FACHFORUM

Die Weidenrinde als pharmazeutischer Rohstoff - gestern und heute

von Norbert Lagoni


Heilmittel aus der Weidenrinde (Salicis cortex) haben traditionell einen festen Platz im Arzneischatz der Volksmedizin. Heute nehmen standardisierte Pharmaka aus Weidenrindenextrakt in der rationalen Phytotherapie diesen Platz ein.

Vom Altertum zur Gegenwart

Den Menschen der Frühzeit dienten die bitter schmeckenden jungen Triebe und Blätter der Weide als Nahrungsquelle. Frauen der Steinzeit hatten bereits die Heilwirkung der Weidenrinde entdeckt, ohne etwas über die Inhaltsstoffe zu wissen. Die Erfahrungen wurde über Generationen weitergegeben.

In den alten Hochkulturen Indiens, Vorderasiens, zur Blütezeit Mesopotamiens - des biblischen Zweistromlandes - und dem frühen Ägypten war die Weidenrinde als fiebersenkende und schmerzlindernde Arznei bekannt. Der älteste Beleg hierfür findet sich auf einer Tontafel aus der Zeit um 700 v. Chr., neben aufgelisteten assyrisch-babylonischen Rezepturen sind auch Weidenblätter abgebildet. Im alten Ägypten war die Weide als Gartenbaum beliebt, gepulverte Rinde und Blätter dienten heilkundlicher Anwendung.

Weidenrinde in der Antike

Auf den Urvater aller abendländischen Ärzte - Hippokrates v. Kos (460-377 v. Chr.) - geht die Aufnahme der Weidenrinde in den "Corpus hippocraticum" zurück. Mit Teeaufguß und Sud wurden Schmerzen und Fieber sowie die Folgen der Gicht behandelt. Auch in der Geburtshilfe wurden Schmerzen mit abgekochter Weidenrinde "nervenberuhigend" behandelt. Griechische Wundärzte des 5. u. 4. Jh. definierten nach der herrschenden Krankheitslehre, der Humoralpathologie, nicht nur das Krankheitsbild "rheumatismos" als Störung des Säfteflusses im Körper, sondern beschrieben auch Behandlungsmethoden bei Schmerzen und Entzündungen.

Celsus, Herodot und Plinius gaben Hinweise auf die Verwendung von Blättern, Blüten und Rinde des Weidenbaumes: Äußerlich als Adstringens, Refrigerans oder Siccans, zur innerlichen Anwendung als Oralium.

Von dem aus Pergamon stammenden Arzt Galen (199-129 v. Chr.) stammt der Hinweis auf die ab- und ausleitende Behandlung der Gicht ("Podagra") mit Sud aus der Rinde oder Rindenasche.

Der römische Militär- u. Leibarzt Padanios Dioskurides (40-80 n. Chr.) verzeichnete in seiner berühmten Materia Medica Zubereitungen aus der Weide bei unterschiedlichen Leiden. Danach eignet sich Saft oder Rinde als Adstringens bei Blutungen, Gelenkschmerzen, Rheuma und Gicht.

Von Dioskurides stammt ein Hinweis auf die antikonzeptionelle Wirkung von Teezubereitungen aus geriebenen Weidenblättern. Augen- und Ohrenleiden wurden mit Tinktur/Liniment und "Blutspeien" mit dem Presssaft aus Blätter und Blüten behandelt.

Mittelalterliche Mythologie um die Weide

Die weite Verbreitung der Weiden und die Verwendung der elastischen Triebe als Flechtmaterial stützten die erfahrungsmedizinische Anwendung als Heilmittel in der Volksheilkunde des Mittelalters. Vorwiegend Wanderärzte, Bader, Hebammen, Schäfer, Korbflechter und Kräuterfrauen heilten Gebrechen mit Zubereitungen aus Weidenrinde. Insbesondere die Heilkundigen in den Klöstern bewahrten und

Volksheilkundliche Anwendung der Weidenrinde

Blutungen innerlich/äußerlich, "Blutspucken"
Durchfall, Darmkatarrh, Ruhr, Erbrechen
Fiebermittel ("Sumpf, Wechselfieber")
Beruhigungsmittel bei "sexueller Übererregbarkeit"
Empfängnisverhütung
Gicht ("Podagra")
Harnleiden (Blasengrieß, -steine)
Hautwunden, Geschwüre, Skrofeln, Knoten, Warzen
Milz- u. Leberschmerzen
Lungen- und Halserkrankungen
Nervenleiden, Angstzustände
Rheuma- u. Gelenkschmerzen

dokumentierten das Wissen über die heimische Botanik und überlieferte Pflanzenheilkunde. Aufzeichnungen der sachkundigen Benediktiner-Äbtissin Hildegard von Bingen (1098-1179 n. Chr.) sind Zeugnis traditioneller Klostermedizin. Sie erwähnt die erfolgreiche Anwendung geschälter Weidenrinde bei Blutungen, Fieber, Harnleiden und empfahl sie bei "sexueller Übererregbarkeit". Albertus Magnus und Konrad v. Megenberg begründeten die Anwendung aus der damals vorherrschenden Signaturenlehre "Ubi morbus ibi remedium" und analogisierten: Sumpfiger, nasser Standort der Weide signiert "Sumpf-, Wechselfieber", biegsame Zweige "steife Gelenke und Glieder". Matthiolus griff die antikonzeptionelle und vermeintlich anaphrodisierende Wirkung auf.

Neuzeit bringt die Wende

Ärzte und Heilkundige des ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jh. kannten die schmerzlindernde Wirkung und beherrschten die Anwendung von Salicis cortex. 1763 publizierte der englische Geistliche Stone seine positiven Erfahrungen mit der Weidenrinde bei Wechselfieber und verglich die therapeutische Wirkung der pulverisierten Weidenrinde mit der von Chinarinde.

Das Chinin aus dem lateinamerikanischen Fieberbaum (Cinchona officinales L.) hatte die Weidenrinde als Febrifugum stark verdrängt. Die bitter schmeckende Weidenrinde blieb jedoch das Fiebermittel der armen Leute. Sumpffieber (Malaria) war derzeit in Europa verbreitet, der Bedarf an Chinarinde konnte nicht ausreichend gedeckt werden. Mit der napoleonischen Kontinentalsperre von 1806 bis 1813 kamen die Chinarinden-Importe aus Peru zum Erliegen und leiteten dadurch eine Rückbesinnung auf die verfügbare "heimische Fieberrinde" ein.

Salicin sichert den Aufschwung

Zu Beginn des 19. Jh. haben Fontana u. Brugnatelli kleine Mengen eines gelblichen Glykosids, der Hauptwirkkomponente aus der Rinde, isoliert. Auf den deutschen Apotheker Buchner (1828) geht die Bezeichnung Salicin für dieses Glucosid zurück, er hatte sie von der botanischen Ordnungsbezeichnung Salicales abgeleitet.

1830 gelang Leroux die Darstellung des Salicins in reiner Kristallform. Acht Jahre später isolierte der italienische Chemiker Piria aus der Rinde der Silberweide (Salix alba L.) die gut kristallisierende Salicylsäure (SS) durch Oxidation des Salicins und ging als ihr Entdecker in die Annalen ein. Erst dem deutschen Chemiker Kolbe gelang 1859 die Synthese der Salicylsäure. 1877 ersetzte der Chemiker S`ee die Salicylsäure durch das besser verträgliche Natrium salicylicum (Na-salicylat), was therapeutisch ein großer Fortschritt für diese Substanzgruppe war.

Weidenrinde - Etappen einer Entwicklung

1763 Stone, engl. Geistlicher, Heilkundler pulverisierte Weiden- rinde bei Wechselfieber
1828 Buchner, dt. Apotheker. Salicin als Reinsubstanz von Salix alba L.,
1838 Piria, ital. Chemiker. Oxidation von Salicin zu Salicylsäure
1832 Krombholz, tschech. Mediziner. Nachweis der Wirksamkeit bei rheumat. Fieber
1859 Kolbe, dt. Chemiker Synthese der Salicylsäure
1879 Stricker, dt. Mediziner. Nachweis als Antipyretikum bei rheumat. Fieber
1877 S`ee, franz. Chemiker. Na-salicylicum eingeführt
1897 Hoffmann, dt. Chemiker + Apotheker Salicyl- + Essigsäure Acetylsalicylsäure (ASS, Aspirin®)
1938 Madaus, dt. Apotheker Indikationen für Weidenrindenextrakt
1949 Mayer u. Mayer, dt. Biologen Weidenrindenextrakt, Ersatz für Salicylsäure
1984 Bundesgesundheitsamt, Berlin Monographie zu "Salicis cortex - (Weidenrinde)"
1997 E.S.C.O.P., Brüssel-London Monographie zu "Salicis cortex" (Willow bark)
1998 ROBUGEN, Esslingen Zulassung Assplant® Trockenextrakt aus Weidenrinde

Von der Weidenrinde zur ASS

Die synthetische Herstellung und breite Anwendung der Salicylsäure war ein Meilenstein in der Pharmazie und Medizingeschichte und hatte ihren Höhepunkt im letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts. Als Antipyretikum und Analgetikum bei Rheuma, Gelenkschmerzen und Gicht innerlich angewandt, verursachten reine Salicylat-Präparate jedoch bei vielen Patienten erhebliche Nebenwirkungen und Funktionsstörungen vornehmlich am Magen, Darm und den Nieren. Unverträglichkeit nach Einnahme von Salicylaten war oft der hohe Preis für die angestrebte Schmerzlinderung. Angetrieben von persönlichem Erleben in seiner Familie, gelang es dem deutschen Apotheker und Chemiker Hoffmann 1897 in seinem Wuppertaler Labor aus Salicyl- und Essigsäure die Acetylsalicylsäure (ASS) in reiner und stabiler Form herzustellen. Der weltweit ungebrochene Siegeszug des synthetischen Schmerz- und Fiebermittels Aspirin® nahm zu Beginn dieses Jahrhunderts seinen Lauf. Die synthetische ASS substituierte die salicinhaltigen pflanzlichen Schmerzmittel.

Rückbesinnung und Fortschritt
Die erste Hälfte dieses Jahrhunderts stand sowohl im Zeichen der Forschung, Entwicklung und Standardisierung als auch der Optimierung pharmazeutischer Herstellungverfahren pflanzlicher Arzneimittel aus nativem Ausgangsmaterial. 1938 präzisierte der Apotheker Madaus die Herstellung und Anwendungsgebiete von Weidenrindenextrakt. Der große Mangel an Schmerzmitteln infolge des 2.Weltkrieges belebte die Suche nach verfügbaren Rohstoffquellen und preiswerten Ersatzmedikamenten. Es waren Mayer u. Mayer, die bereits 1949 Weidenrindenextrakt als Ersatz für die knappe synthetische Salicylsäure propagierten.

In den frühen 80er Jahren erhielt der britische Pharmakologe Vane für die Aufklärung des Funktionsmechanismusses der Prostaglandine und ihre Synthesehemmung durch Salicylate den Nobelpreis für Medizin. Auch die Schmerz- und Salicylatforschung erfuhr dadurch einen neuen Impuls.

Rationale Phytotherapie heute
1984 monografierte das Bundesgesundheitsamt, im Rahmen seines gesetzlichen Auftrages, das medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnismaterial zu Salicis cortex, Weidenrinde. Dieser Sachstand wurde 1997 durch die europäische Monografie "Salicis cortex" (engl. Willow bark) der European Scientific Cooperative on Phytotherapy (E/S/C/O/P) bestätigt und aktualisiert.

Die pharmazeutische Definition der Weidenrinde war bereits 1991 durch die Aufnahme der Monografie in das amtliche Deutsche Arzneibuch (DAB) erfolgt.

Weidenrinde pharmazeutisch Deutsches Arzneibuch*

"Weidenrinde besteht aus der im Frühjahr gesammelten, ganzen oder geschnittenen oder gepulverten, getrockneten Rinde junger Zweige von - Salix purpurea L. - Salix daphnoides VILLARS oder anderen Salix-Arten. Die Droge enthält mindestens 1.0 Prozent Gesamtsalicin, berechnet als Salicin (C13H18O7; Mr 286, 3)"

*) Amtliches Deutsches Arzneibuch DAB 10/1991

1998 erwarb das Esslinger Pharmaunternehmen ROBUGEN die Zulassung für das salicinhaltige Phytoanalgetikum Assplant®, einem hochdosierten Extrakt aus der Rinde der Purpur-/Steinweide (Salix purpurea L.). Der Nachweis der Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der Weidenrinde als pflanzliches Schmerzmittel war somit erstmalig bestätigt worden.

Anwendung der Weidenrinde heute

Pharmakologische Wirkung

  • antipyretisch
  • antiphlogistisch
  • analgetisch

    Therapeutische Wirksamkeit

  • rheumatische Beschwerden
  • Rücken-, Gelenkschmerzen
  • Muskelschmerzen
  • fieberhafte Erkrankungen
  • Kopfschmerzen (anhaltende)

  • Zusammenfassung

    In vielfältiger Weise dienen Weiden den Menschen seit mehr als 3500 Jahren; die Heilwirkung einzelner Bestandteile war bereits den Jägern und Sammlern der Frühzeit bekannt. Archäologische Funde aus den vorderasiatischen und indischen Hochkulturen belegen die Anwendung der Weide als Heilmittelspender. Griechische und römische Ärzte nutzten die Weidenrinde vielseitig. Im Mittelalter war sie als gut verfügbares Schmerzmittel weit verbreitet. In der Volksmedizin der Neuzeit verdrängte die aus Lateinamerika eingeführte Chinarinde die Weidenrinde aus der naturheilkundlichen Fieber- und Schmerzbehandlung. Erst die napoleonische Kontinentalsperre im 19. Jh. löste eine Rückbesinnung auf die Weidenrinde als Fiebermittel aus. Die systematische Erforschung und Weiterentwicklung der Salicylate führte zu den synthetischen Schmerz- u. Entzündungsmitteln des 20. Jh. und setzten sich gegen salicinhaltige Präparationen pflanzlichen Ursprungs durch. Die bisher nicht gelösten Probleme der Entstehung von Nebenwirkungen nach Einnahme chemisch-synthetischer Analgetika, haben die Akzeptanz und Suche nach nebenwirkungsarmen u. a. pflanzlichen Alternativen wiederbelebt und somit eine Renaissance der Weidenrindenmedikamente ausgelöst. Heute ist es möglich, schadstoffarme, ausreichend dosierbare pflanzliche Schmerzmittel aus heimischen, nachwachsenden Rohstoffen herzustellen und eine Therapielücke zu schließen. Die Weidenrinde steht hier an vorderster Front.

    Literatur
    1. Buchner, A.: Über das Rigateltische Fiebermittel und über eine in der Weidenrinde entdeckten alkaloidischen Substanz. Repertorium für die Pharmacie 29, 405-421 (1828)
    2. Bauer, A. W.: Zwischen Symbol und Symptom. Der Schmerz und seine Bedeutung in der Antike. In: Der Schmerz 10, 169-175 (1996)
    3. Dierbach, J. H.: Die Arzneimittel des Hippokrates oder Versuch einer systematischen Aufzählung der in allen hippokratischen Schriften vorkommenden Medikamente. Groos, Heidelberg (1824)
    4. Goltz, D.: Mittelalterliche Pharmacie und Medizin. Wissenschaftl. Verlagsgesell., Stuttgart (1976)
    5. Hänsel, R.: Phytopharmaka. Springer-Verlag, Berlin (1991)
    6. Madaus, G.: Lehrbuch der Biologischen Heilmittel, Bd. III, Nachdruck der Ausgabe Leipzig. Olms, Hildesheim (1938)
    7. Mayer, RA., M. Mayer: Biologische Salicyltherapie mit Cortex Salicis (Weidenrinde). Pharmazie 4, 77-81 (1949)
    8. Müller, I.: Die pflanzlichen Heilmittel bei Hildegard von Bingen. Herder Verlag Freiburg (1993)
    9. Pelt, J.-M.: Pflanzenmedizin, Heilkraft aus der Natur. ECON Verlag, Düsseldorf (1983)
    10. Pfendtner, I.: So heilt und lindert ASS. Weltbild Verlag, Wuppertal (1997)
    11. ROBUGEN: Wissenschaftliche Information zu Assplant®, Esslingen (1998)
    12. Schrör, K.: Acetylsalicylsäure. Georg Thieme Verlag, Stuttgart - New York (1992)
    13. Steinegger, E., R. Hänsel: Pharmakognosie. Springer Verlag, Berlin (1992)
    14. Vane, J. R., R. M. Botting: Aspirin and other Salicylates. Chapmann & Hall, London (1992)
    15. Wagner, H., M. Wiesenauer: Phytotherapie - Phytopharmaka und pflanzliche Homöopathika. Wissenschaftl. Verlagsgesell., Stuttgart (1995)
    16. Weiss, F., V. Fintelmann: Lehrbuch der Phytotherapie, 7. Auflage, Hippokrates Verlag, Stuttgart (1996)
    17. Wichtl, M.: Teedrogen und Phytopharmaka. Wissenschaftl. Verlagsgesell., Stuttgart (1997)

    Anschrift des Verfassers:
    Dr. Norbert Lagoni
    Falkenhorstweg 4
    D-81476 München
    E-Mail: n.lagoni@t-online.de



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