von Margret Rupprecht
Wer will was Lebendigs erkennen und beschreiben,
sucht erst den Geist herauszutreiben,
dann hat er die Teile in seiner Hand,
fehlt leider! nur das geistige Band.
(Mephisto in Goethes „Faust“)
Verstehen wir sie als ein Gewächs, das uns, wenn es sich um ein Heilkraut handelt, eine bestimmte Menge an pharmazeutisch wirksamen Substanzen für die arzneiliche Anwendung zur Verfügung stellt, ist das sicherlich richtig. Doch stellt sich die Frage, ob die „Dimension Pflanze“ nicht noch ganz andere Aspekte umgreift. Spätestens dann, wenn man an einem Sommertag in die Natur geht und das Wesen eines Gänseblümchens oder einer Weißdornhecke auf sich wirken lässt, können zumindest die sensibleren Mitmenschen wahrnehmen, daß Pflanzen über ihre individuelle Gestalt unterschiedliche Botschaften aussenden und auf eine ganz persönliche Art zum Betrachter Kontakt aufnehmen. Jede Einzelpflanze und jede Pflanzenart ist ein Individuum, das in einer ganz eigenen Sprache zu uns spricht. Zum einen über die äußere Erscheinung, zum anderen  in der arzneilichen Anwendung  über eine spezifische Wirkung.
Je differenzierter die pharmakologischen Analysemethoden geworden sind, desto größer wurde die Versuchung, Heilpflanzen mit laboranalytischen Untersuchungen zu erfassen, sie „in den Griff zu bekommen“ und ihre Wirkung rational zu begründen. Das Bedürfnis ist berechtigt, berücksichtigt aber nur die eine Seite der Wirklichkeit. Große Heilkundige haben seit jeher darum gewußt.
Paracelsus ging bei seinen Pflanzenbeobachtungen weit über jede mechanistische Anschauung hinaus und bemühte sich um eine Wesenserkenntnis des Heilkrautes: „In jeder Pflanze und in jedem Stock wohnt ein Geist inne, der eine große Kraft verbirgt, die von der Materie nur festgehalten werde. Doch kann man, wenn man die Pflanze an ihrer Signatur genau erkenne, auf deren Heilkräfte schließen.“ Paracelsus führte die Signaturenlehre wieder in die Pflanzenheilkunde ein. Doch brachte sie ihn auch in Verruf, da man ihr schon damals Unwissenschaftlichkeit vorwarf. Der bereits zu seinen Zeiten herrschende Konflikt zwischen intuitiver Wesenserkenntnis einer Heilpflanze und der Untersuchung ihrer stofflichen Beschaffenheit zum Zweck der rationalen Begründung ihrer Wirkung ist bis heute nicht wirklich gelöst. Er entzündet sich vor allem an den Themen der Zubereitungstechnik und Dosierung. Es bleibt zu hoffen, daß die dahinter stehende Entweder-Oder-Betrachtung irgendwann der Vergangenheit angehört und beide Positionen eines Tages gleichberechtigt nebeneinander stehen. Denn die Pflanze ist ein ebenso psychophysisches Wesen wie der Mensch und vereinigt in sich  ebenfalls  Stoff und Geist.
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Literatur
			Ursel Bühring: Praxis-Lehrbuch der modernen Heilpflanzenkunde. Grundlagen  Anwendung  Therapie. Sonntag Verlag, Stuttgart 2005
				Theodor Dingermann, Dieter Loew: Phytopharmakologie. Experimentelle und klinische Pharmakologie pflanzlicher Arzneimittel. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH, Stuttgart 2003
				Roger Kalbermatten: Die Dosierung in der Phytotherapie (Fachinformation Nr. 4 der Alcea GmbH); Pflanzliche Wirkstoffe zwischen Raum und Zeit (Fachinformation Nr. 7 der Alcea GmbH)
			Roger Kalbermatten: Wesen und Signatur der Heilpflanzen  Die Gestalt als Schlüssel zur Heilkraft der Pflanzen. AT Verlag, Aarau 2002
			Hildebert Wagner, Markus Wiesenauer: Phytotherapie. Phytopharmaka und pflanzliche Homöopathika. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2003
			Max Wichtl (Herausgeber): Teedrogen und Phytopharmaka. Ein Handbuch für die Praxis auf wissenschaftlicher Grundlage. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2002
			Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Der Tragödie erster und zweiter Teil. Urfaust. Kommentiert von Erich Trunz. C. H. Beck Verlag, München 1982
Anschrift der Verfasserin:
Margret Rupprecht
Heilpraktikerin und Medizinjournalistin
Truderinger Str. 106
81673 München
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