Klassische Homöopathie

Pragmatismus – eine Form des Gesetzesbruchs?

Paradoxa, Dilemmata, Konflikte und Pathologien in ihrer Wirkung auf den klassisch-homöopathischen Arbeitsprozess

Henning Marx

Fortsetung aus Naturheilpraxis 5/2012

Zusammenfassung:
In einer konkreten Behandlungssituation können Einflussfaktoren wirksam sein, die einen klassisch-homöopathischen Arbeitsprozess zur Arzneimittelfindung be- oder verhindern. Werden in diesen Konstellationen die Forderungen Hahnemanns als unumstößlicher Imperativ betrachtet, können sich daraus Paradoxa, Dilemmata, Konflikte und Pathologien entwickeln, die Behandlungserfolge auch langfristig reduzieren. Ein pragmatisches Vorgehen im Sinne eines Abweichens von einer vollumfänglichen Anamnese und Fallanalyse im Sinne eines idealen Arbeitsprozesses stellt eine mögliche Lösung für den Therapeuten dar, sich diesen Einflussfaktoren mit ihren ungünstigen Folgen zu entziehen (bzw. effizienter damit umzugehen). Das Abweichen von der „reinen“ Lehre Hahnemanns bedarf allerdings der Rechtfertigung, die über eine erweiterte Sicht des Organon-§ 2 erreicht werden kann. Die scheinbare Missachtung der theoretischen Grundlagen durch einen (auf spezifische Situationen beschränkten) Pragmatismus kann damit unter bestimmten Umständen, als mit der Lehre Hahnemanns als nicht im Widerspruch stehend angenommen werden, d. h. allgemein formuliert, dass positive Einschränkungen letztlich durchaus zu einer Erweiterung normativer Regelungen führen können.
Schlüsselwörter
Idealer Arbeitsprozess, Paradoxa, Dilemmata, Konflikte, pathologische Arbeitsprozesse, Pragmatismus, Organon-§ 2.
Fallbesprechungen
Gastritis, Atemnot, Arbeitsunfall, Trigeminusneuralgie, Dornwarzen, Ischialgie.


2. Dilemmata

In der heutigen Praxis können im Arbeitsalltag dilemmatische Situationen aufgrund der finanziellen Rahmenbedingungen entstehen, die der Therapeut erst infolge der paradoxen Wirkung als belastend erlebt, die aber auch unabhängig davon erheblichen Einfluss auf seine Entscheidungen ausüben können. Zu einem Dilemma kommt es immer dann, wenn bezogen auf ein Ziel gleichzeitig zwei Handlungsoptionen ausgeführt werden müssen, für die jeweils gute Gründe sprechen, sich gegenseitig aber ausschließen.17

Exkurs:
Finanzielle Rahmenbedingungen18, 19

Die Honorarstellung bedeutet für den Therapeuten immer einen Trade-off.20 Von einem Trade-off wird gesprochen, wenn die Veränderung einer Variablen nur durch die Veränderung einer weiteren Variablen in dem Sinne erreicht werden kann, dass eine Erhöhung der einen eine Verminderung der anderen impliziert und umgekehrt. Der wohl bekannteste Trade-off bezieht sich auf die Arbeitslosenquote und die Inflationsrate. Soll die Arbeitslosenquote gesenkt werden, bedeutet dies gleichzeitig, dass die Inflationsrate steigen wird und umgekehrt. Daher können niemals beide Variablen extremiert werden. Die Politik muss versuchen, eine Optimierung vorzunehmen. Das Problem liegt hier darin, dass ein Optimum nicht dauerhaft bestehen kann, da sich dieses in Abhängigkeit von verschiedenen Einflussfaktoren ändert.

Im Falle des Therapeuten lauten die Variablen: „Einnahmen durch vergüteten Aufwand“ und „Kostengünstigkeit für den Patienten“ (unterstellt, dass das Behandlungsergebnis in gewissen Grenzen unabhängig von der Rechnungshöhe ist). Die Bedeutung dieser Aussage soll an einem hypothetischen Gesundheitswesen mit nur zwei Personen, einem Therapeuten und einem Patienten, veranschaulicht werden. Der Therapeut verdient seinen Lebensunterhalt mit seinem Behandlungshonorar, während der Patient über eine körperliche Tätigkeit einen Akkordlohn erhält. Beide können ausschließlich durch Verwendung ihres Lohnes Nahrungsmittel eintauschen. Daraus folgt: Verlangt der Therapeut ein Honorar, das die gesamten Lohneinnahmen des Patienten aufzehrt, kann der Patient keine Nahrungsmittel einkaufen und verhungert. In der Folge fehlen dem Therapeuten die weiteren Einnahmen und auch er verhungert kurz darauf. Umgekehrt muss der Therapeut ein Honorar verlangen und kann nicht ausschließlich altruistisch arbeiten (auch aus Sicht des Patienten nicht), weil so der Therapeut keine Nahrungsmittel kaufen kann und verhungert. Sobald der Patient krank wird und nicht mehr arbeiten kann, weil er keine Behandlung mehr bekommt, verhungert er unweigerlich nachdem er ebenfalls keine Nahrungsmittel mehr erwerben kann. Dies ist zugegebenermaßen ein sehr vereinfachtes und überzeichnetes Modell, verdeutlicht aber dennoch die Grundzüge hinsichtlich der Honorarfragen, die ein Therapeut mehr oder weniger bewusst bedenkt. Und verdeutlicht auch, dass es über längere Zeit immer darum gehen muss, ein angemessenes Honorar zu stellen.21

Was unter einem angemessenen Honorar zu verstehen ist, wird teilweise sehr unterschiedlich beantwortet. Vor allem haben Patienten nicht selten andere Vorstellungen als der Therapeut. Hierfür gibt es mehrere Ursachen. Kassenpatienten sind es gewohnt, für die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen nicht direkt zu bezahlen und haben daher häufig falsche Vorstellungen über Kostensätze oder den tatsächlich vom Therapeuten benötigten Zeitaufwand für eine kunstgerechte klassisch-homöopathische Behandlung.

Die Beantwortung der Honorarfrage hängt aber auch von der Einstellung des Therapeuten ab. Es treten immer wieder Einflussfaktoren auf, die in einer neuen Behandlungssituation das vom Therapeuten definierte Optimum für das von ihm gewünschte Honorar zumindest infrage stellen können. Gründe hierfür können in der gesundheitspolitischen Einstellung des Behandlers liegen, der vielleicht Selbstzahlern einen ermäßigten Honorarsatz anbietet. Bei all diesen Überlegungen hat er gleichzeitig darauf zu achten, dass der Honorarsatz so gewählt ist, dass die Wertschätzung seiner Arbeit nicht verloren geht. Ein klassisch-homöopathisch arbeitender Therapeut ist von diesen Überlegungen in besonderer Weise betroffen, weil das Einhalten der Erfordernisse kunstgerechter Arbeit (individuelle Anamnese, Fallanalyse, Arzneimittelauswahl) von Natur aus sehr zeitintensiv ist.

Ende des Exkurses

Fall D: Trigeminusneuralgie

...

Konflikte

...

Fall E: Dornwarze (I)

...

4. Bedeutung der bisherigen Analyse

...

5. Pathologische Arbeitsprozesse

...

IV. Pragmatismus vs. Gesetzmäßigkeit

...

Fall F: Dornwarze (II)

...

Fall G: Ischialgie nach vermutetem Verheben

...

Anmerkungen
17...
18 Es sei darauf hingewiesen, dass die nun folgenden Ausführungen vermutlich nicht für Therapeuten gelten, die sich mittels ihrer Honorare eine Villa in der Toscana finanzieren wollen oder die ihre Arbeit ausnahmslos von einer altruistischen Warte aus beurteilen.
19 Die folgenden Ausführungen sind etwas ausführlicher als notwendig gehalten, da sich in der Ausbildung immer wieder zeigt, dass es für viele Berufsanfänger auch mit Hemmungen verbunden ist, Rechnungen zu schreiben und folgende Überlegungen vielleicht dazu beitragen, Gedankenanstöße zu bieten.
20 Gabler Verlag (Hrsg.), Gabler Wirtschaftslexikon, Stichwort: Phillips-Kurve, online im Internet: http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Archiv/54376/phillips-kurve-v5.html
21 Die Möglichkeit der Quersubventionierung wurde in dieser Grundbetrachtung außer acht gelassen.
22 Immer unter der Voraussetzung, dass die Behandlung nicht abgelehnt wird, wenn das gewünschte Honorar des Therapeuten nicht erzielbar ist.
23 Zur genauen Fallanalyse vgl. Marx, H., Heilige Ordnung, 2011, S. 546 ff.
24 Vgl. Marx, H., Inneres Gericht, 2010, S. 962 f.
25 Es scheint doch eine Veränderung der Symptome eingetreten zu sein, die jetzt ein klares Bild zeigen.
26 Anmerkung: Das Honorar hatte zwanzig Euro betragen.
27 Es sei hier besonders darauf hingewiesen, dass an die Gründe, die ein Abweichen vom idealen Arbeitsprozess erlauben, strenge Anforderungen zu stellen sind.
28 Bei der Unsicherheit bezüglich einer Arzneimittelverordnung aufgrund nicht eindeutigen Ergebnisses handelt es sich dagegen um ein Problem, weil das grundlegende Vorgehen nicht infrage steht und nur das Ergebnis unklar ist.
29 Vgl. Werpers, K., Konflikte, 1999, S 8.
30 Vgl. Kets de Vries, M.F.R./Miller, D., Personality, Organization, 1986, S. 266 ff.
31 Vgl. Scholl, W., Informationspathologien, 1992, Sp. 905.
32 Zur Bedeutung der Leitsymptome für die Arzneimittelwahl vgl. Marx, H., Leitsymptome, 2007, S. 385 ff., und S. 561 ff.
33 Analog insofern, als dass Hahnemann diese Auslegung nicht eigen war.
34 Hahnemann, S., Organon, 1842, S. 65.
35 Gründe können in der Bequemlichkeit, der mangelnden Zeit für die Auseinandersetzung oder in dem eingeschränkten Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten liegen.
36 Zur kritischen Betrachtung der Miasmentheorie vgl. Rissel, R., Miasmensalat, 2010, S. 603 ff., und S. 732 ff.
37 Zur vollständigen Darstellung vgl. Marx, H. Leitsymptome, 04/2007, S. 561 ff.
38 Dadurch kann sich eine weitere paradoxe Wirkung entfalten: Je mehr die Grundzusammenhänge verstanden werden, um sich die Möglichkeit zu schaffen, vertretbar von den formulierten Regeln situativ begründet abweichen zu können, desto mehr wächst das Wissen um deren Bedeutung, so dass an ihrer Einhaltung umso stärker festgehalten wird, weil irrationale Überlegungen in den Hintergrund treten.

Verwendete Literatur
Bleul, G. (Verwandtschaftsbeziehungen, 2009): Verwandtschaftsbeziehungen von Arzneimitteln, in Bleul, G. (Hrsg.): Weiterbildung Homöopathie, Band D: Chronische Krankheiten – Verlaufsbeobachtung und zweite Verschreibung, 2. überarbeitete Auflage, Stuttgart 2009, S. 86-99.
Fontin, M. (Dilemmata, 1997): Das Management von Dilemmata, Wiesbaden, 1997.
Gabler (Hrsg.): Gabler Wirtschaftslexikon online im Internet.
Genneper, T./Wegener, A. (Homöopathie, 2001): Lehrbuch der Homöopathie, Haug, Heidelberg 2001.
Hahnemann, S. (Organon, 1842): Organon, 6. Auflage, 1842, textkritische Neuausgabe, Haug, Heidelberg 1999.
Hahnemann, S. (Reine Arzneimittellehre, 1825): Reine Arzneimittellehre, Band 3, 2. vermehrte Auflage 1825, typographische Neugestaltung, Haug, Heidelberg 1995.
Hering, C. (Leitsymptome unserer Materia medica, 1997): Leitsymptome unserer Materia medica, Bd. 6; deutsche Übersetzung, Verlag Renée von Schlick, 1. Aufl., Aachen 1998.
Kets de Vries, M.F.R./Miller, D. (Organization, 1986): Personality, culture, and organization, in Academy and Management Review 11/1986, S. 266-279.
Marx, H. (Leitsymptome, 2007): Leitsymptome bei der klassisch-homöopathischen Behandlung, in NHP 03/2007, S. 385-390, fortgesetzt in NHP 04/2007, S. 561-565.
Marx, H. (Inneres Gericht, 2010): Das Innere Gericht – Rationalität in der homöopathischen Behandlung, in NHP 08/2010, S. 959-964.
Marx, H. (Heilige Ordnung, 2011): Heilige Ordnung – Orientierung im Dschungel der Symptome, in NHP 05/2011, S. 546-552.
Morrison, R. (Handbuch der Leitsymptome, 1997): Handbuch der homöopathischen Leitsymptome und Bestätigungssymptome, deutsche Übersetzung, Kai Kröger Verlag, 2. überarbeitete Auflage, Wittensee 1997.
Neuberger, O. (Führen, 2002): Führen und Führen lassen, Stuttgart, 6. Aufl., 2002.
Rissel, R. (Miasmensalat, 2010): Wege aus dem Miasmensalat, in NHP 05/2010, S. 603-608, fortgesetzt in NHP 06/2010, S. 732-736.
Scholl, W. (Informationspathologien): Informationspathologien, in Frese, E. (Hrsg.): Handwörterbuch der Organisation, 3. Aufl., Stuttgart 1992, Sp. 900-912.
Simbürger F.: Repertorisationssoftware ComRep Expert, Eching.
Werpers, K. (Konflikte, 1999): Konflikte in Organisationen: Eine Feldstudie zur Analyse interpersonaler und intergruppaler Konfliktsituationen, Münster 1999.

Anschrift des Verfassers:
Henning Marx
Schloßstr. 20/I
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