Akupunktur/TCM

Der Wert der Pulsdiagnose

Martin Feldman

Ich behandele nie, ohne den Puls zurate zu ziehen. Zunächst dachte ich, es wäre einfach, einen Patientenfall zu finden, der den Einfluss der Pulsdiagnose auf die Behandlung und das Behandlungsresultat demonstriert. Doch als ich über die Wahl eines Falles grübelte, wurde mir bewusst, wie schwer es war, den Baum an seiner Wurzel zu kappen. Das bedeutet: Ich verwende den Puls immer als Hauptbestandteil oder Wurzel meiner Diagnose, die dann wiederum bestimmt, wie die Behandlung aufgebaut ist. Was wären die Behandlungen ohne die Pulsdiagnose? Wie könnte ich wissen, ob sie wirksam sind? Ich kann diese Fragen nicht direkt beantworten, jedoch kann ich beispielhaft aufzeigen, was die Pulsdiagnose zu leisten im Stande ist.


Ich erinnere mich an einen Fall vor zehn Jahren, der mich vieles gelehrt hat. Ich behandelte eine Frau mit chronischer Bronchitis. Wieder und wieder versuchte ich ihr zu helfen, indem ich Punkte wählte, um direkt die Lunge zu behandeln. Schließlich merkte ich, dass ich immer wieder mit dem Kopf (oder den Nadeln) gegen eine Wand lief, bis ich endlich behandelte, was an ihrem Puls schon seit Beginn auffällig gewesen war: den schwachen Lebermeridian. Als ich dies tat, verschwand ihre Bronchitis schlagartig. Ich schwor mir ab diesem Moment, die Pulsdiagnose nie wieder zu ignorieren.
Seither hat sich meine Arbeit dahingehend entwickelt, dass ich nur noch nach den Behandlungsstrategien von Yoshio Manaka und dem Fünf-Phasen-Stil, wie er von Kodo Fukushima und Denmei Shudo gelehrt wird, vorgehe. Das Fünf-Phasen-System der Meridiantherapie basiert in hohem Maße auf der Pulsdiagnose, und ich nutze den Puls ebenfalls, um meine Behandlungen nach Manakas Ansatz zu unterstützen. In meinen Übungs- und Schülergruppen habe ich gesehen, welch einen großen Unterschied eine korrekte Pulsdiagnose machen kann und dass sie bereits während der Behandlung eine augenblickliche Rückmeldung bietet. Insbesondere die Übungsgruppen waren von unschätzbarem Wert, da die Übungspartner berichten konnten, welche Wirkung eine korrekte oder inkorrekte Behandlung auf sie hatte, während der Behandler gleichzeitig den Puls tastete. Ich habe immer wieder beobachtet, wie ein einziger Punkt, der basierend auf der Pulsdiagnose ausgewählt wurde, den Puls drastisch verändern konnte, und dementsprechend auch, wie die Person die Behandlung empfand.

Ein Fall von HIV

Ein aktueller Fall zeigt die einzigartigen Möglichkeiten, wie die Pulsdiagnose im Zusammenspiel mit einer an Manaka angelehnten Diagnose einem Patienten helfen konnte. Mein Patient hat eine HIV-Infektion. Bisher verläuft die Viruserkrankung asymptomatisch, und er kommt nur zu mir, wenn er ein spezifisches Anliegen hat. Normalerweise sucht er mich mehrmals im Jahr auf, um eine gewöhnliche Erkältung oder Sinusitis behandeln zu lassen. Bei diesem Patient ist gemäß den Fünf Phasen immer wieder eine Schwäche der Lunge feststellbar. Auf die entsprechende Behandlung reagiert er sehr gut. Zweimal zeigte er sich besorgt über die reduzierte Anzahl von T-Zellen. In beiden Fällen entschied er sich, es mit einer Behandlungsserie zu versuchen, um festzustellen, ob das Blutbild durch Akupunktur beeinflusst werden würde. Nach jeder Serie hatte sich tatsächlich die Anzahl der T-Zellen erhöht.
Eines Tages kam dieser Patient zu mir wegen eines ungewöhnlichen Symptoms: Seit drei Wochen wachte er immer um 4 Uhr morgens auf. Das geschah unabhängig davon, wann er zu Bett ging, und danach konnte er nicht mehr einschlafen. Auf der Meridianuhr ist 4 Uhr natürlich Lungen-Zeit und hat einen Bezug zu seinem typisch schwachen Lungenpuls. Diesmal war allerdings eine Fülle im Blasenmeridian tastbar. Bei der Palpation des Abdomens stellte ich fest, dass die Mu-Punkte von Lunge und Blase sehr druckdolent waren. Außerdem zeigte die Untersuchung, dass der Musculus gastrocnemius im entsprechenden Lungen-/Blasenareal (1, S. 739) sensitiv war. Da Blasen- und Lungenmeridian auf der Meridianuhr in Opposition zueinander liegen, entschied ich mich für eine Behandlung im Stile Manakas. Dazu gehörte die Verwendung eines Ionenpumpen-Kabels, das mit den Tonisierungs- und Sedierungspunkten verbunden wird. Die Behandlung wird einseitig vorgenommen, und diesmal entschied ich mich für ...

Der Puls öffnet den Blick

...

Hinweis
Dieser Artikel wird hier mit freundlicher Genehmigung der Japan Meridian Therapy Association abgedruckt. Er ist zuerst im North American Journal of Oriental Medicine, Bd. 2, Nr. 5, Nov. 1995, S. 21, erschienen.

Literatur
(1) Manaka, Yoshio; Itaya, Kaziko; Birch, Steven. Chasing the dragon’s tail: The theory and practice of acupuncture in the work of Yoshio Manaka. Paradigm Publications, 1995





Autor
Martin Feldman

Übersetzung
Dominik Daling

weiter ... (für Abonnenten der Naturheilpraxis


Zum Inhaltsverzeichnis

Naturheilpraxis 10/2015