisierung in die engere Wahl. Das Studium der Materia medica bringt dann die Entscheidung, Arnika zu verordnen.

Verordnung am 28.10.2005:
1 Globulus Arnika C30 in einem halben Glas Leitungswasser auflösen und einen linsengroßen Tropfen dem Baby direkt geben (die Mutter war in homöopathischer Behandlung, deshalb erhielt das Baby die Arznei direkt). Nach drei Tagen sollte eine Rückmeldung erfolgen. Vorgaben zur Änderung von Diät und Lebensführung waren nicht notwendig.

Rückmeldung am 01.11.2005:
Der Säugling trinke jetzt an beiden Brüsten, lächle seit dem Wochenende und habe einen deutlich wacheren Gesichtsausdruck. Er sei aber noch nicht ganz gesund. Eine Stunde nach dem Trinken habe er Bauchschmerzen. Vor dem Stuhlgang schreie er mit rotem Kopf. Es bestehe auch etwas Schnupfen mit einer grünlichen Absonderung. Es gingen Blähungen ab und große Mengen flüssigen Stuhls würden entleert.

Verordnung:
Es wurde verordnet abzuwarten und sich in drei Tagen wieder zu melden.

Rückmeldung am 04.11.2005:
Es gehe noch etwas besser, berichtete die Mutter. Ihre Tochter liege, auch wenn sie wach sei, ruhig in der Wiege, schaue und lächle. Sie schlafe nachts nach dem Trinken an einer Brust gleich wieder ein, was die bisher sehr angespannte Situation sehr erleichtere. Tagsüber würde das Kind unruhig trinken, winde sich und drücke zum Stuhl. Der Stuhl sei weich und es erfolgten drei Stuhlentleerungen am Tag. Es bestehe noch etwas grüne Schnupfenabsonderung.

Verordnung:
Aufgrund der grünen Schnupfenabsonderung und der Repertorisation, die auch auf Pulsatilla weist, wurde diese Arznei in der Potenz C30, in der gleichen Weise wie oben beschrieben, verordnet.

Frage:
Wäre hier ein weiteres Zuwarten oder die Wiederholung von Arnika vernünftiger gewesen?

Rückmeldung am 07.11.2005:
Ihre Tochter könne nicht mehr alleine sein. Sie wolle viel herumgetragen werden. Sie trinke gut, sei nachts allerdings wieder länger munter, weshalb die Nächte weniger Schlaf für die Mutter ermöglichten. Am Tag der Pulsatilla-Gabe war eine große Müdigkeit zu beobachten.

Verordnung:
Abwarten.

Rückmeldung am 12.11.2005 mit schriftlichem Bericht:
Es bestehe keine Schnupfenabsonderung mehr, die Nase sei jedoch noch verstopft, was beim Atmen zu hören sei. Ihr Kind habe nach wie vor heftige Bauchschmerzen, die während und nach dem Trinken aufträten und dabei ein rotes Gesicht, das mit Blässe wechsle, berichtete die Mutter. Es gingen nach wie vor viele Winde ab. Der Stuhl mache den Anus wund. Die Farbe des Stuhls sei gelb-grünlich und mit vielen weißen Klümpchen drin. Ihre Tochter könne häufig nur durch langes Herumtragen und Wiegen beruhigt werden. Die Eltern machten sich Sorgen, dass eine Milchunverträglichkeit die Ursache sein könnte. Rep. 2 - siehe Naturheilpraxis 11/2006.

Kommentar
Besonders die Beschaffenheit des Stuhls, die sich in dieser Form als ein neues Symptom zeigt, ist auffallend und wurde jetzt für die Repertorisation herangezogen sowie die Besserung durch Herumtragen und Wiegen, da die Mutter diese Beobachtung mit mehr Bestimmtheit benannte und sich das Phänomen durch mehr Konstanz auszeichnete. Zu diesem Symptom bieten sich im Repertorium zwei weitere Rubriken an:
“Gemüt – getragen werden, möchte”
“Modalitäten – will getragen werden”

Im Unterschied zur verwendeten Rubrik “Gemüt – wiegen, hin und her bessert” wird mehr ein erkennbarer Wille (will / möchte getragen werden) zum Ausdruck gebracht. Deshalb wurde die passendere Rubrik verwendet. Ein Zusammenfassen aller drei Rubriken ist ebenso denkbar. Ein Nebeneinanderstellen der Rubriken ist problematisch, da damit ein Symptom dreifach repräsentiert würde, was die Repertorisation – die Beratung – unausgewogen macht.

Schon die Repertorisation 1 zeigt, dass Chamomilla eine große Ähnlichkeit mit dem Beschwerdebild des Säuglings hat. Der wunde Anus könnte ebenso mit in die Repertorisation aufgenommen werden, da sich dieses Symptom nicht anhaltend längere Zeit zeigte und auch durch einen Diätfehler der Mutter aufgetreten sein könnte, wurde jedoch darauf verzichtet.

Hatte Pulsatilla doch eine Wirkung gehabt? Es ist eine Teilwirkung denkbar, die in der Folge weitere Symptome hervorbrachte (s. §§ 167, 168 und 248 des Organon (3)). Ob die neuen Symptome durch Pulsatilla hervorgelockt wurden oder ob sie eine natürliche Entwicklung der Krankheit waren, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden. Eine Beeinflussung durch Pulsatilla ist aus homöopathischer Sicht auf jeden Fall denkbar (s. auch (14)).

Verordnung am 13.11.2005:
Chamomilla C30 ein Globulus in einem halben Glas Wasser aufgelöst, davon einen linsengroßen Tropfen – eine einzige Gabe, die bei Bedarf nach vorherigem Umrühren zu wiederholen sei. (Der Vater sagte bei der Mitteilung der Verordnung, dass die Eltern selbst in den Ratgebern auf dieses Mittel gestoßen seien, es aber nicht gegeben hätten, da ihre Tochter doch überhaupt nicht den dort beschriebenen zornigen Gemütszustand habe.)

Rückmeldung am 22.11.2005:
Es habe eine deutliche Wirkung gegeben. Es wurde die Gabe nach zwei Tagen wiederholt, da sich wieder etwas Verschlechterung zeigte. Der Stuhl sei nicht mehr grün, und nur noch vereinzelt wären die weißen Klümpchen zu sehen. Erst gestern habe ihr Kind wieder geschrieen und mit dem Drücken beim Trinken angefangen. Auch müsse die Mutter erst seit gestern wieder mehr ihr Kind tragen und wiegen. Der Kopf sei beim Schreien nicht mehr so rot wie noch vor 14 Tagen.

Verordnung (22.11.2005):
Eine neue Auflösung der Arznei sollte wie oben beschrieben hergestellt und nach kräftigem Umrühren ein linsengroßer Tropfen gegeben werden. Der Homöopathin, welche die Mutter behandelt, wurde ein Bericht über den bisherigen Behandlungsverlauf zugesandt.
Bei einer Konsultation des Vaters im Januar 2006 erfuhr ich, dass es seiner Tochter gut gehe. Sie schreie selten und wenn, dann nur für ganz kurze Zeit. Die Osteopathin fände keinen behandlungsbedürftigen Befund mehr. Die Mutter nähme ihre Tochter mit zu ihrer Homöopathin und diese habe auch die weitere Behandlung übernommen.

Betrachtung
Gab es Gründe für eine Unzufriedenheit mit der Behandlung, dass diese wieder in die Hände der Homöopathin der Mutter gelegt wurde? Was muss künftig besser gemacht werden, um einen Patienten länger in der Behandlung zu halten?

Ein Blick auf den Kollegen Karl Julius Aegidi und seine Erfahrungen bei der Behandlung der Prinzessin von Preußen können bei der Suche nach Antworten helfen. Hahnemann schätzte Aegidi als homöopathisch arbeitenden Arzt und empfahl ihn der Prinzessin Luise von Preußen als Leibarzt, da er selbst die Behandlung nur mittels Briefkontakten führen konnte. Aegidi gab deshalb seine Praxis auf und siedelte nach Düsseldorf um. Die Prinzessin hatte vielerlei wechselnde Beschwerden und die verordneten homöopathischen Arzneien zeigten nur vorübergehende Teilwirkungen. Für die Behandlung erschwerend war, dass die Prinzessin sich auch immer wieder brieflich an Hahnemann wendete und Hahnemann mit Aegidi rücksprechend Arzneimittelverordnungen für die Prinzessin vorschlug, die dieser aber nicht immer befolgte. Als Aegidi wegen persönlicher Angelegenheiten mehrmals Urlaub nahm, kam es zum Eklat und die Prinzessin kündigte ihm. Aegidi sah sich in einer finanziellen Not und forderte von der Prinzessin eine Abfindung, die ihm zwar gewährt wurde, aber zu gering war. Hahnemann setzte sich für Aegidi bei der Prinzessin ein und diese gewährte eine höhere Abfindung, die Hahnemann im Gegensatz zu Aegidi ausreichend fand. Schon im Vorfeld der Kündigung beschwerte sich die Prinzessin bei Hahnemann über Aegidi:

“Nehmlich habe ich schon lange gefunden, daß der Medizinalrath Aegidi sich es zu wenig angelegen seyn läßt etwas zu thun zur Besserung meines oft leidenden Zustandes. Er läßt mich nie etwas consequent gebrauchen, er wechselt immer von diesem zu jenem Riechmittel oder Pulver. Dann läßt er die oft heftigen Schmerzen und die Mattigkeit viel zu sehr überhand nehmen, bevor er sich entschließt etwas Ernstliches dagegen anzuwenden. Auf diese Weise kann ich ja niehmals dauernd besser werden.”
(Vigoureux 2000, 59 / IGM Stuttgart, A 1055).

In ihrem Krankenjournal (vom 28.10.1834) schreibt die Prinzessin:

“Am 28sten. Den Tag über ohne Beschwerden außer gegen Abend wo ich eine Zeit lang Beklommenheit auf der Brust hatte. Die Stimmung war den Tag über heiter. Der Schlaf die Nacht ruhig. Gegen Morgen sprach ich im Schlafe über die Behandlung und Nichtberücksichtigung meines oft leidenden Zustandes vom Medizinalrath Aegidi. Eine Reminiszenz von dem Aufenthalt in Bernburg als ich dort über 8 Tage lang leidend war, er sich um meinen Zustand nicht bekümmerte, hingegen noch unfreundlich gegen mich war als ich Hofrath Hahnemann consultirte und dessen Mittel anfing einzunehmen. Dies hat auf mich einen so ungünstigen, unangenehmen Eindruck gemacht, da ich immer höflich und freundlich gegen den Medizinalrath gewesen bin.”
(Vigoureux 2000, 59 / IGM Stuttgart, A 1057).

Letztlich klingt es beim Streit um die Höhe der Abfindung in einem Brief an Hahnemann dann so:

“Der Medizinalrath hat mir zuweilen in der Düsseldorfer Hofapotheke bereitete äußere Mittel brauchen lassen, die ich stets wegthat, da ich die strengen spirituösen Gerüche nie vertragen konnte und überhaupt auch keine äußerliche in der Apotheke bereitete Mittel mehr anwende seit ich zur Homöopathie allein Vertrauen habe und behalten werde solange ich lebe. Ich nahm nichts mehr ein als aus meinem Arzneykasten. Er ist kein strenger Homöopath, er wendet auch allopathische Mittel zuweilen an. Er denkt es ist einerley was man anwendet, ich hingegen nicht, ich habe zu viel durch allopathische Arzneyen gelitten. Alle diese Ursachen machen den Wechsel des Arztes bey mir nöthig, ich leide sonst ganz darunter in Hinsicht meiner armen Gesundheit.”
(Vigoureux 2000, 61-62 / IGM Stuttgart, A 1063).

Karl Julius Aegidi ist ein beachtenswerter homöopathischer Arzt gewesen, und die Kritik der Prinzessin und seine Verunglimpfung als Homöopath entsprechen nicht dem tatsächlichen Sachverhalt. Diese Eröffnungen zeigen aber ganz deutlich, dass für einen Patienten die sorgfältig und gewissenhaft ausgeübte Homöopathie nicht das einzige Kriterium für die Wahl des Therapeuten ist. Es spielen sehr persönliche Gründe eine entscheidende Rolle.

Kasuistik 2

Frühkindliche Entwicklungsverzögerung mit verzögerter Markreifung

Vorgeschichte
Auf Empfehlung einer Kollegin meldete sich die Mutter des zu Behandlungsbeginn nicht ganz vier Jahre alten männlichen Kleinkindes mit dem Wunsch nach einer homöopathischen Behandlung. Vor dem Praxisbesuch zur Erhebung der Erstanamnese wurde der kleine Fragebogen 2 ausgefüllt zurückgesandt. Die Mutter machte sehr umfassende Angaben mit Kopien der Arztberichte und einer Kopie des Impfbuchs. Nach diesen Unterlagen litt der Patient an einem kongenitalen Fixationsnystagmus, der sich zwischenzeitlich soweit besserte, dass er nicht mehr nachweisbar war. Im Alter von neun Monaten wurde das Kleinkind erstmals in einer Kinderklinik, zur weiteren Ausschlussdiagnostik dem Augenarzt und zwei Monate später in einer Deutschen Klinik für Diagnostik (DKD), Fachbereich Kinderheilkunde und Jugendmedizin vorgestellt. Die Vorsorgeuntersuchungen beim Kinderarzt waren bisher unauffällig und die Eltern gaben einmal an, das Augenzittern 6-8 Wochen nach der Geburt erstmals beobachtet zu haben und laut Bericht der zweiten Klinik ab dem 3.-4. Lebensmonat. Auf Nachfrage bezüglich des genauen Zeitpunktes der Erstbeobachtung gab die Mutter an, es nicht festlegen zu können. In den Arztbriefen hieß es zu diesem Zeitpunkt, die Entwicklung ihres Kindes sei altersgerecht und unauffällig. In der Fachklinik für Diagnostik wurde durch weitere Untersuchungen die Notwendigkeit einer kernspintomographischen Untersuchung zu diesem Zeitpunkt als nicht notwendig erkannt und die Eltern darüber aufgeklärt. Es sollten damit intrakranielle Raumforderungen als Ursache für den Nystagmus ausgeschlossen werden. Die Augenärzte mahnten dieses Vorgehen an und verunsicherten dadurch die Eltern. So kam es später zur nochmaligen Vorstellung des Kindes in der DKD und zu einer kernspintomographischen Untersuchung des Schädels mit den folgenden Befunden (zitiert aus dem Arztbrief):

Klinischer Befund:

– insgesamt unauffälliges Verhalten
– Nystagmus, feinschlägig horizontal nur ganz kurz während der Anamneseerhebung
– Vorzugshaltung des Kopfes mit Drehung nach links bei der Fixation
– leicht hypotone Muskulatur

Kernspintomographie des Schädels (23.10.03)

– Großer Gehirnschädel gegenüber dem Gesichtsschädel
– Keine Zeichen für Raumforderung

In den T2- und PD-gewichteten Bildern insgesamt schlechte Mark-Rinden-Differenzierung, in der T1/GE-Sequenz ist eine Mark-Rinden-Differenzierung möglich bei insgesamt etwas unvollständiger Markreifung. Auch die Capsula interna ist bds. nur schemenhaft abgrenzbar. Der Balken ist in den hinteren Abschnitten schmächtig

– Vergrößerte Rachen- und Gaumenmandel
– Asymmetrie des Schädels, rechte Hemisphäre etwas größer

Zusammenfassende Beurteilung:
Bild wie bei leichter frühkindlicher Entwicklungsverzögerung mit etwas verzögerter Markreifung. Keine Fehlbildung. Eine tumoröse Raumforderung kann ausgeschlossen werden.

Kommentar
Solche Informationen im Vorfeld der Anamnese studieren zu können hilft bei einer guten Vorbereitung. Es ist klar zu ersehen, dass eine hochqualifizierte Arbeit von den Ärzten geleistet wurde.

Zur Klinik
Der kongenitale (angeborene) Fixationsnystagmus ist laut einschlägiger Fachliteratur ein veranlagtes Phänomen, das auf eine Störung des Fixationsmechanismus zurückgeführt wird. Durch die diagnostische Untersuchung mittels der Frenzelbrille 3 kann nachgewiesen werden, ob der Nystagmus nur bei Fixation auftritt, was diese Form des Nystagmus, wie der Name schon sagt, kennzeichnet. Mit der Abklärung dieser Diagnose hätte laut Bericht des Facharztes bei sonst unauffälligem Zustand auf weiterreichende Untersuchungen verzichtet werden können. Durch die Kernspintomographie ist nun ein neuer unabhängiger Befund erhoben worden. Die Hirnrinde (graue Substanz) war schlecht vom Gehirnmark (weiße Substanz) abzugrenzen. Eine verzögerte Myelinisierung der Neuriten wurde dadurch erkannt. Die Myelinscheiden (Markscheiden) im Zentralnervensystem ermöglichen eine rasche Impulsweiterleitung. Zum Zeitpunkt der Diagnosestellung war eine Entwicklungsverzögerung alleine aufgrund der Klinischen Untersuchung nicht feststellbar.

Anamnese

...

Der Beitrag wird in der nächsten Ausgabe mit dem Kapitel “Auswahl der Symptome” fortgesetzt

Literatur:
(1) Clarke, J. H.: Der Neue Clarke, Bd. 1-4. Greifenberg: Hahnemann Institut, 2005.
(2) Genneper/Wegener (Hrsg.): Lehrbuch der Homöopathie, 1.Aufl. Heidelberg: Haug, 2001.
(3) Hahnemann, S: Organon der Heilkunst, Textkritische Ausg. der 6. Aufl. Neuausgabe, Heidelberg: Haug, 1999.
(4) Hahnemann, S: Organon der Heilkunst, 5. verbesserte und vermehrte Aufl. Dresden und Leipzig: Arnold 1833.
(5) Hahnemann, S: Reine Arzneimittellehre, Bd. 1. Typographische Neugestaltung der 3. verm. Aufl. von 1830. Heidelberg: Haug, 1995.
(6) Hahnemann, S: Reine Arzneimittellehre (RA), Bd. 3. Typographische Neugestaltung der 2. verm. Aufl. von 1825. Heidelberg: Haug, 1995.
(7) Hahnemann, S.: Die chronischen Krankheiten (CK), Band 2. Unveränd. 5. Nachdr. der Ausg. Letzter Hand. Düsseldorf: Schaub, 1835 – Heidelberg: Haug, 1991.
(8) Hahnemann, S.: Die chronischen Krankheiten, Band 5. Unveränd. 5. Nachdr. der Ausg. Letzter Hand. Düsseldorf: Schaub: 1839 – Heidelberg: Haug, 1991.
(9) Handley, R.: Auf den Spuren des späten Hahnemann. Stuttgart: Sonntag, 2001.
(10) Kent, J. T.: Zur Theorie der Homöopathie, 4. Aufl. Heidelberg: Haug 1996.
(11) Luft, B./Wischner, M.: Samuel Hahnemanns Organon Synopse. Die 6 Auflagen von 1810-1842 im Überblick. Heidelberg: Haug, 2001.
(12) Poeck/Hacke: Neurologie, 12. aktualisierte und erweiterte Auflage. Heidelberg: Springer, 2006.
(13) Rissel, R.: Betrachtungen zur Causa anhand eines interessanten Falles aus der alten Literatur, in: NHP 1/2003.
(14) Rissel, R.: Reaktionen auf die Arzneimittelgabe. Ein kritischer Vergleich von Hahnemann und Kent, in: NHP 5/2004.
(15) Schmidt, J.: Taschenatlas Homöopathie in Wort und Bild. Heidelberg: Haug, 2001.
(16) Schmidt, J. / Kaiser, D. (Hrsg.): Samuel Hahnemann: Gesammelte kleine Schriften. Heidelberg: Haug, 2001.
(17) Simbürger, F.: ComRep ML2, Software für Homöopathie, Eching.
(18) Vigoureux, R.: Karl Julius Aegidi. Leben und Werk des homöopathischen Arztes. Quellen und Studien zur Homöopathiegeschichte, Band 6. Heidelberg: Haug, 2001.
(19) Wischner, M.: Fortschritt oder Sackgasse? Die Konzeption der Homöopathie in Samuel Hahnemanns Spätwerk, 1. Nachdr. Essen: KVC Verlag 2001.

Anschrift des Verfassers:
Roger Rissel
Friedrich-Naumann-Str. 24
55131 Mainz



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