WENN ESSEN KRANK MACHT...

Kunsttherapie bei der Behandlung von Eßstörungen

Von Rosemarie Schuckall

Bei der stationären Behandlung komplexer seelischer Störungen spielt die konsequente Einbindung der Kunsttherapie im Rahmen längerfristiger Therapiekonzepte heute eine wichtige Rolle. So verfügen mittlerweile fast alle großen psychiatrischen Stationen, wie aber auch REHA-Zentren und sonstige psychotherapeutisch - stationäre Kontexte, die sich mit der Wiederherstellung von Gesundheit, im Zusammenspiel von seelischem und somatischem Geschehen beschäftigen, über eine kunsttherapeutische Einrichtung.

Die Kunsttherapie hat sich dabei sowohl als diagnostisches wie gleichermaßen therapeutisches Medium etablieren können. Dabei profiliert sie sich für einen Bereich, wo die Verbalisierungsfähigkeit bzw. eine überwiegend intellektuelle Bearbeitung von komplexem seelischen Geschehen an Grenzen stößt. Dies kann viel Gründe haben. Einmal, weil sich die inneren Dimensionen des Patienten traumabedingt und krankheitsspezifisch (noch) in einem präverbalen Stadium befinden und sich einer primär rationalen Bearbeitung verweigert, sei es aber auch, weil die zugrundeliegende Störung so widersprüchlich-komplex bzw. angstinduzierend (oder beides) ist, daß sie sich einem unmittelbaren Zugriff entzieht. An dieser Stelle bietet die Kunsttherapie die Möglichkeiten, via Bild einen tiefen und symbolischen Ausdruck für das z.T. noch unbewußte seelischen Geschehen zu finden. Der dargebotenen Bildinhalt kann im Sinne eines Intermediär-Objekt verstanden werden, wo das Traumatische real und für jedermann sichtbar werden kann, ohne (zunächst) eine Interpretation zu fordern, (die nicht den aktuellen seelischen Möglichkeiten des jeweiligen Gestalters entspräche). Eine intensive therapeutische Beschäftigung mit dem Bild = Symbol kann dabei durchaus auch auf verbaler Ebene am (inneren) Objekt erfolgen, dabei seine innere Realität und Auswirkungen bestätigen, sich u.U. auch therapeutisch modifizierend bearbeiten lassen, weil der Bildinhalt, das Symbol als ausschließlicher Bezugspunkt und gleichzeitig sichernde Rückzugsebene unverändert erhalten bleibt. Die Gleichzeitigkeit eines Reden "über", (das), was via Medium Bild extrakorporiert wurde, (mit der Persistenz einer angstsichernde Metabene=Bild, auf die sich jederzeit zurückgezogen werden kann), wie auch eines "Hinein"-Gehens in den Bildinhalt, das Symbol, den u. U. dargestellten Konflikt, bedeutet für den Patienten eine besondere innere Freiheit, die der Methode und dem Konzept Kunsttherapie ihren eigenständigen Raum im Therapiegebäude gewähren.

Das Oszillieren im Standpunkt ermöglicht dem Patienten einen vergleichsweise gefahrlosen Zugang zum Konflikt, weil methodenimanent sowohl der Zugang wie auch der Fluchtweg (die Möglichkeit, ausschließlich am Symbol selbst bleiben zu können) gegeben sind. Dieser Umstand steht im Gegensatz zur vorwiegend verbal-intellektuellen Bearbeitung seelischer Dimension, wo Schlußfolgerungen und rationale Logik mitunter nicht nur einschneidende Konsequenzen im Erleben nach sich ziehen, sondern auch hiervon abgeleitete Handlungsaufforderungen - und Impulse fordern, (welche u.U. massiv Angst und Bedrohung freisetzen), und den Patienten, zur Vermeidung von überbordender Angst nicht selten längerfristig in einem Zustand des Widerstand zu halten vermögen. Ein besonderer Wert der Kunsttherapie für den Patienten eröffnet sich aus dem Umstand der Dialektik eines lebendigen Dialogs zwischen den verbalen Therapiekonzepten und den kunsttherapeutischen "Produkten", mit ihrer individuellen, dynamischen Bedeutung.

Das Dargestellte, das Bild, mit seiner ihm innewohnenden Symbolik und verstecken (wie gleichzeitig offenbarten) seelischen Szenerie gestattet einem Therapeutenteam, wichtige diagnostische Einblicke und Hinweise, in Bezug auf das gegenwärtige Erleben und die Konfliktkonfigurationen des Patienten wahrzunehmen, seine kommunikative Bedeutung zu erfassen, zu erörtern und für weitere Strategieüberlegungen im Rahmen der Planung adäquater Therapieschritte zu nutzen.

Somit erweist sich die Kunsttherapie als wichtiges therapeutisches Instrument wie auch als idealer Mittler im Prozeß der psychotherpeutisch-multifokalen Teamarbeit.

Im Nachfolgenden möchte ich anhand einzelner typischer Krankengeschichten und Krankheitskomplexe kunsttherapeutische Prozesse exemplarisch aufzeigen: Diese Ausschnitte entstammen meiner kunsttherapeutischen Gruppenarbeit mit essgestörten jungen Frauen bei ANAD-Pathways in München, wo die kunsttherapeutische Arbeit ein Glied in der therapeutischen "Versorgungskette" aus Ärzten, Psychologinnen, Ernährungswissenschaftlerinnen und Sozialpädagogen darstellt.

Im Folgenden werde ich nun drei Fallgeschichten von Frauen mit unterschiedlichen die sich in Krankheitsbildern der Eßstörung vorstellen. Ich werde dabei andeutungsweise die Prozesse, meinen kunsttherapeutischen Stunden entfaltet haben beschreiben und darüber berichten, wie sich ein spezifischer Verlauf innerhalb eines halben Jahres bei den verschiedenen Krankheitsbildern dargestellt hat. Im wesentlichen geht es bei den Krankheitsbildern um individuelle Entwicklungen bei Anorexia nervosa, bei der Bulimie sowie bei Binge-Eating Disorder.

Unter Anorexie versteht man die klassische Magersucht, die überwiegend junge Mädchen betrifft (zunehmend allerdings auch mehr Jungen) und meist im Rahmen der Pubertät symptomatisch wird. Durch radikales Hungern verlieren die Betroffenen oft 20% und mehr ihres altersgemäßen Normalgewichts. Ihr Eßverhalten ist in grundsätzlicher Weise gestört. Obschon solche Patienten sichtbar abgemagert sind, kommen sie sich dennoch zu dick vor, was einen Hinweis darauf gibt, daß das Wahrnehmungsbild des Körpers in nachhaltiger Weise als verändert erlebt wird. Man spricht hierbei von einer Körperschemastörung. Das Krankheitsbild dieser Eßstörung hat eine lange "Tradition". Man denke nur an die Heiligen und Märtyrer in der christlichen Tradition, die sich zu Tode hungerten, um dem Ideal der Reinheit zu entsprechen oder dorthin zu gelangen. Tiefenpsychologisch betrachtet steht dahinter der Wunsch, den Körper, alles Triebhafte, die Kreatürlichkeit, die als sündig und unrein begriffen wurde, kontrollieren zu können. Die bekannteste Vertreterin dieser "historischen Magersüchtigen" dürfte wohl die Hl. Katharina von Siena sein. In ihrer Geschichte ist bekannt, daß sie als außerordentlich aktiv, leistungsbezogen, kreativ und willensstark beschrieben wurde. Eine Person, die sich für eine Idee, ein Ideal aufgeopfert hat, deren intellektuelle Brillianz und bestechende Eloquenz gerühmt wurde. (Bild 1) All dies sind Attribute, die mit Fug und Recht auf die meisten der heutigen magersüchtigen jungen Frauen übertragen werden können. Die Abwehr der sich entwickelten Weiblichkeit und die Kontrolle des eigenen Körpers, die bei der HL. Katharina möglicherweise den religiös-extatischen Reinheitsvorstellungen entstammte, spielt auch bei den heutigen anorextischen jungen Frauen und ihrem Hungern eine zentrale Rolle, sie versuchen eine maximale Kontrolle über ihre eigene Körperlichkeit zu bekommen, wobei der abgemagerte Körper u.U. als distanziertes, äußeres Objekt erfahren wird. Die typischen Anorektinerinnen sind amenorrhoisch. Die meisten der Betroffenen erleiden diese Krankheit zwischen ihrem 13. und 18. Lebensjahr, deutlich seltener sind Frauen in späteren Lebensjahren hiervon betroffen.

Unter Bulimie oder Bulimia nervosa versteht man einen Ess-Brechanfall. Diese Form der Eßstörung hat in den letzten Jahren sehr zugenommen. Sie tritt bei Frauen und Männern im Alterszeitraum von 14 bis etwa 40 Jahren auf. Unter Bulimie versteht man ein scheinbar grundloses wie imperatives Verlangen nach großen Mengen von Essen. Raptusartig verschlingen diese Betroffenen riesige Mengen, gewöhnlich sehr kalorienreicher Nahrungsmittel. Meist unmittelbar darauf, erfolgt ein selbst herbeigeführtes Erbrechen. Verbunden ist diese Erkrankung häufig noch mit Abführmittelmißbrauch (40-80 Tabletten pro Tag) und der unkontrollierten Einnahme von Diuretika. Den Meisten dieser Betroffenen sieht man ihre Störung, im Gegensatz zur Magersucht, nicht an. Sie sind häufig normalgewichtig, lediglich einige haben Übergewicht. Bulimikerinnen können im Gegensatz zu den Anorektikerinnen am üblichen sozialen Leben unauffällig teilnehmen, haben auch im Gegensatz zu den Magersüchtigen in der Regel oft normale Partnerschaften- und sexuelle Beziehungen. Bulimische Patienten leiden oft unter schweren Depressionen, tragen sich nicht selten mit Selbstmordgedanken, was eher im Gegensatz zu den Anorexiepatientinnen steht, die, obwohl sie körperlich schwerst erkrankt sind, sich in der Regel psychisch weit weniger alteriert empfinden. Während die Magersüchtigen die gesellschaftlichen Anforderungen nach Leistung und persönlicher Perfektion bis ins kleinste Detail und vollständig introjeziert haben und in diesem Idealen aufgehen, leiden die bulimischen Patienten in der Regel an diesem enormen Erwartungs- und Leistungsdruck. Die Freß-Brechanfälle stehen hier als eine symbolische Form der Erleichterung von einem kaum mehr auszuhaltenden Druck, andererseits verursachen sie selbst durch Schuldgefühle und Versagensempfinden (den Freß-Impuls nicht widerstanden zu haben) erneuten Druck.

Binge-Eating-Disorder (Binge=Freßtour, Heißhunger-Essen) ist eine bisher noch wenig erforschte Variante der Bulimie. Sie wird, laut DSM-IV mit folgenden Merkmalen beschrieben: "Wiederkehrende Episoden von Heißhunger-Essen treten in geringen Abständen, an wenigsten 2 Tagen in der Woche über 6 Monate auf, verbunden mit einem Mangel an Kontrolle über Art und Menge des Essens. Es wird dabei schneller als normal gegessen, ohne körperliches Hungergefühl und solange bis sich die Person unangenehm voll empfindet. Nach dem übermäßigen Essen treten Gefühle von Ekel, Depression oder starker Schuldgefühle auf. Das Heißhunger-Essen tritt nicht in Kombination mit dem regelmäßigen Einsatz kompensatorischer Verhaltensweisen (z.B. Erbrechen, Fasten, exzessiver Sport) auf, kann aber im Verlauf einer Anorexie oder Bulimie symptomatisch werden." Das Fehlen der kompensatorischen Möglichkeiten macht den Zustand noch quälender als bei der Bulimie, zumal die Betroffenen mit einer unweigerlichen Gewichtszunahme nach jedem Eßanfall rechnen müssen.

Zum Verständnis dessen, was bei Magersucht und Bulimie auf seelischer Ebene stattfindet, und wie Hungern und seelisches Gleichgewicht in abhängiger Beziehung zueinander stehen, darüber mag eine Untersuchung Aufschluß geben, die vor etwa dreißig Jahren an der Universität Minnesota durchgeführt wurde. Die Studie, sollte Daten über die Auswirkung von Hunger bei gesunden Männern liefern. Es waren damals 36 normalgewichtige Probanden an der Testreihe beteiligt. Dabei fielen eine Reihe von einschneidenden emotionalen Veränderungen ins Gewicht, die bei den beteiligten Testpersonen aufgetreten waren. Bei allen Personen waren im Zeitraum des Versuches Depressionen, Angstzustände und unterschiedliche Verwirrtheitszustände symptomatisch geworden. Die Schwere der Störung hing eng mit dem Grad des Gewichtsverlust zusammen und die Symptome hielten an, solange bis wieder Normalgewicht erreicht war. Wie die Untersuchung ergab, war eine unausweichliche Folgeerscheinung des Hungerns eine vermehrte und intensive, gedankliche und planerische Beschäftigung mit dem Essen, genauso wie wir es heute bei den essgestörten Patientinnen auch erleben. Diese zwanghafte Beschäftigung mit dem Essen führte bei den Probaden im Einzelfall soweit, daß sie sogar ihre Berufe änderten, um dieser Fokussierung weiter nachkommen zu können. Einem Teil der Probanden gelang es vergleichsweise gut, sich mit dem permanenten Hungergefühl zu arrangieren. Wieder andere brachen die vorgegebenen Diäten ab, indem sie Freßanfälle einlegten, weswegen sie anschließend schwerste Schuldgefühle hatten. Ein anderer Teil der Testpersonen entwickelte regelrecht eine Bulimie, die zum Teil noch Monate über das Ende des Experiments hinaus anhielt. Weitere seelische Folgen des permanenten Hungers waren auffällige Isolationstendenzen, deutliche Minderwertigkeitsgefühle, Kopfschmerzen und Schwindel, Konzentrationsmangel, aber auch Nervosität und eine bei allen auftretende, gestörte Selbstwahrnehmung. All diese Symptome kennzeichnen auch die Eßstörungen bei den jungen Frauen.

Falldarstellung

Frau H.* ist eine 17-jährige Gymnasiastin, leidet seit etwa 1 Jahr an Anorexie und wiegt bei einer Größe von 1,73 m ca. 46 kg. Die ausgesprochen hübsche, hochgewachsene junge Frau will an der Kunsttherapiegruppe für Jugendliche teilnehmen. Schon im Erstinterview fällt mir ihre Intensität und offenbar eine wohl sorgsam versteckte Kraft auf, die manchmal gesprächsweise und gestisch kurz zum aufflackern kommt, was ihr, ansonsten zarter, zerbrechlich wirkender Körper kaum vermuten ließe. Die auffälligste Erscheinung ist eine massive Akne, die ihr hübsches Gesicht geradezu vereinnahmt. Im ersten Eindruck wirkt sie außerdem ausgesprochen intelligent und sehr motiviert.

In der ersten Therapiestunde ist noch eine deutliche Zurückhaltung zu spüren, aber schon in den darauffolgenden Sitzungen beginnt sie ihren Platz in der Gruppe zu definieren. Bei den anderen Gruppenmitgliedern ist sie spontan recht beliebt, und beginnt schon bald mutiger und offener ihre inneren Themen zu äußern. Bei den Bildbesprechungen wirkt sie auch zunehmend konstruktiv, und festigt so durch ihre treffenden Interventionen ihren Platz im Gruppengeschehen. Ihr initiales Thema kreist hauptsächlich um "das Geborgensein in der Familie,. den Zusammenhalt einer Gruppe von Menschen, sowie die Frage nach deren Verläßlichkeit", aber auch, ob "persönliche Freiheit gewahrt werden kann, und ob sie das sein darf, als was sie sich selbst empfinden will." Im äußeren Bezugsrahmen im Institut erlebt sie eine momentan durchaus schwere Zeit, wo sie sich hauptsächlich mit der vom Institut geforderten Gewichtszunahme beschäftigt (ihr BMI-Wert liegt deutlich an der unteren Normgrenze).

Anfangs malt und entwirft sie keine vollständigen Bilder, sondern zeichnet Detailaspekte ihres inneren Erlebens, so als sollte ein Sichtbarwerden der Gesamtsituation noch verborgen bleiben müssen. Sie will sich dazu auch erstmals verbal nicht äußern.

(Bild 2) Das Bild zeigt eine graue Straße, die an einer Ziegelmauer mit Durchbrüchen und Löchern endet. Auf dieser Mauer befinden sich kräftige Spieße, die den Schutzwall der Mauer verstärken, um "potentielle Eindringlinge" abzuhalten. Man steht quasi vor einer Festung. Dies ist in einer Analogie zu ihrer inneren Situation zu begreifen, wo auch für sie erstmalig begreifbar wird, daß sie sich noch nicht bereit finden kann, sich zu öffnen. Das Bild bezeichnet den inneren Schutzwalls, der sie offenbar vor Verletzungen schützen soll, in dieser für sie noch unklaren und instabilen Anfangssituation (Patientin). Gleichzeitig entsteht im Betrachter (und der Patientin) der intensive Wunsch zu wissen, was hinter der Mauer verborgen sein könnte. Jedoch das Bildsujet und die visuelle Botschaft zwingen einen Abstand zu halten, zurückzutreten und erstmals aus der Entfernung zu schauen. Ganz eindeutig ist Distanz gefordert. Bei der näheren Betrachtung entdeckt man dann den Teil eines Gesichts, das aus einem großen sehenden Auge heraus weint und dabei von einer Gewitterwolke mit Blitzen verdeckt wird. Im Mittelpunkt dieses gewählten Blickwinkels befindet sich ein großes rotes, fruchtiges, (durchaus libidinös) wirkendes Herz. Der Hintergrund des Bildes beschreibt eine Ferienstimmung, ein Segelboot schwimmt auf dem Wasser und wird von der Sonne beschienen. Aber auch in den Durchbrüchen ist allerhand zu entdecken, wie z.B. eine grüne Kiste mit einem roten Schlüssel, so daß der Gedanke an ein noch zu entschlüsselndes Geheimnis naheliegt. Frau H.* antwortet auf meine Frage, was sie den täte, wenn sie als andere Person an diese Mauer kommen würde: "ich würde in die untere Öffnungen einsteigen, um mir die bunte Wunderwelt darin genau anzuschauen." Die ganze erste Zeit malt sie derartige Bilder und ermöglicht zunächst nur ganz kleine Einblicke in ihr momentanes inneres Erleben. Die dabei stattfindende Übertragungssituation ist noch vergleichsweise wenig eindeutig, gestaltet sich wie ein Spiel mit einem Puzzle, das man Stück für Stück zu rekonstruieren hat. Für Frau H.* war die Bereitschaft zur langsamen Annäherung an ihre inneren Themen sehr wichtig, um für sich selbst feststellen zu können, ob sie es überhaupt wagen dürfe, sich den anderen Mitgliedern der Gruppe und mir gegenüber mit ihrer Problematik zu öffnen. Es verdichtete sich der Eindruck, daß es um das Verbergen eines "Potentials, einer Kraft" ginge, welche in den Bildern mehr und mehr nach Sichtbarwerdung drängte. Mit wachsendem Vertrauen in die Gruppe und den therapeutischen Prozeß konnte sie "diese Kraft" immer häufiger im Bild erscheinen lassen. Diese Kraft, so schien es mir, war für Frau H.* gleichzeitig auch mit großer Scham belegt. Immer wieder entdeckte ich in ihrer Gestik, Haltung und vagen Andeutungen, wie sehr hier wohl eine Art Tabu berührt wurde, so als dürfe sie die Kraft eigentlich nicht besitzen oder herzeigen.

Dies wurde regelrecht körperlich erfahrbar. Je kraftvoller ein Bild ihr letztlich gelungen war, je mehr von diesem Potential sichtbar wurde, um so mehr schien sie den Atem anzuhalten. Es schien, als dürfe sie es sich auf keinen Fall gestatten, diese zu besitzen oder sich erlauben, sie gar zu genießen. Der nächste therapeutische Schritt galt also dieser inneren Thematik, nämlich diese blockierende Scham zu überwinden helfen, in Form z.B. eines Zugeständnisses an Teilaspekte dieses kraftvollen Empfindens, was mit den Stunden auch mehr und mehr gelang, und vermehrt in der Gruppe sichtbar werden konnte. Frau H.s* große Angst war, daß dieses seelische Potential unbegrenzt nach außen treten könne und sie sich damit einer Kritik und Feindseligkeit aussetzten müsste, wogegen sie dann nichts mehr unternehmen könne, hilflos und ohnmächtig sei. Andererseits vermittelt sie, daß sie mit der Möglichkeit des Sichtbarwerden-Lassens spiele; es zu ihren stärksten seelischen Leistungen gehöre, sich in diesem oszillierenden Grenzbereich zwischen Andeutung (und noch Geschützsein) und einem Sich-(ohnmächtig)-Auslieferns bewege. Es bleibt in diesem Stadium noch unklar, wie bewußt diese Haltung tatsächlich ist. Alle zukünftigen Bilder spiegeln die Auseinandersetzung mit diesem Prozeß.

(Bild 3) Im Bild oben links in der Ecke ist ein schwarzes Gebilde zu sehen. Die Patientin sagt dazu: "Das ist der Sitz meiner Anorexie. Es gibt einen Weg davon weg, der ist aber zu anfangs links und rechts mit vielen schwarzen Steinen beschwert. Dort, wo der Weg grün ist und sich schon im Übergang zum steinlosen Teil erstreckt, ist die rote Blume mit blauem Punkt zu sehen, und das bin ich". Dann weiter: "Die blauen Pfeile halten die schwarzen Steine in der Gegend in Schach." Sie führte weiter aus: "Steine liegen immer im Weg herum, aber diese Steine da neben mir sind grün. Das ist nicht so krass. Ich bin jedenfalls, das ist mir klar geworden, schon aus dem schwarzen Eck heraus." Die Patientin drückt in diesem Bild ihre momentane Bereitschaft aus, sich von der Krankheit zu lösen, um sich dem Leben zuzuwenden. Daß dies nicht nur ein schwieriger, gefahrvoller und anstrengender Weg sein würde, sondern auch voller seelischer Fallen und potentiellen Möglichkeiten des inneren Scheitern ist, wird deutlich erkennbar. Eine mehr oder minder libidinös angedeutete Symbolik taucht im mittleren und rechten Bereich im Bild auf und scheint sich offenbar mit dem Empfinden der eigenen Kraft zu verbinden. Die Wahrnehmung dieser Bildbotschaft hat die Patientin zuerst stark erschreckt. Als sie jedoch die positive Resonanz der Gruppe wahrnahm, legte sich dieses Empfinden des Erschreckens sichtbar. Sie straffte sich in ihrer Haltung, atmete tief durch, eine Veränderung schien in ihr vorgegangen zu sein. Unausgesprochen ging es jetzt darum, daß sie einer inneren Entscheidung gegenüberstand. Es war der Punkt erreicht, wo sie selbst eine Entscheidung treffen mußte. Verharrte sie weiter im Nebel des Entwicklungsaufschubs und fütterte damit ihre Krankheit, oder folgte sie ihren natürlichen Entwicklungsimpuls, z.B. der Wahrnehmung ihrer Weiblichkeit und weiblichen Sexualität = Kraft. Die Angst speiste sich bislang aus der jetzt kaum mehr aufrecht zu erhaltenden Anstrengung, dieses verborgen halten zu müssen, vor sich selbst, wie vor der Außenwelt.

Mit zunehmender Sicherheit und Zugeständnissen an diesen Aspekt des eigenen Selbst, kommt auch im realen Leben der Appetit wieder und die Patientin nimmt an Gewicht zu. Sie blüht richtig auf und nimmt die Anregungen und Angebote konstruktiv an, selbst ihre Haut verändert sich in dieser Zeit sichtlich. Man erhielt das Gefühl, daß sie eine alte Haut abstreifte, sich häutete. Ihre inneren Veränderungen werden nun auch äußerlich sichtbar. Frau H.* entwickelt sich zu einer schönen Frau, mit einer angenehmen, kraftvollen weiblichen Ausstrahlung und sie vermittelt, daß sie dies auch selbst genießen kann. (Real hat sie in dieser Zeit eine Partnerbeziehung beginnen können). In den Gruppenstunden lebt sie diese neue Rolle des Sich-Akzeptieren-Könnens in den Bildern ausgesprochen lebendig aus und gewinnt dabei mehr und mehr innere Sicherheit. Sie spricht viel von guten und schmackhaften Speisen, manchmal in fast erotischer Anmutung. Die Gruppe empfindet sich ganz offensichtlich hiervon intensiv stimuliert.

(Bild 4) Es entsteht in dieser Zeit ein mehrfeldiges, buntes Bild, so plastisch wie zum Anfassen. Rechts oben, ein Sonnenblumenfeld im Sommer, links daneben, ein Sonnenuntergang am Meer, darunter geöffnete bunte, mit Samenkapseln ausgestattete Blüten. In der Mitte wirbelt eine gelb-orange Spirale bunte Farben nach oben. Das Bild wirkt ausgesprochen impulsiv, libidinös und befreiend. Hier ist nun die ganze opulente, freie Kraft zu sehen, die anfangs von Schutzwällen und dicken Mauern so sehr eingedämmt war. Das Bild vermittelt ein gutes Gefühl dafür, welche immense emotionale Energie Frau H.* aufgewendet haben mußte, um diese enorme Kraft, diesen Entwicklungsimpuls in Schach zu halten. Frau H.* kann als gutes Beispiel dienen, wie die Möglichkeiten der Kunstherapie optimal genutzt werden können. So konnte sie über das Malen nicht nur ihre spezifische Angst kennenlernen, ihr einen Namen geben, sie verstehen, sondern auch in fast spielerischer Weise sich dem eigentlichen Thema annähern, und mit kreativen Ausdrucksmitteln daran arbeitend und formend ihre Veränderungen symbolisieren.

Die nächste Fallgeschichte beschreibt die Arbeit mit einer19-jährigen Studentin, die seit ca. 2 Jahren an Binge-Eating-Disorder leidet.

Beim Erstinterview wirkt Frau L.* durchaus sympathisch, aber auch sehr verwirrt und erschöpft. Sie vermittelt deutlich, daß sie unter einen enormen inneren Druck steht. Auch scheint es ihr schwer zu fallen, sich zu konzentrieren und zuzuhören. Ihre Bewegungen wirken zwar einerseits langsam, sind aber von einer eigentümlichen Fahrigkeit und Unruhe begleitet. Sie deutet an, nicht viel reden zu wollen, und sie es deshalb für sich vorziehe, in die Kunsttherapie zu gehen. Sie betont, daß es ihr im Moment nicht "besonders gut" gehe, was man ihr auch deutlich ansehen kann. Sie sei auch froh, jetzt hier bei Pathways zu sein und "hier Hilfe und Ruhe erhalten zu können". Während des gesamten Erstgesprächs bemerke ich einen immensen inneren Druck, Selbstunsicherheit, Zerrissenheit und gleichzeitig einen Wunsch nach Anlehnung und kindlichem Gehaltenwerdens.

In der ersten Therapiestunde wirkt die Patientin immer noch recht verwirrt und chaotisch. Als sie sich jedoch direkt mit den Farben und dem Malmaterial beschäftigt, sich einläßt aufs Malen, fällt auf, daß sie spontan eine andere Körperhaltung annimmt, und sichtbar Ruhe und Konzentration eintreten. Ihr Gesichtsausdruck erscheint in diesem Moment nicht mehr müde oder gehetzt, sondern wirkt klar und gelöst. Sie nimmt sogar bei der ersten Bildbesprechung Stellung zu ihrer Arbeit. Das Bild soll das "Schweigen" darstellen, an dem das "äußere bunte Leben" vorbeifliegte. Bald offenbart sie ihr inneres Thema, nämlich die Frage, wie man sich "als Person ohne Gefahr in der Öffentlichkeit zeigen kann, wie man authentisch ist, ohne den Zwang zur Perfektion". Ganz entgegen ihres Anfangskonzeptes, wenig reden zu wollen, (deshalb die Kunsttherapie zu wählen), entwickelte Frau L.* ganz offensichtlich Spaß, neben den Malen ihre Bilder auch ausgiebig und im Detail zu kommentieren. Dabei erlebte ich sie als eine klare, wache und recht lebendige Persönlichkeit. Bald wagt sie bewegtere, szenischere Bilder in größeren Formaten zu malen, mit bunten Farben, wo sie anfangs kleine Blätter und dünne Bleistifte bevorzugt hatte. Sie beginnt bildnerisch ihre "verlorene Kindheit" zu bearbeiten. Einer Kindheit, nach der sie sich wohl sehr zurücksehnt. Zunehmend äußert sie vor der Gruppe ihre Trauer über den Verlust dieses "Kindergefühls" und zeigt auch ihre regressiven Wünsche. Auch im Austausch mit den anderen Gruppenmitgliedern beginnt sie langsam Sehnsüchte und Vorstellungen zu äußeren. Sie klärt ihre Beziehungen zu einzelnen Mitgliedern und berichtet von ihren Empfindungen, die Bildern der anderen Mitglieder bei ihr auslösen, und scheint dies als einen Gewinn für sich zu erleben. Es gelingt ihr zunehmend innere Blockaden in den Bildern aufzuzeigen und damit aufzudecken, und beginnt diese genauer zu beleuchten und zu bearbeiten. Sie entwickelt und formuliert dabei erstaunliche Strategien, was sie in den Bildbesprechungen verdeutlicht. Bald darauf setzt sie viele dieser neuen Wahrnehmungen und Erkenntnisse auch in die Realität um. Im Rahmen dieses Entwicklungsprozesses nutzt sie kreativ und sehr flexibel alle Angebote der Kunsttherapie. Ihre immer deutlicher werdende Klarheit findet im Bild wie im verbalen Ausdruck eine ausgesprochen positive Resonanz in der Gruppe. Indem ihr Vertrauen in die Gruppe wächst, erlaubt sich Frau L.* mehr und mehr, ihre seelischen Gestimmtheiten und emotionalen Bedürfnisse auch für Andere unmittelbar sichtbar werden zu lassen, so weint und klagt sie z.B. in der Gruppe. Dieses offenbar wachsende Vertrauen in das eigene Selbst, läßt auch ihre Weiblichkeit immer deutlicher zutage treten. Dabei wirkt sie zunehmend attraktiver und selbstbewußter. Sie beginnt sich ausgesprochen schick und geschmackvoll zu kleiden, genießt die Komplimente, die sie von den Gruppenmitgliedern erhält und entdeckt bald auch, daß sie sich nach einer Partnerschaft sehnt. Diese Wünsche machen ihr zunächst Angst, wie sie sagt, sie beginnt sich aber auf den Bildern offen damit auseinanderzusetzen, was ihr nicht nur Rat und Beistand, sondern auch Zuneigung von seiten der Gruppe einbringt.

(Bild 5) Sie malt, zum von mir gestellten Thema Tabu, folgendes Bild: unten links, zwei Menschen, die sich gegenüber stehen, zwischen ihnen steht ein Kreis mit einem Kreuz und einem Ausrufezeichen, das zu der rechten Person zu gehören scheint, wobei deren Gesicht so ungünstig plaziert ist, daß das Ausrufezeichen den Blick verstellt. Die Person links sei die Patientin. Sie würde gerne der Person rechts gerade gegenüberstehen, "im Sinne von Gleichwertigkeit", hat aber Angst davor, dieser Person gerade in die Augen zu schauen. Die Anlage des Sujet erlaubt aber keinen Blickkontakt, was die Patientin sehr bedauert. Real wünscht sie sich nichts mehr als Kontakt. Rechts unten im Bild zeigt die Patientin etwas von ihrer Angst, nämlich daß jemand sie "mit Blicken durchleuchten könne", und damit auch ihre Eßstörung erkennen würde, vor allen Dingen ihren zu dick gewordenen, nicht "perfekten Bauch". Im grauen Teil, rechts unten im Bild, krümmt sich eine Person, "damit man diesen Bauch nicht mehr sehen kann". Dieses Sich-Verkrümmen-Müssen verhindert aber wiederum die Möglichkeit, dem gegenüberliegenden Menschen gerade gegenüber zu stehen und verwehrt auf diese Weise den Blickkontakt. Die Patientin zeigt via Bild klar den Mechanismus ihrer Kontaktvermeidung aus Angst vor negativer Einschätzung und Bewertung. Über das Bild sind Kreuze verteilt, die das "Tabu" andeuten sollen. Die Zweideutigkeit, die in diesen Kreuzen liegt, ist augenfällig. Man kann sie als ein Durchstreichen, im Sinne eines Verbotes ebenso betrachten, wie als ein Anstreichen, Markieren, was als Zustimmung zu verstehen wäre. Die Gleichzeitigkeit von Angebot und Verbot, das Vermeiden, (was ein Erkennen und Sichtbarwerden besonders hervorhebt), ist das Kriterium dieser inneren Dynamik, die stark an einen Double-Bind-Dialog erinnert. Die Frage nach Klarheit und Eindeutigkeit, der Wunsch nach Struktur und Bestimmung des eigenen Standpunktes ist Tabu, das nicht berührt werden darf. Der Konflikt besteht wohl im ambivalenten Wunsch nach Eindeutigkeit, wo Impulse nach Sich-Offenbaren mit Wünschen nach Verborgen-Bleiben ambivalent auftreten. Zweifelsohne offenbart das Bild die Realität dieser Gegebenheiten, was bereits der ersten Schritt in Richtung Veränderung = Tabubruch bedeutet. Frau L*. kann selbst diese Dimensionen für sich jetzt schlüsseln und auch klar benennen. Die Logik ihrer seelischen Verbiegungen und Selbstmanipulationen wurde ihr dabei gut fühlbar und verständlich.

(Bild 6) Ein weiteres Bild dieser Patientin beschäftigt sich mit einer zwar anderen, aber bei näherer Betrachtung doch ähnlicher Thematik. Eine grüne Straße, mit roten Pfeilen und schwarzen Ausrufezeichen gesäumt, in stopp and go angeordnet, führt gerade durch das Bild von unten nach oben. Es soll die "Sinnstraße" darstellen. Die Straße auf der die Pflichten laufen. Diese Straße sei ihr aufgezwungen worden, z.B. damit sie die Schule schaffe, sie müsse auf dieser Straße gehen, dies sei für sie so bestimmt worden, sie wisse aber nicht von wem. Es sei wichtig, "diese Straße stur und gerade zu gehen", nicht "nach links oder rechts zu schauen". Damit ihr dies auch besser gelinge, hat sie diese Straße auch noch mit einem dicken schwarzen Rand, einer Abgrenzung versehen, einen vorgegebenen Rahmen. Die in Aussicht gestellte Möglichkeit, nach eigener Bestimmung auf dieser "Sinnstraße" zu gehen, lehnt sie vorerst ab. Vielmehr äußert sie, daß es so gut sei, daß für sie bestimmende Vorgaben existierten, gleichzeitig empfände sie den bewußten Bruch von derartigen Geboten als geradezu "sinnliches Erlebnis". Dies wird im Bild sichtbar, denn auf den beiden Seiten der Straße lauert die Verführung und reichlich Sinnlichkeit, schöne Rüschenkleider, Düfte und alles was auf ihre Sinne wie ein Sog wirkt, sie lockt und ihr gefährlich werden kann, ist hier dargestellt. Es sind "Naturgewalten in denen man versinkt, begibt man sich in sie hinein, verliere man geradezu alle Sinne" (meint die Gruppe hierzu). Sie äußerte dazu, daß sie sich viel zu oft in der "Sinnlichkeit verliere" und daher recht gut aufpassen müsse um, dort eben nicht zu landen und dabei alle Pflichten zu vergessen.

(Bild 7) Das nächste Bild veranschaulicht diesen Ambivalenz-Konflikt noch präziser. Ein kleiner goldweißer Engel, (ein Repräsentant des ÜBER -ICHs), kommt zu der Patientin ans linke Ohr, aus einer himmelblauen Wolke geflogen, flüstert ihr zu "Tu das nicht, sei brav". Unten rechts in der "heißen roten Hölle, tanzt der kleine Teufel mit seinen schwarzen Hörnern" ("finde ich total süß") und flüstert in das andere Ohr "Tu es, tu es, mach es" (der Repräsentant des ES). Die Patientin selbst, dargestellt im Motiv des grünen Kopfes, (Repräsentant des ICHs) dessen dazugehöriger Körper in eine lila Atmosphäre eingetaucht ist, vermittelt diesen Zwiespalt eindeutig so, daß sie über diese Wahrnehmung in Verwirrung gerät und dann nicht mehr weiß, was sie nun tun soll, wie sie es zu interpretieren habe. In kaum einer anderen Patientenarbeit wurde die Zerrissenheit und Bedrohung eines Ambivalenzkonflikts so deutlich, wie in diesem Bild. Mit großer Klarheit legt Frau L.* diese Dynamik dar, entschließt sich ihre erlernte Hilflosigkeit aufzugeben, ihre Wünsche klar und eindeutig zu formulieren und in reale Aktionen umzuwandeln, erlebt sich dabei aber immer wieder auch von schweren Schuldgefühlen bedrängt. Ein Prozeß der Autonomiebildung hat wohl begonnen.

In der nächsten Fallgeschichte berichte ich über eine Bulimiepatientin. Frau M.* ist 18 Jahre alt, ausgesprochen gut aussehend, im Kontakt eher kühl und distanziert wirkend. Beruflich macht sie z. Z. ein Praktikum in einem Kindergarten. Seit 2 1/2 Jahren leidet sie an Bulimie. Beim Vorgespräch spüre ich ein latentes Mißtrauen und eine diffuse Aggression. Sie möchte gerne in die Kunsttherapie, denn sie hätte schon immer schon gerne gemalt. Ich werde drei Bilder von ihr vorstellen, die eine typische Thematik beinhalten, die auch repräsentativ für andere bulimische Patientinnen ist.

Schon in der ersten Stunde tauchte ihr Thema auf, nämlich wie sich der Kopf und das Herz in Einklang bringen ließe. Es wurde ihr schnell deutlich, wie sehr der Verstand das Gefühl diktierte, wobei sie bemerkte, daß immer öfters so etwas wie ein untergründiger Protest in ihr aufkomme. In solchen Momenten sei sie dann stark damit beschäftigt, dieses in ihr aufkommende diffuse, wie bedrohliche Gefühl, zu unterdrücken. Sie vermittelte eindringlich ihren Zwiespalt und das Fehlen jedweder inneren Stimme und Kompetenz dagegen aufzubegehren, Widerstand zu leisten, zu protestieren, wenn sie sich vereinnahmt und "überrumpelt fühlte". Die Verstandes- und Vernunftebene schnitt ihr quasi das Wort zu ihrem eigenen Wünschen und Vorstellungen ab, und ließ sie zu ihren Ungunsten immer wieder einlenken, wie sie dies des öfteren in den Stunden beschrieb. In ihr war ein sehnlichster Wunsch nach heftigeren Ausdrucksmöglichkeiten, und mehr als einmal sprach sie diese Impulse auch an. Offen drückte sie ihre Bewunderung für die Frauen in der Gruppe aus, die ihrer ungezügelten Lust und ihrer Wut auf dem Papier Ausdruck verleihen konnten. Allmählich schaffte sie es aber dann doch, sich aus ihrer Isolation heraus zu entwickeln. Mithilfe der bildnerischen Symbole gelang eine lebhafte Auseinandersetzung mit der Thematik und sie fand dabei eine Ausdrucksweise, sich sowohl mit ihrer Angst auseinanderzusetzen, als auch intensiv mit ihren positiven emotionalen Empfindungen in aktiven Kontakt zu kommen. Nach dieser schwierigen Anfangsphase schaffte sie es, die Dinge sozusagen beim Namen zu nennen; die Konflikte wie auch ihre Wünsche exakt zu formulieren, über die Dinge und Situationen aus ihrem Tagesablauf zu berichten, was sie wütend machte, und sie aktiv verändern wollte. Es war für diese Patientin eine große Hilfe, feststellen zu können, daß sie die Zustimmung der Gruppe bei dieser Auseinandersetzung ihrer spezifischen Thematik hatte. In der wachsenden Gewissheit, nicht abgelehnt zu werden, wenn sie einmal ihre Wut offen zeigte, wie auch im Erleben daß ihre Vorstellungen und Wünsche wahrgenommen werden, fand sie einen eigenständigen Weg, wie sie mit ihren Gefühlen, oder wie sie es nannte, "ihrem Herz und ihrem Kopf kooperieren" zu können. Sie wurde sichtbar weicher und verbreitete schließlich, eine warme, angenehme Atmosphäre in der Gruppe. Es war ihr auch recht bald möglich, mit anderen Gruppenmitgliedern freundschaftliche Beziehungen zu schließen. Am Ende unserer Therapie hatte sie jedenfalls soviel Stimme und Ausdruckskompetenz gewonnen, daß sie ihre Ziele nachhaltiger anmelden und einfordern konnte. Zu dieser Entwicklung passend, malte die Patientin die folgenden Bilder: (Bild 8 - s. Anfang) Im Mittelpunkt des Bildes steht ein rotes Herz, das mit einem graubraunen Kopf verbunden ist. Der Farbverlauf um diesen reicht von blau nach grün zu gelb. Diese äußeren Farben stellen das anfänglich innere Chaos dar, in das die Patientin geraten ist, wenn sie in den Konflikt gekommen war, Herz bzw. Gefühl vom Kopf zu trennen. "Dann entsteht Chaos, ich weiß nicht mehr, was richtig ist, Gefühl oder Kopf. Um mich wieder zu beruhigen, muß ich dann die beiden voneinander trennen, was ich eigentlich aber nicht will."

(Bild 9) "In der Mitte der rote Körperumriß mit dem Kopf unterm Arm ist das Sichtbare." Sie konnte sich zu dieser Zeit noch nicht recht erklären, warum sie den Kopf unterm Arm trägt. Ist es die Maske, die sie abgenommen hat, um dahinter zu schauen? "Vielleicht will der Kopf ja mal ausruhen, sich entlasten von seiner überdimensionierten Wichtigkeit. Auf jeden Fall hat er sich so auf die Höhe des Bauches und des Brustraumes begeben, wo das Gefühl zu Hause ist." (sind Äußerungen aus der Gruppe). Links hinter dieser Person, sagt Frau M.* "ist eine beige Figur, die Tränen vergießt und trauert, deren Trauer aber keiner sieht. Rechts die schwarze Figur stellt das Problem mit dem Essen dar". Die Patientin sagt, daß sie noch viele solcher "Schablonen" hätte malen können. Betrachtet man das Bild genauer, steht hier wieder der Kopf im Mittelpunkt als das eigentliche Zentrum. Er ist komplett mit allen Sinnesorganen (was bei anderen Patienten anfangs oft fehlt) ausgestattet, die Augen sind weit geöffnet, der Mund aber zum Schweigen geschlossen.

Es liegt aus der Geschichte der Patientin nahe, daß es sich hier um die Verbindung einer unerledigten Trauer mit dem Symptom (Symptom statt Trauer) handeln soll, in der der Kopf die Funktion einnimmt diese schmerzvollen Gefühle unter Kontrolle zu halten. (Real gibt es in der Ursprungsfamilie der Patientin einen Zwang zur positiven Gestimmtheit).

(Bild 10) Das Bild stellt einen Tagtraum dar, den die Patientin in der letzten Zeit öfters hatte. Das Bild entstand kurz vor ihrem Abschied von Pathways. So malte sie immer wieder eine Hand, die auf ihren Bildern, wie sie andeutete, eine Schutzfunktion, "die Schutzhand" einnahm, ("die Hand sagt, tut...,") und als Übergangsobjekt fungieren mußte. Diese Hand interpretiere und half ihr, viele schwierige Situationen, wie sie thematisch im Bild auftauchten, zu bestehen. Hier zerschlägt die Hand, als Faust geballt, ihre "innere Trennwand", die ihr den Weg zur vitalen Außenwelt, zu den andern Menschen verstellt. Klar bezeichnet sie, "ich will den Kontakt haben". Sie ist fest entschlossen, von der dunklen einsamen Seite auf die helle lebendige Seite zu wechseln, "dort wo die Sonne scheint".

Die hier dargestellten Entwicklungsprozesse sind im Kontext der gleichzeitig laufenden intensiven verbalen Therapien sowie der ökotrophologischen und sozialpädagogischen Maßnahmen zu verstehen. Ihr Zusammenspiel gewährt diesen z.T. schwer erkrankten, u.U. traumatisierten Patienten jenen Schutzraum, der für solche Prozesse, wie sie hier beschrieben wurden, die notwendige Grundlage bildet.

Abschließend möchte ich noch sagen, daß alle drei Frauen in einem sichtbar guten Gesundheitszustand die Einrichtung verließen und sich offensichtlich auf dem Wege der weiteren Genesung befinden.

Ich wünsche ihnen allen viel Glück auf diesem Weg, und möchte mich noch sehr herzlich bei jeder von ihnen bedanken, auch daß sie es mir gestatteten, hier ihre Bilder und Geschichten vorstellen zu dürfen.

(* Die Initialbuchstaben wurden aus Gründen des Persönlichkeits-Schutzes geändert.)

(Literatur bei der Verfasserin)

Anschrift der Verfasserin:
Rosemarie Schuckall
Kunstherapeutin
München

E-Mail: r.schuckall@schuckall.de

Internet: http://www:schuckall.de

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