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Untersuchungen über die Manipulationen im Cervikalbereich:

Die Frage der Sicherheit

n der kanadischen nationalen Zeitung "The Globe and Mail" erschien der folgende Bericht von John Breckenridge unter dem Titel: "Schlaganfall-Risiko gekoppelt an chiropraktischen Eingriff"

den Heilpraktikerin Martina Räcke im Rahmen des OSTEOPATHIE FORUM MÜNCHEN e.V. übersetzte. Die Auseinandersetzungen über chiropraktische Eingriffe dürften in Dimension und Argumentation vergleichsweise ganz ähnlich sein wie bei uns. Die Redaktion meint, daß der Artikel deshalb für unsere Fachleserschaft von Interesse sein könnte.

Red.

Am 4. Februar betrat die 20jährige Laurie Jean Mathiason die Praxis eines Chiropraktikers aus Saskatoon - aber sie ging nie wieder hinaus. Nachdem sie sich einer Behandlung im Hals-Wirbelsäulenbereich unterzog, die Chiropraktiker als Routineeingriff bezeichnen, erlitt Frau Mathiason einen massiven Schlaganfall, dem sie drei Tage später im Krankenhaus erlag.

"Die Autopsie ergab, daß meine Tochter an einer Überdrehung der Hals-Wirbelsäule verstarb", berichtet Sharon Mathiason aus ihrem Heimatort Saskatoon. "Dabei erlitt die Arteria vertebralis eine Ruptur." Das Büro des Gerichtsmediziners (Der Beamte, der in Übersee für die Untersuchung von plötzlichen oder unnatürlichen Todesfällen zuständig ist), beantragte umgehend eine Untersuchung. Laut Aussage der Kanadischen Chiropraktischen Vereinigung ist Frau Mathiason die erste Patientin in den Aufzeichnungen der 103-jährigen Geschichte des Berufsstandes, die aufgrund eines chiropraktischen Eingriffs verstarb.

Die kürzlich durchgeführte Untersuchung lenkte die Aufmerksamkeit der kanadischen Bevölkerung, der medizinischen Berufe und Chiropraktiker auf die Sicherheit bei der Durchführung von Eingriffen im Bereich der HWS (das ist der Nackenanteil der Wirbelsäule, also die Halswirbelsäule), einer Technik, die häufig angewendet wird bei den 3 Millionen Menschen, die jedes Jahr in diesem Land einen Chiropraktiker aufsuchen.

Debatten über das Ausmaß der mit einem solchen Eingriff verbundenen Risiken führten zu heftigen Kontroversen zwischen Chiropraktikern und Mitgliedern der Ärzteschaft.

Chiropraktiker räumen ein, daß es ein Risiko gibt, aufgrund des Eingriffes einen Schlaganfall zu erleiden, bezeichnen es jedoch als minimal. "Wir sind der Auffassung, daß die Art und Weise, wie der Nackenbereich zur Zeit eingerenkt wird, als ausgesprochen sicher bezeichnet werden kann," sagt David Peterson, Präsident der Chiropraktischen Vereinigung. " Sie ist jedoch nicht gänzlich idiotensicher."

Er fügte hinzu: Der Fall Mathiason ist ein tragisches und ungewöhnliches Zusammenspiel von Umständen." Einige kanadische Ärzte teilen diese Meinung nicht. " Ich vermute, daß ein Schlaganfall nach einem chiropraktischen Eingriff weitaus häufiger vorkommt, als sie (die Chiropraktiker) uns glauben machen wollen", sagte John Norris, Direktor der Forschungseinheit für Schlaganfäle im Sunnybrook Health Science Centre in Toronto.

"Es ist kein sicherer oder notwendiger Eingriff", sagte Murray Katz, ein Arzt aus Montreal, der als Experte zu der Untersuchung befragt wurde. Nach Dr. Norris sind die Arterien im Halswirbelsäulenbereich, die an der hinteren Körperseite den Nacken hochlaufen, am meisten gefährdet, bei einem chiropraktischen Eingriff verzogen zu werden. Diese Arterien machen einen Knick, ehe sie in den Schädel eintreten. "Dadurch können sie bei einer Drehung des Kopfes leicht in Mitleidenschaft gezogen werden," sagte Dr. Norris. "Sie können sie schon allein durch eine Drehung des Kopfes oder andere normale Bewegungen überdehnen oder verziehen. Tun Sie dies mit Gewalt, wie dies bei einem chiropraktischen Eingriff der Fall ist, können sich die Arterien durch die Manipulation verziehen."

Was laut Dr. Norris einer Dehnung unterliegt, ist die innere Schicht der Arterie. Wird an ihr gezogen, so können zwei Dinge geschehen. Es kann sich Blut zwischen die innere Schicht und die äußere Hülle der Arterie einlagern. Dieses Blutgerinnsel kann sich dann wie ein Ballon aufblasen und die Arterie blockieren und damit einen Schlaganfall herbeiführen.

Als zweites kann sich ein Blutgerinnsel über dem Zugbereich bilden. "Stunden, Tage oder vielleicht Monate später kann sich aus diesem Zugbereich ein Blutgerinnsel fortbewegen ins Gehirn und dort einen Schlaganfall auslösen," erläuterte Dr. Norris. Der chiropraktische Berufsstand widerspricht der Auffassung entschieden, daß ein Schlaganfall in so großem zeitlichen Abstand von einem Eingriff stattfinden kann.

"In Wirklichkeit ist es so, daß fast alle dieser Schlaganfälle binnen ein oder zwei Stunden nach dem Eingriff stattfinden," sagte Paul Carey, Präsident der Kanadischen Chiropraktischen Versicherungsvereinigung. "Anderweitige Spekulationen bringen Sie wirklich in den Bereich des Verrückten und Phantastischen."

Laut Jean Moss, Präsidentin des Kanadischen Memorial College für Chiropraktik in Toronto, beinhaltet die von der Schule unterrichtete Technik nur eine geringfügige Rotation der Halswirbelsäule bei einer gleichzeitigen, minimalen Vorwärtsdehnung. Anschließend wird mit den Fingern ein Impuls auf den Bereich der Wirbelsäule ausgeübt, der behandelt wird.

In jedem Fall sagte Dr. Peterson, daß die Chiropraktiker die internen Kräfte, die während einer Halswirbelsäulenmanipulation ausgeübt werden, genauer untersuchen werden. Er gab zu, daß nicht alle Chiropraktiker bei einem Eingriff in gleicher Weise vorgehen. Es ist nur verantwortungsbewußt von unserem Berufsstand... zu untersuchen, ob es eine Möglichkeit gibt, die ausgeübten Kräfte zu reduzieren, wenn diese Kräfte sich als zu gewaltig herausstellen sollten."

Dr. Norris sagte auch, daß Neurologen sich fragen, ob die Arterien einiger Patienten leichter zu überdehnen seien aufgrund von genetischen oder anderen Gründen. "Es könnte sein, daß diese Menschen einfach besonders heftig auf auch geringfügige Traumata reagieren." "Andererseits könnten dort draußen Cowboys sein, chiropraktische Cowboys, die die Halswirbelsäule verrenken und auch normale Arterien überdehnen oder überdrehen."

Der Versuch festzulegen, wie häufig Schlaganfälle nach einem Eingriff im Hals-Nacken-Bereich vorkommen, ist eine schwierige Aufgabe, die keine genaue Antwort hervorbringt. Das Problem besteht dem chiropraktischen Berufsstand zufolge ebenso wie nach Aussagen der Schulmediziner darin, daß niemand eine zuverlässige Studie durchgeführt hat. Die Statistiken, die bestehen, weisen nach, daß es sich um einen Eingriff mit geringem Risiko handelt. Das Problem dabei ist, daß die Angaben je nach Studie sehr stark variieren.

Entsprechend einer im Juni 1993 durchgeführten Studie der Vereinigung des Journal of Canadian Chiropractic, ist die Häufigkeit einer Gefäßverletzung im Halswirbelsäulenbereich 1 zu 3 Millionen Eingriffen. Die Studie führt auch andere ermittelte Werte auf, die zwischen 1 zu 400 000 und 1 zu 1 Millionen liegen. Die chiropraktische Vereinigung zitiert medizinische Literatur, der zufolge das Risiko laut US-Studien bei 1 : 2 Millionen bis hin zu 1 zu 4 Millionen Eingriffen liegen soll. Dr. Carey sagte, er und ein amerikanischer Neurologe hätten gerade eine Studie abgeschlossen, der zufolge das Risiko von Unfällen in Kanada im Halswirbelsäulenbereich bei 1 zu 1,25 Millionen Patienten läge. Um diese Zahl zu ermitteln, führten sie eine Kalkulation durch, die die Anzahl von Patientenbesuchen pro Jahr, den Prozentsatz, der eine Halswirbelsäulenmanipulation beinhaltete und die Anzahl von Schadenersatzforderungen zur Basis hatte, die laut Angaben der Vereinigung in direktem Zusammenhang mit dem chiropraktischen Eingriff standen. Jack Williams, ein Epidemiologe and amtierender Chief Executive Officer des Instituts für Klinische Forschung in Toronto sagte, diese neue chiropraktische Studie habe für ihn keine Aussagekraft über die wahre Häufigkeit von Schlaganfällen. Menschen, die einen Schlaganfall erleiden, bringen diesen nicht stets in Verbindung mit einem chiropraktischen Eingriff, und nicht jeder, der einen Schlaganfall erlitten habe, stellte eine Schadenersatzforderung an die Versicherungsvereingung. Er sagte, daß eine detailliertere Studie entworfen werden müßte, um diese Zahlen zu erhalten.

Dr. Norris ist Obmann des Kanadischen Schlaganfall-Konsortiums, einem Netzwerk von 19 Neurologen, die in 45 Zentren über das ganze Land arbeiten. Ihre Mitglieder haben entschieden, eine Studie zu lancieren, um herauszufinden, ob sie zuverlässigere Daten erhalten können, die einen Zusammenhang zwischen Halswirbelsäuleneingriffen und Schlaganfall zulassen.

Um einige vorläufige Daten zu erhalten, werden die Neurologen, die an der Studie teilnehmen, ihre Schlaganfallpatienten in den kommenden sechs Monaten befragen, ob sie vor ihrem Schlaganfall einen Chiropraktiker aufgesucht haben. Dies ist keineswegs eine Routinefrage der Neurologen an ihre Patienten, führte Dr. Norris an. Er vermutet, daß die Zahl der Schlaganfälle ein viel höheres Risiko aufzeigen werden, als die Angaben der Chiropraktiker nahelegen.

Einige Monate zuvor unternahm die Einheit eine Schnellumfrage bei den Zentren und bat um Zusendung von jeglichen Informationen bezüglich Schlaganfällen und chiropraktischen Eingriffen. Die 15 Zentren, die geantwortet hatten, verfügten über eine Gesamtzahl von 63 Patienten, die das erfahren hatten, was Dr. Norris einen chiropraktischen Schlaganfall nennt.

Das chiropraktische College wurde um Teilnahme an der neuen Studie gebeten und Dr. Moss sagte, daß sie dies in Erwägung zöge. Die Geschworenen im Fall von Frau Mathiason scheinen auch anerkannt zu haben, daß es wenig gesicherte Daten über das Risiko eines Schlaganfalls gibt. In ihrer Empfehlungsliste, die sie am 11. September herausgaben, appelierten die Geschworenen an die Gesundheitsbehörden der Provinzen, Mittel zur Verfügung zu stellen, um die tatsächliche Häufigkeit von Schlaganfällen im Zusammenhang mit Halswirbelsäulen-Manipulationen zu ermitteln. Sie empfahlen auch die Entwicklung einer wirkungsvollen Vorsorgeuntersuchung, um Patienten mit hohem Risiko von diesem Eingriff ausschließen zu können.


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Naturheilpraxis 08/99