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Eine medizinische Episode aus J.W. Goethes Leben

Ein Beitrag zum Goethe-Gedenkjahr

von Josef Karl

Beginnen muss man mit dem Chemiker Friedrich Ferdiand Runge, der von 1795 bis 1867 lebte, Apotheker war, später Professor in Breslau und schließlich Industriechemiker in Berlin und Oranienburg. Er war ein großer Pionier seiner Zeit auf seinem Gebiet. Runge isolierte aus Steinkohlenteer Anilin (Farbenbasis), Phenol und Pyrrol, außerdem entdeckte er die Alkaloide Atropin und Koffein - jede dieser naturwissenschaftlichen Funde eröffnete der Chemie und der Medizin neue Welten!

Aber zu Goethe und Runge: Es gelang letzterem, als Student in Jena eine Audienz beim Wirklichen Geheimen Staatsminister zu erlangen, lieh sich einen Frack mit Philisterhut und machte sich mit seiner Katze im Arm auf den Weg. Von Goethe kannte er den "Faust". Der Kammerdiener führte ihn ins Empfangszimmer und kurze Zeit darauf - so Runge später - trat ihm "die schöne, hohe, mächtige Gestalt mit überwältigendem Eindruck entgegen". Er reichte Goethe die Katze und kam sofort zum Thema - Goethe meinte: "Ach so, das ist also der künftige Schrecken der Giftmischer? Zeigen Sie doch!" Runge selbst schildert das Gespräch: "Ich bog nun den Katzenkopf so, dass die Tageslichtbeleuchtung beide Augen gleichmäßig traf, und mit Erstaunen bemerkte Goethe den Unterschied an beiden Augen. Neben der schmalen Spalte in dem einen Auge fiel das große, runde Sehloch in dem anderen um so mehr auf, da vermöge einer etwas starken Gabe fast die ganze Regenbogenhaut sich zurückgezogen hatte und unsichtbar war. "Womit haben Sie diese Wirkung hervorgebracht?" fragte Goethe. "Mit Bilsenkraut, Exzellenz! Ich habe den unvermischten Saft des zerstampften Krautes ins Auge gebracht, darum ist die Wirkung so stark."

Goethe war durchaus vorinformiert und wusste, dass Belladonna und Datura stramonium (Stechapfel) dieselbe Wirkung wie Hyoscyamus niger (Bilsenkraut) haben. Er wollte von Runge wissen, wie es sich mit anderen verwandten Pflanzen verhalte. Dieser:

"Ein mir befreundeter Arzt, Dr. Carl Heise, hat eine sehr umfassende Arbeit unternommen und durchgeführt und dadurch bewiesen, dass die Pflanzen der drei genannten Gattungen eine den Augenstern erweiternde Kraft besitzen. Alle anderen Pflanzen zeigten sich völlig wirkungslos, ausgenommen einige, die aber das Gegenteil bewirkten, nämlich eine Verengung oder Verkleinerung des Sehlochs, zum Beispiel Aconitum."

"Ei", sagte Goethe, "da könnte man ja auf diese Weise das echte Gegenmittel gegen die schädlichen Wirkungen der Tollkirsche und so weiter entdecken. Versuchen Sie dies doch einmal und lassen Sie von den beiden entgegengesetzt wirkenden Pflanzen nacheinander oder gleichzeitig etwas aufs Katzenauge einwirken und beobachten Sie den Erfolg" Im weiteren Gespräch schildert der Student Runge auf Goethes Frage, wie er auf diese "eigentümliche Art von organischer Chemie" gekommen sei, Folgendes: Sein Freund kam eines Abends in großer Bestürzung in die Apotheke und klagte, dass er zu den Soldaten einberufen worden sei (Napoleon bereitete seinen Einfall in Russland vor). Auf keinen Fall aber wolle er in diesen "schändlichen Krieg" und lieber wolle er sich die Hand verstümmeln! Runge darauf: "Das ist nicht nötig - ich mache Sie auf vierundzwanzig Stunden blind." Aber ich meine, auch hier muss man Runge selbst erzählen lassen:

"Hören Sie mich. Vor etwa acht Wochen hatte ich nach ärztlicher Vorschrift eine Arznei zu bereiten, wo eingekochter Bilsenkrautsaft in Wasser aufzulösen war. Es geschah dies in einer Reibschale, und aus Unvorsichtigkeit spritzte mir ein Tropfen der Auflösung ins Auge. Ich empfand keinen Schmerz und bemerkte anfangs keine Veränderung, bis endlich ein Jucken und Flimmern im Auge mich zum Spiegel trieb. Wie groß war mein Erstaunen, als ich die eingetretene Veränderung meines Auges sah. Die Regenbogenhaut war fast gänzlich verschwunden, und das Auge sah genau so aus, wie das eines Menschen, der an schwarzem Star leidet. Auch die Sehkraft war ungemein geschwächt, was ich erst bemerkte, als ich das gesunde Auge schloss. Ich weiß nicht, wie es zuging, dass mich dieser missliche Zustand meines Auges nicht ängstlich machte. Er hielt mehrere Tage an. Endlich aber kam die Sehkraft wieder und mit ihr die naturgemäße Ausbreitung der Regenbogenhaut, so dass nun beide Augensterne wieder gleiche Größe hatten. Sehen Sie, eine solche Krankheit will ich Ihnen auf beiden Augen hervorbringen, und es müsste wunderbar zugehen, wenn Sie nicht schon nach oberflächlicher Besichtigung als unbrauchbar zum Dienst entlassen würden."

Sowie Runge dem Geheimrat Goethe seine Entdeckung des mydriatisch auf die Pupille wirkenden Atropins schilderte - es ist bis heute ein epochaler Fund geblieben.

Nicht ohne Stolz vermerkt der seinerzeitige Jenaer Student, dass ihm Goethe seine "größte Zufriedenheit" ausgesprochen habe.

Und - er gab ihm zum Abschied eine Schachtel Kaffeebohnen, die ihm ein Grieche als etwas Vorzügliches gesandt hatte. "Auch diese können Sie zu Ihren Untersuchungen brauchen", sagte Goethe. Er hatte Recht, denn bald darauf entdeckte ich darin das wegen seines Stickstoffgehaltes so berühmt gewordene Coffein." - Soweit Runge.

Anschrift des Verfassers:
Josef Karl
Heilpraktiker
Siegfriedstr. 10
80803 München

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Naturheilpraxis 08/99