FACHFORUM

Engpaßsyndrome des Nervus medialis

Karpaltunnel oder nicht Karpaltunnel – das ist hier die Frage

Von Hans Hanisch

Die Symptome eines Engpasssyndroms sind häufig. Mit brennenden, ziehenden oder elektrisierenden Schmerzen, Kribbeln, Taubheit und Lähmungserscheinungen meldet sich der betroffene Nerv zu Wort. Ausgelöst werden die Beschwerden durch Druck auf den Nerven. Dabei muss der Druck nicht hoch sein. Bereits ein Druck von 45 mmHg unterhalb des arteriellen Mitteldruckes reicht aus, um innerhalb einer halben Stunde unerträgliche Symptome auszulösen (1). Wodurch der Druck ausgeübt wird, ist natürlich gleichgültig. Eine Last, die längere Zeit auf der Schulter getragen wird, kann auf den Armplexus drücken und die Rucksacklähmung (Steinträger- oder Balkenträgerlähmung) auslösen. In solchen Fällen ist die Prognose günstig – im Allgemeinen verschwinden die Symptome nach einer Weile von selbst. Kritischer ist die dauernde Beeinträchtigung eines Nervs etwa durch eine Muskelverspannung (Fehlhaltung) oder einen Tumor. Die Dauer des Drucks ist von größerem Einfluss als die Stärke.

Die Pathologie leitet sich bei geringen Drücken nicht von der direkten Schädigung der Axone durch den Druck ab. Vielmehr entsteht durch den Druck auf die Versorgungsgefäße des Nervs eine Durchblutungsstörung. Weiter kann ein Schaden in den innernervlichen Kapillaren entstehen. Beides führt zu Ödembildung im Nerv und damit zu weiterer Druckerhöhung und Verschlechterung der Blutversorgung. Die Folge ist ein gestörter axonaler Transport. Die Signale kommen verfälscht (Kribbeln, Schmerz) oder gar nicht (kein Tastsinn, Lähmung) am Erfolgsorgan an. Die Nervenleitgeschwindigkeit ist herabgesetzt. Die Ödembildung im Nerv ist besonders kritisch, da keine Lymphbahnen zur Ableitung der Ödemflüssigkeit bestehen. Die Flüssigkeit müsste in die Kapillaren resorbiert werden, was durch den erhöhten Druck nicht möglich ist. Das Ödem im Nerv führt zur Schwellung, sowohl distal als auch proximal der Druckstelle. Auf Dauer kann das betroffene Axon zerstört werden, was die entsprechenden Ausfallsymptome zur Folge hat (Waller- Degeneration).

Anatomische Engpässe sind für solche Druckschäden naturgemäß prädestiniert. Das bekannteste und am häufigsten diagnostizierte Problem dieser Art ist das Karpaltunnelsyndrom. Der N. medianus tritt im Handgelenk zusammen mit den Beugesehnen der Finger durch den Karpaltunnel. Der Tunnel wird durch die Handwurzelknochen und das Retinaculum flexorum (Halteband der Beugesehnen) gebildet. Die Ursache für ein Karpaltunnelsyndrom ist nun eine Druckerhöhung in diesem Engpass. Wie diese Druckerhöhung entsteht, ist meist unklar. In weniger als 10 % der Fälle ist ein Trauma vorausgegangen (2). Ödembildung durch Stoffwechselprobleme (Gicht, Diabetes) oder hormonelles Ungleichgewicht (Wechseljahre, Schwangerschaft) können ein Karpaltunnelsyndrom auslösen. Gleiches gilt für rheumatische Erkrankungen mit entzündlichen Ödemen (2, 3). Überlastung kann eine Ursache darstellen. In meiner Praxis lag solch ein Fall bei einer Patientin vor, die Free climbing (freies Klettern) betrieben hat. In der Literatur sind Polsterer und Arbeiter, die an stark vibrierenden Maschinen arbeiten, als gefährdet angegeben (2).

Die Symptome lassen sich aus den Funktionen des N. medianus ableiten. Motorisch versorgt der Nerv vor allem die äußeren und (von der Handfläche aus gesehen) oberflächlichen Daumenmuskeln. Die zwischen Daumen und Zeigefinger liegenden tiefen Daumenmuskeln werden von einem Ast des N. ulnaris versorgt. Eine Läsion des N. medianus führt also zu einer Schwäche beim Umgreifen eines Gegenstandes. Die Muskulatur, die den Daumen der Handfläche gegenüberstellt, ist geschwächt. Kompensiert wird diese Schwäche durch die tiefen Daumenbeuger, die vom N. ulnaris innerviert werden. Die Kraft beim Greifen wird nur mit dem Daumenendglied, nicht mit dem gesamten Daumen, ausgeübt. Hebt der Patient eine Flasche, liegt daher der Daumen nicht an der Flasche an (Flaschentest). Bei länger bestehendem Karpaltunnelsyndrom kann der Daumenballen durch Muskelatrophie eingedellt sein.

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Literatur:
(1) M. Mumenthaler, M. Stöhr, H. Müller-Vahl: Läsionen peripherer Nerven und radikuläre Syndrome, 8. Auflage 2003, Georg Thieme Verlag
(2) AWMF: Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie Nr. 030/020, Karpaltunnelsyndrom, Entwicklungsstufe 2 vom 20.04.2002, http://www.uni-duesseldorf.de/WWW/AWMF/ll/030-020.htm
(3) AWMF: Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie und des Berufsverbandes der Ärzte für Orthopädie Nr. 033/026, Karpaltunnelsyndrom, Entwicklungsstufe 1 vom 01.04.2002, http://www.uni-duesseldorf.de/WWW/AWMF/ll/033-026.htm
(4) Claudia Voss: Pronator-Teres-Syndrom, Akademie für Handrehabilitation, www.Handakademie.de
(5) Heinz Feneis: Anatomisches Bildwörterbuch, 7. Auflage 1993, Georg Thieme Verlag

Anschrift des Verfassers:
Hans Hanisch
Heilpraktiker
Wagenschwender Str. 15
74838 Limbach-Balsbach
E-Mail: HP.Hanisch@t-online.de



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