Klassische Homöopathie

Erst- und Nachwirkung

Irrte Hahnemann?

Roger Rissel

Teil 2

In der letzten Ausgabe der Naturheilpraxis wurden im ersten Teil dieses Beitrags die theoretischen Hintergründe zum Thema erörtert und dabei Aussagen von Hahnemann und seinen Nachfolgern vorgestellt und diskutiert. Sollten wirklich nur die Erstwirkungen einer Arznei für die homöopathische Arzneimittelwahl geeignet sein? Am Beispiel von Opium soll die Frage untersucht werden, inwieweit die Unterscheidung von Erst- und Nachwirkungen haltbar ist. Einleitend dazu wurde auf die Pharmakologie von Opium eingegangen.
Hier wird im zweiten Teil die Fragestellung anhand der Materia medica von Opium und der Erfahrungen in der Praxis beantwortet.


Materia medica homoeopathica

Das Studium der Materia medica homoeopathica bringt erstaunliche Sachverhalte zutage. Um auf die Position Hahnemanns zu Erst- und Nachwirkungen abzielen zu können, wird zunächst die Reine Arzneimittellehre (Gesamte Arzneimittellehre) [7] herangezogen.

In der Symptomenliste der Opiumwirkungen (homöopathische Arzneimittelprüfung und toxikologische Beobachtungen aus der Literatur) sind Phänomene angeführt, die es laut Hahnemann gar nicht geben dürfte. In Hahnemanns einleitendem Text zu Opium in der Reine[n] Arzneimittellehre (RAL) kritisiert er die undifferenzierte Anwendung von Opium in der Medizin zu seiner Zeit:

„Aber gerade Mohnsaft gehört nicht unter diese Schmerzen stillenden und heilenden Mittel. Fast nur Mohnsaft allein erregt in der Erstwirkung keinen einzigen Schmerz. Jedes andere bekannte Arzneimittel dagegen erregt im gesunden menschlichen Körper, jedes seine eigene Arten von Schmerzen in seiner Erstwirkung, und kann daher die ähnlichen in Krankheiten (homöopathisch) heilen und vertilgen, vorzüglich wenn auch die übrigen Symptome der Krankheit mit den von der Arznei beobachteten in Aehnlichkeit übereinstimmen. Nur allein Mohnsaft kann keinen einzigen Schmerz homöopathisch, das ist, dauerhaft besiegen, weil er für sich keinen einzigen Schmerz in der Erstwirkung erzeugt, sondern das gerade Gegentheil, Empfindunglosigkeit, deren unausbleibliche Folge (Nachwirkung) eine grössere Empfindlichkeit als vorher und daher eine peinlichere Schmerzempfindung ist“ [7: 1420].

Im Widerspruch dazu stehen die dann in der Symptomenreihe der Materia medica angeführten Symptome (Tab. 1).

Wie lässt sich dieser Widerspruch erklären?

Es könnte angeführt werden, dass es sich bei allen Schmerzsymptomen um Nachwirkungssymptome handle. Dem kann entgegengehalten werden, dass immerhin einige der zitierten Symptome kurz nach der Arzneieinnahme aufgetreten sind (nach Stunde, , 1, 2, 3, 4, zwischen 4 und 6, 8, 24 Stunden). Es stellt sich die Frage, in welchem Zeitraum Erstwirkungen einer Arznei beobachtet werden bzw. ab wann auftretende Symptome sicher als Nachwirkung betrachtet werden können. Dies mag von der Arznei selbst und anderen Faktoren wie etwa der Gabengröße oder der gewählten Arzneipotenz und der Rezeptivität der Prüfperson abhängen. Sollte das Auftreten innerhalb der ersten Stunde oder auch noch nach Stunden wohl einer Erstwirkung zugerechnet werden können?

So bietet sich eine andere Erklärung an. In der Einleitung zur Symptomenliste von Opium kritisiert Hahnemann die Anwendung großer Opiumgaben bei Schmerzzuständen aller Art. Er fordert eine auf die jeweiligen Schmerzen homöopathisch passende Arznei zu verordnen. Bei seiner Begründung, dass Opium nie homöopathisch zur Behandlung von Schmerzen angezeigt sein könne, weil es nie in der Erstwirkung Schmerzen hervorrufe, geht er wohl einen Schritt zu weit, wie die Symptomenliste der Materia medica zeigt. Grundsätzlich kann Opium als Arzneimittel bei Schmerzzu- ...

Anschrift des Verfassers
Roger Rissel
Heilpraktiker
Martin-Wohmann-Str. 17
65719 Hofheim am Taunus
E-Mail: roger.rissel@t-online.de

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Naturheilpraxis 5/2014