Blätter für klassische Homöopathie

Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Klassische Homöopathie

3. Fortsetzung des Berichtes zum 7. Therapeutengesprächs-kreis der DGKH in Moos am Bodensee vom 15.–17. Juni 2001

von Renate Schweyen-Ott

Fortsetzung aus NHP 01/2002

Der Referent des zweiten Vortrages – Roger Rissel (Mainz) – ermöglichte uns den Einstieg in die homöopathische Praxis zu der vorausgegangenen umfangreichen Theorie, indem er zunächst zwei Fälle aus der alten Literatur schilderte. Zum Thema passende Fallbeispiele stöberte Rissel im "Stapf-Archiv für klassische Homöopathie" auf, wozu Kollege Pablo Bitzarakis (Konstanz) vor einiger Zeit in mühsamer Kleinarbeit einen Registerband erarbeitet hatte, der jede Sucharbeit rasch zum gewünschten Ziel führt. In diesem Stapf-Archiv nun findet sich ein Artikel (erschienen Ende 1831), verfasst von dem ungarischen Arzt Dr. Attomyr, unter dem Titel

"Einiges über homöopathische Psychiatrik"

Es wird hier ein Fall von einem 18-jährigen Mädchen, sanguinischen Temperaments, mit Namen Odeja vorgestellt. Odeja war vor einigen Jahren bleichsüchtig gewesen, so heißt es, wogegen starke Gaben Eisenweines verordnet worden waren. Sonst war sie immer gesund gewesen – erkrankte jedoch gegen Ende ihres 17. Lebensjahres an einer Lungenentzündung. Dr. Attomyr "ließ sie zur Ader", da er sich eine homöopathische Behandlung bei diesem akuten Zustand noch nicht zugetraut hatte. Ohne Einsatz weiterer Mittel genas sie jedoch in kurzer Zeit von ihrer Pneumonie. Fürderhin zeigten sich aber jeden Monat, zur Zeit von Odejas Menses, Auffälligkeiten, wie etwa ein "vikariierender Bluthusten mit Seitenstechen", d.h., diese Symptomatik trat auf an Stelle der Menses. "Starke Gaben Borax erzwangen zweimal die Menses." Während einer anschließenden 8-monatigen Reise blieben die Menses erneut aus, jedoch wurde Odeja von starken Zahnschmerzen, Bluthusten, Seitenstechen, "Fußgeschwulst" u.a. geplagt, Beschwerden, die von Monat zu Monat heftiger geworden waren, und zu denen sich auch noch wiederholt erlittene Gemütskränkungen gesellt hatten. Nach Rückkehr von ihrer Reise erstellte Dr. Attomyr bei seiner Patientin folgendes Krankheitsbild: Öfters aussetzender Kopfschmerz, der vorzüglich die Stirne einnimmt, erdfahle Gesichtsfarbe, blaue, fast dunkelblaue Ringe um die matten Augen, bitterer, fader Geschmack im Munde, Ekel vor Fleisch und Brot. Seit acht Monaten hat sie keine Fleischspeise genossen und sich von Kaffee und Obst genährt. Jetzt mag sie auch letzteres nicht mehr und klagt über ganz erloschene Esslust, Anfälle von Übelkeit mit Magenschmerz und zuweilen Erbrechen gallig schleimiger Stoffe. Öfteres starkes Nasenbluten, Stechen in der Seite beim Kotzhusten mit reichlichem Auswurf schäumenden Blutes, welches zuweilen in so großer Menge kommt, dass sie mehrere Tücher in einigen Minuten vollspuckt, worauf sie sich sehr abgeschlagen fühlt; Herzklopfen, erschwerte Respiration und tiefer Schlaf machen dem Anfall ein Ende... Stuhl selten und sparsam, öftere Anfälle von heftigem Leibschneiden, die Beine so schwer, als wären sie mit Blei ausgegossen, die Glieder wie zerprügelt, die beiden Fußrücken geschwollen. Traumvoller Schlaf, die Träume machen ihr Angst, sie spricht im Traume laut und schrickt auf. Eine ganz eigene Umstimmung des Gemüts: Sie denkt mit vielem Vergnügen ans Ersäufen, und wenn sie Wasser sieht, fühlt sie sich von demselben wie angezogen, doch befällt sie sogleich eine Furcht, sodass sie sich nicht traut, allein am Ufer der Donau zu gehen. Traurig; sie bricht in Weinen aus, ohne zu wissen warum. Sie ist übel gelaunt, mit allem unzufrieden. Jede Kleinigkeit reizt sie zum Zorne. Sie spricht nicht gerne, ist maulfaul. Sie ist sehr schreckhaft und versetzt sich durch Denken an Gespenster in die höchste Angst. Hinsichtlich ihres Gesundheitszustandes ist sie höchst gleichgültig; ob sie gesund wird oder nicht, gilt ihr gleich, sie ist lebenssatt.
Wenn man auch annehmen wollte – so ihr Arzt – die Umstimmung der Psyche sei nicht durch die vorausgegangene körperliche Erkrankung, sondern durch die später erfolgten wiederholten Gemütskränkungen zustandegekommen, so sei doch so viel jedem Homöopathiker klar, dass letztere bei ihr in gesunden Tagen bei weitem keine solche Wirkung auf ihren psychischen Zustand hätten äußern können, wie dies bei der schon vorausgegangenen Zerrüttung ihrer somatischen Sphäre und vorzüglich bei der dadurch bewirkten Weckung der Psora möglich und notwendig war. Hier hat die Psora ihre Wurzeln ins Psychische und Somatische gleich stark zu schlagen begonnen, und damit ist ein gefährlicher Ausgang um so schneller zu befürchten.

Soweit also diese erste Fallschilderung aus der alten Literatur.

Hier entwickelte sich – so Rissel – aus einer schweren körperlichen Entgleisung des Organismus auch noch eine schwere Geistes- und Gemütskrankheit; und es löste nicht etwa die eine Störung die andere ab, sodass wir eine einseitige Krankheit hätten, sondern wir haben beides nebeneinander, sowohl schwere körperliche als auch gefährliche Geistes- und Gemütssymptome. Rissel wies in diesem Zusammenhang zurecht auf den § 215 des Organon (6. Auflage) hin, wo Hahnemann sagt, dass sich bei Geistes- und Gemütskrankheiten die Gemütssymptomatik "schneller oder langsamer" aus einer Körperkrankheit heraus entwickelt, "unter Verminderung der Körper-Symptome", bis hin "zur auffallendsten Einseitigkeit".

Wir können in dem hier geschilderten Fall davon ausgehen, dass sich die Patientin in einem noch relativ frühen Stadium befunden hatte, wo die Entwicklung bis zu dem von Hahnemann geschilderten Punkt der "auffallendsten Einseitigkeit" der Gemütssymptome noch nicht abgeschlossen war, d.h., bei Nicht-Behandlung oder schlechter Behandlung würde diese Erkrankung diesen Punkt irgendwann erreicht haben. So weist uns Hahnemann auch in § 216 darauf hin, dass dramatische Körperkrankheiten, beispielsweise eine "Lungenvereiterung" oder ein anderes akutes Geschehen, wie etwa Kindbettfieber, u.U. regelrecht verdrängt würden durch heftige Gemütssymptome, die möglicherweise in einem "Wahnsinn", in "eine Art Melancholie" oder in eine "Raserei" ausarten, wodurch "alle Todesgefahr der Körpersymptome" zum Verschwinden gebracht werde. Die Geistes- und Gemütskrankheit übernimmt quasi eine palliative Stellvertreter-Funktion für die ehemals dramatischen Körpersymptome.

Rissel unternahm den Versuch einer Diagnose für diesen Fall: "Endogene Psychose mit körperlichem Verfall als Folge einer Lungenentzündung, die durch Aderlass kuriert wurde." Bei der Überlegung, ob es sich angesichts des Aderlasses evtl. um eine Unterdrückung gehandelt haben könnte, ist Rissel vorsichtig und weist darauf hin, dass er diese Überlegung bei seiner retrospektiven Repertorisation auch außer Acht gelassen habe, da er die angesprochene Aktivierung der Psora in diesem Fall durchaus für die richtigere Erkenntnis halte, zumal wir wüssten, dass eine schwere akute Erkrankung eine derartige Aktivierung der Psora durchaus alleine bewerkstelligen könne – da müsse der Aderlass nicht unbedingt als alleiniger Übeltäter betrachtet werden; jedoch wurde er – als möglicherweise mit herein spielendes Moment – unter der Rubrik "Säfteverlust" in seiner Repertorisation berücksichtigt. Dr. Attomyr hatte auf Grund seiner Arzneimittelkenntnis und der ihm zur Verfügung stehenden Arzneimittellehre von Hahnemann Pulsatilla als homöopathisches Heilmittel gegeben.

Rissel stellte seine Computer-Repertorisation zu diesem Fall vor, wobei er alle Symptome berücksichtigte, hierarchisiert nach Haupt- (= H), sonderlichen (= S) und Gemüts-Symptomen (= G): (Tabellen 1a und 1b - siehe Naturheilpraxis 02/2002)

Wie aus der Auswertung ersichtlich, deckt Pulsatilla jedes der insgesamt 35 Symptome ab, was durchaus beeindruckend ist! Direkt auf den Fersen folgt Sulfur, der 34 Symptome abdeckt, jedoch in der Wertigkeit abfällt. Nachdem die Pulsatilla nachweislich eine antipsorische Qualität hat, ist sie das Mittel der Wahl. Interessant ist hier auch, dass die Küchenschelle einen Bezug zu Eisenmissbrauch aufweist – und wir erinnern uns, dass die Patientin wegen Bleichsucht "starke Gaben Eisenweines" noch vor ihrer schweren Krankheit verordnet bekommen hatte. Mit einer Gabe Sulfur (als König der Antipsorika) hätte man diesen Fall abschließend "festigen" können – was nicht geschehen ist.

Der Verlauf des Geschehens wird von Dr. Attomyr folgendermaßen geschildert: "Am 26. April 1829 nahm die Patientin einen ganzen Tropfen Pulsatilla in der quintillionstel Verdünnung (entspricht einer C15) ein, mit der Weisung, den Kaffee und andere Gewürze zu meiden und sich von gewürzloser Schokolade zu ernähren. Gleich die erste Nacht traten heftige Leibschmerzen ein, den ganzen Tag darauf blutete sie stark aus der Nase. Seitenstechen und Fußgeschwulst nahmen zu. Am dritten Tag traten wieder andere Symptome auf, während die vorigen schwiegen. Besonders nahm jetzt die Weinerlichkeit stark zu – sie hätte den ganzen Tag weinen mögen. Bluthusten trat einmal, aber sehr gering ein. Am vierten Tage Ekel, Übelkeit, Erbrechen mit größter Appetitlosigkeit und Verminderung der Fußgeschwulst. Am fünften Tage Krämpfe im Unterleibe, ein Drängen nach den Geschlechtsteilen und Kreuzschmerz. Dieser Zustand blieb auch durch die folgenden zwei Tage, während die übrigen Symptome sämtlich sich milderten und viele ganz verschwanden. Am achten Tage trat die Regel sehr reichlich ohne Schmerzen ein und dauerte drei Tage. Zwei Tage später (also 12. Tag nach der Arzneieinnahme) ging die Patientin im Freien umher und versicherte, sie fühle sich wie neu geboren. Sie wäre schon sehr viel herumgegangen, ohne die früher gefühlte Abgeschlagenheit und Bleischwere der Füße zu empfinden. Vielmehr sei sie so leicht, dass sie zu fliegen wähne. Auch habe sie schon Fleisch und das lange verabscheute Brot mit viel Appetit genossen. Sie schläft ohne zu träumen oder aufzuschrecken. Ganz besonders aber wunderte sie sich über die plötzliche Veränderung, die sie an ihrem Gemüte bemerkte, indem sie sich so heiter, so lebensfroh fühle und des Triebes zum Ersäufen vollends losgeworden sei. Die ersten Monate danach trafen die Regeln zwar wieder von selbst, aber etwas sparsamer und mit einigem Schmerze ein, bis sich der gehörige Typus allmählich entwickelte. Von dem psychischen Leiden ist bis jetzt noch nichts wieder erschienen."

Im weiteren Text deutet der Verfasser darauf hin, dass die Patientin noch nicht als gesund betrachtet werden könne, da die psorische Veranlagung zur Erkrankung geführt hätte, und Pulsatilla nicht ausreiche, um die Psora ganz zu tilgen. Dass Pulsatilla so tief wirken kann, war damals noch nicht klar; erst viel später wurde sie als Antipsorikum erfasst. Die Tatsache, dass sich die Menses relativ zögerlich ordneten, könnte vielleicht – so Rissel – als Hinweis dafür gesehen werden, dass die Patientin zum Abschluss noch eine Gabe Sulfur, etwa C30, gebraucht hätte. Auffallend ist, dass das Mädchen über eine ganze Woche hin eine große Leidensfähigkeit unter Beweis stellte. Das wäre bei unseren Patienten heute – so Werner Dingler – ein Problem. Eine Q-Potenz von Pulsatilla hätte sehr wahrscheinlich zu wesentlich weniger heftigen Beschwerden geführt. Diese weit milder wirkenden Potenzen standen damals (1829) noch nicht zur Verfügung.

Im übrigen ist dieser Fall ein wunderbares Beispiel für eine klassische Erstverschlimmerung unter dem Einsatz von C-Potenzen, die Hahnemann in § 161 der 5. Auflage seines Organon beschreibt, und zwar sowohl im akuten als auch im chronischen Fall. Auf letzteren bezogen (in unserem Zusammenhang hier interessiert nur das chronische Übel) heißt es:

"...wo aber Arzneien von langer Wirkungsdauer ein altes und sehr altes Siechthum zu bekämpfen haben, eine Gabe also viele Tage allein fortwirken muss, da sieht man in den ersten 6, 8, 10 Tagen von Zeit zu Zeit einige solcher Erstwirkungen der Arznei, einige solche anscheinende Symptomen-Erhöhungen des ursprünglichen Uebels (von einer oder etlichen Stunden Dauer) hervorkommen, während in den Zwischenstunden Besserung des Ganzen sichtbar wird. Nach Verfluss dieser wenigen Tage erfolgt dann die Besserung von solchen Erstwirkungen der Arznei fast ungetrübt noch mehrere Tage hindurch."

Die Beschreibung des Arzneiwirkungsverlaufs bei Odeja entspricht detailgetreu dem, was Hahnemann uns hier darlegt. Während die Wirkung der Q-Potenzen im selben § 161, jedoch in der 6. Auflage, beschrieben wird, woraus hervorgeht, dass hier keine Erstverschlimmerung eintritt, sondern die heute so bezeichnete leichte Spätverschlimmerung. Der von Hahnemann abgeänderte Text lautet nun folgendermaßen:

"... wo aber Arzneien von langer Wirkungsdauer ein altes oder sehr altes Siechthum zu bekämpfen haben, da dürfen keine dergleichen, anscheinende Erhöhungen der ursprünglichen Krankheit, während des Laufes der Cur sich zeigen und zeigen sich auch nicht, wenn die treffend gewählte Arznei in gehörig kleinen, nur allmälig erhöheten Gaben, jedes Mal durch neue Dynamisirung (§ 247) um etwas modificirt wird; dergleichen Erhöhungen der ursprünglichen Symptome der chronischen Krankheit, können dann nur zu Ende solcher Curen zum Vorscheine kommen, wenn die Heilung fast oder gänzlich vollendet ist."

(Nachzulesen auf S. 579 u. 581 in der endlich zur Verfügung stehenden Organon-Synopse, Die 6 Auflagen von 1810-1842 im Überblick. Bearbeitet und herausgegeben von Bernhard Luft und Matthias Wischner. Haug-Verlag 2001)

In Unkenntnis dieser von Hahnemann erarbeiteten Erkenntnisse wird bisweilen sogar von homöopathischen Experten diese so wichtige Unterscheidung der Arzneiwirkung unter C-respektive Q-Potenzen nicht verstanden. Es werden dann falsche Behauptungen verbreitet, wie etwa, man könne bei einer Erstverschlimmerung nicht recht unterscheiden, ob ein Mittel unpassend sei und es deswegen Verschlimmerungen gebe, oder ob es sich um eine Erstverschlimmerung handle, man könne diese Unterscheidung in einem chronischen Fall u.U. erst in einem halben Jahr treffen.

Rissel wies auch auf einen weiteren interessanten Aspekt hin, nämlich, dass besagter Dr. Attomyr die nötige Ruhe bewahrte, trotz einer zunächst dramatischen Verschlimmerung unter Pulsatilla: er konnte sehen, dass der Heilungsverlauf die richtige Richtung einschlug; es spielte sich die Erstverschlimmerung fast nur auf der körperlichen Ebene ab, und es gab – abgesehen von einer kurz aufflackernden Weinerlichkeit – laufend Besserungen auf der Gemütsebene.

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