von Marie-Therese Abt
Diagnosekriterien für Magersucht sind:
Gewichtsverlust von 20% vom Ausgangsgewicht innerhalb kurzer Zeit (ca. 3 4 Monate)
Gewichtsverlust ist selbst herbeigeführt z.B. durch streng kontrollierte und eingeschränkte Nahrungsaufnahme (Vermeidung hochkalorischer Speisen)
übertriebene körperliche Aktivität
selbstinduziertes Erbrechen oder Abführen (anfallsartig)
ständiges, übertriebenes gedankliches Kreisen um Nahrung und Körperschema
Perfektionismus
Hyperaktivität
Körperschemastörung, d.h. auch bei einem bereits vorhandenen Untergewicht bezeichnen sich die Betroffenen als "fett".
extreme Angst vor Gewichtszunahme
fehlende Krankheitseinsicht (darum auch keine Motivation zur Therapie)
Ein übertriebener Sparsamkeits- und Reinlichkeitssinn sowie die Ablehnung jeglicher lustbetonter Betätigungen führen häufig zu einer ausgesprochenen spartanischen Lebensweise.
Körperliche Folgeschäden:
Absinken des Stoffwechsels, des Pulses, des Blutdrucks und der Körpertemperatur, was zu Müdigkeit, Frieren und Verstopfung führt.
Trockene Haut, brüchige Haare zeigen die hormonellen Veränderungen an, die sich auch im Ausbleiben der Menstruation und im Extremfall auch in einer Veränderung der Körperbehaarung äußern. (Pilleneinnahme verhindert das Ausbleiben der Menses, deswegen kann trotzdem eine Magersucht vorliegen)
Bei einer Erkrankungsdauer über mehrere Jahre kommt es als Folge der hormonellen Veränderung auch zu Osteoporose.
Mögliche Ursachen:
mangelndes Selbstwertgefühl mit dem Streben, immer die Beste zu sein
oft ein strenger Vater, für den nur die Noten zählen, eine Mutter, die jeden Bereich des Lebens ihrer Tochter unter Kontrolle haben möchte. Es wird "sehr korrekt, sehr leistungsorientiert, sehr wenig emotional und was die Beziehungen angeht, eher zu eng" gelebt.
Ablehnung der eigenen Weiblichkeit (darum auch oft beginnend in der Pubertät; evtl. auch durch bestimmende Mütter verursacht; Versuch, sich aus der Umklammerung der Mutter zu lösen; der Konflikt kommt daher gerade zu dem Zeitpunkt zum Ausbruch, an dem die Mädchen selbst Mutter werden könnten, wogegen sie sich unbewusst mit aller Kraft wehren)
Sexueller Missbrauch
Und das sollte man noch wissen:
10% aller Magersüchtigen sterben an ihrer Magersucht, bei 30% wird die Sucht chronisch, bei 30% tritt eine Heilung nach einer Behandlung ein, 30% erfahren eine "Spontanheilung".
16 mal mehr Frauen als Männer sind betroffen.
jede/r 7. Jugendliche ist ein Magersucht-Risikofall.
Kathrin oder mein zweites Ich
Für Kathrin interessieren sich viele Menschen. Sie ist klug und attraktiv. Sie scheint kontaktfreudig und aufgeschlossen. Jeder verzeiht ihr gern, wenn sie ab und zu eine Verabredung kurzfristig absagt. In ihrem Job ist sie ehrgeizig und erfolgreich. Keiner käme auf die Idee, dass etwas mit ihr nicht stimmt. Doch Kathrin führt ein Doppelleben. Das offizielle Leben der perfekten Frau, die allen Rollen gerecht wird: kluge Kollegin, attraktive Geliebte, aufmerksame Tochter und das heimliche Leben als gierige, unbeherrschte Frau im ständigen Krieg mit sich selbst.
Kathrin ist bulimisch. Sie denkt den ganzen Tag an das Essen, hat panische Angst vor einer noch so geringen Gewichtszunahme und kauft heimlich im Supermarkt riesige Mengen von Nahrungsmitteln ein.
Ihre inzwischen angewachsenen Schulden und ihre Heißhungeranfälle quälen sie. Sie hat das Gefühl, jegliche Kontrolle über sich zu verlieren: beim Einkaufen, wenn sie den Stecker vom Telefon herauszieht, die Verpackungen aufreißt und alles in sich hineinstopft. Wie von Sinnen. Erst wenn sie danach eine Handvoll Abführmittel nimmt, erbricht oder tagelang fastet, um alles ungeschehen zu machen, fühlt sie sich besser. Jedesmal schwört sie: Nie wieder. Bis die Gier wieder da ist und sie sich wieder in dieses fressende Etwas verwandelt.
Anfangs hatte sie gehofft, ihre "Gewichtsprobleme" auf diese Weise ohne viel Anstrengung zu lösen: ab und zu ein paar Abführmittel oder nach dem Essen erbrechen. Was jedoch scheinbar harmlos anfing, wurde zwanghaft und bedrohlich: die Nahrungsmengen, die sie verschlang, wurden immer größer.
Manchmal glaubt Kathrin an diese selbstbewusste, erfolgreiche Frau in sich, doch sie kennt auch ihr anderes Ich, und das muss sie auf jeden Fall vor anderen verbergen. Das kostet Kraft und macht sie sehr einsam. Kathrin fühlt sich zerrissen von ihren ambivalenten Gefühlen. Nach und nach machen sich auch die ersten körperlichen Folgeschäden bemerkbar: ihr wird schwindelig, ihre Haut macht ihr Probleme.
Vom äußeren Erscheinungsbild sind bulimische Menschen unauffällig, meist schlank. Auch ihr Essverhalten in der Öffentlichkeit ist eher kontrolliert. Nach außen hin funktioniert alles perfekt.
Bulimie ist eine schambesetzte und heimliche Essstörung. Die Betroffenen ekeln sich vor sich selbst, haben das Gefühl, abnorm zu sein. Sie tun alles, um ihre Essanfälle ungeschehen zu machen und zu verheimlichen. Im fortgeschrittenen Stadium kommt es vermehrt zur sozialen Isolation und zu depressiven Verstimmungen. Um ihren Heißhungerattacken nachgehen zu können, vernachlässigen Betroffene häufig jegliche Interessen und den Kontakt zu anderen Menschen.
Die Diagnosekriterien sind:
mindestens 2 Essattacken pro Woche über 2 Monate, dabei Aufnahme großer Mengen meist leicht verzehrbarer und kalorienreicher Nahrungsmittel
das Gefühl, das Essverhalten während der Anfälle nicht unter Kontrolle halten zu können
im Anschluss Ungeschehenmachen der Kalorienzufuhr über selbstinduziertes Erbrechen, Medikamentenmissbrauch (Abführmittel, Entwässerungstabletten), strenge Diät-/Fastenphasen, übermäßige körperliche Betätigung
andauernde, übertriebene Beschäftigung mit Figur und Gewicht
krankhafte Furcht davor, dick zu werden, scharf definierte sehr niedrige persönliche Gewichtsgrenze
Zwischen Anorexia und Bulimie sind die Grenzen fließend. Anorektische Episoden können mit bulimischen Phasen abwechseln.
Die körperlichen Folgeschäden sind:
Schwellungen der Parotis durch häufiges Erbrechen (mumpsartiges Aussehen, "Blasengel-Gesicht"), Zahnschmelzschäden, Ösophaguseinrisse, Gastritis, Magenwandperforation, Obstipation, Elektrolytentgleisungen (Kalium-, Magnesiummangel), die zu Herzrhythmusstörungen und Nierenschäden führen. Die Menstruation kann ausbleiben.
Finanzielle Schwierigkeiten, bedingt durch den großen Nahrungsmittelkonsum und Ausgaben für Abführmittel etc., belasten die Betroffenen zusätzlich.
Und das sollte man noch wissen:
3,5% aller Frauen zwischen 15 und 35 Jahren sind von Bulimie betroffen, Tendenz stark steigend. Es gibt auch betroffene Männer.
Bulimia nervosa ist erst seit 1980 als eigenständiges Krankheitsbild bekannt.
Die durchschnittliche Erkrankungsdauer beträgt 7 Jahre.
Durchschnittsalter der Betroffenen 20 30 Jahre.
Der Beginn liegt meist in der Adoleszenz (zwischen Pubertät und Erwachsenwerden) und ist meist die Folge einer Diät.
Ca. 60% der Magersüchtigen werden bulimisch.
60% der Betroffenen erbrechen 1 2 x täglich, 30% bis zu 6 x, 10% noch häufiger.
Pro Heißhungerattacke werden bis zu 6000 kcal und mehr verzehrt, eine Attacke kostet bis zu 35,-- Euro.
(Repertorisation 1 - siehe Naturheilpraxis 03/2003)
Ich habe aus dem Kent Repertorium Symptome passend zu Anorexia nervosa/Bulimia nervosa sowie Adipositas zusammengesucht.
Herausragende, in Frage kommende Arzneien möchte ich nach dem Erscheinungsbild der Patienten und charakteristischen Symptomen in Bezug auf das Essverhalten beschreiben:
Anorexia nervosa/Bulimia nervosa:
Silicea:
Schlechter Ernährungszustand, mangelnde Assimilation, skrofulöse Kinder mit großen Bäuchen, schwachen Knöcheln und reichlich Kopfschweiß. Abneigung Fleisch und Muttermilch 3-wertig, Milch 2-wertig.
Lycopodium:
Schlanker Ober-, aufgeschwemmter Unterkörper, schwache Muskulatur, gelblich-faltiges Gesicht, älteres Aussehen, graue Haare, intellektuell, künstlerisch. Hungrig, aber schnell satt, mit geblähtem Abdomen und Rumoren im Bauch.
Ignatia:
Zarte, sensible, launische Personen; widersprüchliche Symptome (z.B. Magenweh > Essen); stiller Kummer, Liebeskummer, Seufzen. Abneigung gegen Rauchen der gewohnten Zigarre 3-wertig, Verlangen nach weiß nicht wonach 3-wertig.
Jodum:
Heißhunger > Essen aufgrund Hyperthyreose, Abmagerung trotz guten Appetits.
Arsenicum album:
Zarte, blasse, unruhige, ängstliche Personen, kachektisches Aussehen, Erschöpfung, Abmagerung; Appetitlosigkeit mit Ekel vor dem Essen, schon bei Speisegeruch; unstillbarer Durst auf kleine Mengen kalten Wassers. Verlangen Alkohol sowie warme Getränke und Speisen 3-wertig.
Sulfur:
Magere Patienten mit Hängeschultern, gebeugter Gang, "zerstreuter Professor", "zerlumpter Philosoph", schlampig, egoistisch, unruhig, übelriechend, rote Körperöffnungen. Abneigung Fleisch 3-wertig, Milch 2-wertig.
Nux-vomica:
Hagere, sorgfältige, eifrige, reizbare, hypochondrische, überempfindliche Patienten; sitzende, zu Hämorrhoiden geneigte Denker, Obstipation mit erfolglosem Drang. Kaffee, Alkohol, Tabak < Abneigung Bier, Kaffee, Tabak, Wasser 3-wertig, Verlangen Alkohol, Bier, Branntwein 3-wertig.
Sepia:
Mädchen, die ihre Sexualität nicht annehmen können und stattdessen im Sport oder gesellschaftlich aktiv sind. Sie gehen gerne tanzen und flirten, entziehen sich aber jeder weiteren Annäherung. Sie sind schlank, haben eine gelbliche Gesichtsfarbe, einen gelben Nasensattel, wirken maskulin. Leberflecke, Risse an den Mundwinkeln und Mitte Unterlippe, ärgerliche Gereiztheit, Gleichgültigkeit und abwärtsdrängende Schmerzen sind typisch. Abneigung Fleisch 3-wertig, Verlangen Essig und Saures 2-wertig.
Ferrum:
Aschfahles, bleiches oder grünliches Gesicht; plötzliches Erröten; Anämie. Heißhunger wechselt mit völligem Appetitmangel. Speisen liegen den ganzen Tag im Magen und werden nachts erbrochen.
China:
Geschwächte Menschen durch Verlust von Körpersäften. Blasses, gelbliches Gesicht, eingesunkene Augen mit dunklen Ringen, klopfende Kopfschmerzen, Nachtschweiße, leichtes Schwitzen nach der geringsten Bewegung oder Anstrengung, < Berührung, < Kälte und Zugluft; Magen-Auftreibung; Aufstoßen und Blähungen, die keine Besserung bringen. Abneigung Bier, Brot, Butter, Fett 3-wertig; Verlangen nach stark gewürzt, kalte Getränke, Süßigkeiten 3-wertig.
Natrium-muriaticum:
Abmagerung trotz guten Appetits, v.a. am Hals; Hyperthyreose. Haarausfall, auch im Genitalbereich; Anämie, Migräne, Herpes simplex, Trockenheit der Schleimhäute, Schaftskot, Kummersymptomatik, nervöse Reizbarkeit, depressive Verstimmung < Trost. Verlangen nach Salz 3-wertig, Abneigung Brot 3-wertig.
Adipositas
(Repertorisation 2 - siehe Naturheilpraxis 03/2003)
Calcium carbonicum:
Fettsucht, schlaffes Gewebe, hypoton; der Patient nimmt schnell zu, er hat ein großes rundes weiches Gesicht und einen abgeflachten Hinterkopf. Er wirkt plump, schwerfällig, der Bauch ist vorgewölbt. Körperliche Anstrengung verschlechtert; Abneigung Fleisch, Kaffee, Tabak 3-wertig; Verlangen nach gekochten Eiern 3-wertig sowie Unverdauliches, Kreide 2-wertig.
Pulsatilla:
oft korpulent, rotwangig, phlegmatisch, von sanftem Gemüt. Gutmütigkeit, leichtes Weinen und Lachen, Verlangen nach Zärtlichkeit und Zuspruch, Wechselhaftigkeit sowie Fettunverträglichkeit sind typisch. Abneigung Butter, Fleisch, warme Getränke 3-wertig, Verlangen kalte Speisen 3-wertig.
Eine Umfrage im Therapeutenarbeitskreis Konstanz ergab, dass essgestörte Patienten selten mit dem Anliegen ihrer Essstörung in unsere homöopathische Praxen kommen.
Es gibt zwar viele adipöse oder auch untergewichtige Patienten, meist kommen die Patienten aber aus anderen Gründen zu uns und die Essstörung ist ein zweitrangiges Problem.
Ich führe dies darauf zurück, dass der homöopathische Einfluss auf Essstörungen zu wenig bekannt ist.
In meiner Praxis kam es z.B. schon 2 x vor, dass Patientinnen auf eine Gabe Phosphorus C 30 3 kg, allerdings ungewollt, zugenommen haben. Kollegen berichteten mir ebenfalls, Gewichtsveränderungen während der homöopathischen Therapie beobachtet zu haben.
Appetit, Verdauung, Resorption und Assimilation von Nahrungsstoffen lassen sich durch Homöopathie positiv beeinflussen. Homöopathie ist eine bei weitem nicht ausgeschöpfte Chance, essgestörte Menschen, unterstützt durch psychologische Begleitung und Lebensführung, auf den Weg zu normalem Essverhalten und zu einem zufriedenstellenden Leben zu führen.
...
Anschrift der Verfasserin:
Marie-Therese Abt
In der Vorstadt 10/4
72488 Sigmaringen
weiter ... (für Abonnenten der Naturheilpraxis)
Zum Inhaltsverzeichnis 3/2003
Naturheilpraxis 3/2003