Diskussionsforum

Gedanken zur Qualitätssicherungs-Diskussion im Themenrahmen der Onkologie:

Das Experiment Krebs

Manfred D. Kuno

Vorwort

Innerhalb unseres Berufsstandes ist seit einigen Monaten eine zunehmende Aktivität zu registrieren, die auf dem Boden möglicherweise drohender politischer Interventionen zum Patienten-/Verbaucherschutz basiert. Hinweise auf eine mangelnde Transparenz und Professionalität unseres Berufsstandes initiieren eine Diskussion um Qualitätssicherung und Qualitätsstandards, die eigentlich von uns selbst bereits vor 10, 15 oder gar 20 Jahren hätte geführt werden müssen. Es ist zu konstatieren, daß sich unser Berufsstand zu lange auf der Basis der Aussage "wer heilt, hat recht" ausruht, obgleich wir (ebenso wie die orthodoxe Medizin) im Bereich der schweren chronischen Krankheiten wie Krebs in der Regel therapeutische Impotenz demonstrieren. Der Verweis auf (meist mangelhaft dokumentierte) Krebsheilungen erscheint auf Nachfrage und Anforderung reproduzierbarer Belege unzureichend und im statistischen Mittel etwa in der Größenordnung von Promille angesiedelt. Die Heilung von Krebs schwebt wie ein Mythos über uns, sie stimuliert die Kollegenschaft zu den absurdesten Hypothesen und Maßnahmen, die mit dem Hinweis auf erlebte oder (überwiegend) von Dritten erzählte Tumorremissionen legitimiert werden.


Das Experiment Krebs: ein sozialmedizinischer Narrenkäfig

Der Mangel an Erfolgen in der orthodoxen und (scheinbar oder tatsächlich) wissenschaftlich "abgesicherten" Onkologie beflügelt die "alternative Therapeutenszene" (übrigens ebenso wie die orthodoxe Onkologie) zu in-vivo-Experimenten am Testopfer Mensch. Der Krebskranke wird in einer Art sozialmedizinischem Sonderstatus fixiert, er gilt -noch lebend- bereits als tot, und es gilt als legitim, an ihm in der verbleibenden Zeit Experimente im postulierten Interesse der Allgemeinheit durchzuführen. Dabei wird dem Betroffenen stillschweigend die Rolle des heroischen "In-vivo-Experiment-Opfers" verweigert, der Krebskranke erhält auch keine Salaire für die Teilnahme an diversen Tests wie dies bei freiwilligen Probanden z.B. in der Erprobung neuer Substanzen in der Pharmaindustrie üblich ist. Hier wie dort eröffnet sich über die postulierte Unheilbarkeit ein Testfeld in der Größenordnung von jährlich rund 350.000 Menschen.

Während sich die naturwissenschaftlich ausgerichtete Onkologie nach rund acht Jahrzehnten belegter Unwirksamkeit der modernen Chemotherapie in immer neuen Substanzentwicklungen und Kombinations-Chemotherapien versucht, und seit nun etwa zwei Jahrzehnten auf dem Weg der Gentechnologie das gleiche Desaster anstrebt, hat es hier immerhin durch die Einführung von Ethikkommissionen und Konsensuskonferenzen zumindest den Anschein einer humanistischen Kontrollinstanz.

Als Motor für diese Entwicklung darf jedoch nicht fälschlicherweise ein tatsächlich schlechtes Gewissen konstatiert werden, als vielmehr der enorme Kostendruck, der sich durch unser "Post-Wirtschaftswunder-Syndrom" auch innerhalb der Medizin entwickelt hatte und heute mittels Krisenmanagement beherrscht werden muß. Am Beispiel der Einschränkung medizinischer Stagings bei mammakarzinomkranken Frauen wird dies besonders deutlich: Während über Jahrzehnte ein halbjährliches, intensives, postoperatives Screening zur Ausschlußdiagnostik viszeraler Metastasen üblich war und mittels aufwendiger bildgebender und labortechnischer Verfahren durchgeführt wurde, raten Konsensuskonferenzen heute dazu, auf die teuren CT- und Szinitigrafiekontrollen in der Nachsorge zu verzichten, da sich hieraus sowieso keine therapeutische Konsequenz ergäbe. Zum Beispiel wäre im Falle einer systemischen Metastasierung die Konsequenz eine systemische Chemotherapie. Der Effekt im Sinne einer Lebenszeitverlängerung (von Heilung spricht hier niemand mehr) ist unabhängig von dem Zeitpunkt, an dem diese Therapie begonnen wird. Anders ausgedrückt: Man kann auf die teuren Untersuchungen verzichten und darauf warten, daß die Patientinnen eindeutige Symptome aufweisen. Das onkologische Procedere ist in jedem Fall (mangels Alternativen) das gleiche: Chemotherapie ohne Anspruch auf Heilung.

In der Öffentlichkeit und gegenüber den krebskranken Frauen wird das natürlich anders vertreten: Man verzichtet auf invasive und die Patienten belastende Verfahren.

Ein anderes Beispiel mag den sozialmedizinischen Narrenkäfig verdeutlichen: Seit etwa eineinhalb Jahrzehnten ist bekannt, daß die radikale Mastektomie beim Mammakarzinom keinerlei Vorteile (hinsichtlich Rezidiv- und Metastasenhäufigkeit sowie hinsichtlich der Gesamtüberlebenszeit) gegenüber der brusterhaltenden Segmentresektion bietet. Die Zahlen sind eindeutig und die Empfehlungen der onkologischen Konsensuskonferenzen sind in jeder Schwerpunktausgabe zum Thema "Mammakarzinom" der Fachliteratur wie z.B. DER ONKOLOGE (Organ der Deutschen Krebsgesellschaft) nachzulesen. Dennoch halten sich nur wenige gynäkologische Chirurgen an diese Empfehlungen. In der Regel wird weiterhin die heroische (radikale) Chirurgie bevorzugt, bis hin zu präventiven Ablationen bei genetisch vorbelasteten Frauen. Ob dies nun die Folge eines verzweifelten Fatalismus angesichts der therapeutischen Impotenz bei Krebs ist, oder ob sich hier oder da ein Chefarzt eine xte Publikation in einer xten Multizenterstudie zusammenoperieren will, bleibt offen. Sicher ist nur die Folge: ein Heer unnötig abladierter und damit psychisch und körperlich verstümmelter Frauenkörper. Die Beispiele heroisch-experimenteller Therapien bei Krebs ließe sich beliebig fortsetzen. Insbesondere auf dem Gebiet der Chemotherapie zeigen sich die Opfer zytostatischer Verstümmelungen in unseren Praxen. Wenn nach (erfolgloser) Durchführung des xten zytostatischen Therapieprotokolls die Menschen als "austherapiert" in die Naturheilpraxen kommen ("versuchen Sie es doch mal mit Mistel..."), sehen wir schwerst katabole, toxisch hochbelastete und immunologisch ausgebrannte Menschen, die nur noch vom Funken der irrationalen Hoffnung getrieben zu uns kommen. Ein tragisches Szenario, in dem sich dann nicht selten orthodoxe Onkologen zu dem zynischen Hinweis hinreißen lassen, daß sich hier nun die Unwirksamkeit der komplementären Therapien beweise... .

Die "sanfte Alternative"?

Verschreckt vom technokratischen Zynismus, der Kälte und Destruktivität der Apparatemedizin wenden sich zunehmend mehr Krebspatienten früher oder später den "sanften Alternativen" zu. Angeregt durch sachlich falsche und irreführende Pressemeldungen, v.a. aus dem Bereich der Boulevardpresse, erhoffen sich die Betroffenen nebenwirkungsarme und dabei effektive Therapieoptionen aus Naturheilkunde und Erfahrungsmedizin. Noch immer ist der Begriff der Naturheilkunde eng verknüpft mit dem Berufsstand der Heilpraktiker.

Steigende Zuzahlungen und Leistungseinschränkungen in der Behandlung durch die konventionelle Medizin haben bislang das Terrain der Naturheilkunde-Ärzte nur quantitativ anwachsen lassen. Die Patienten trauen (noch) den Heilpraktikern mehr Erfahrung in diesem Bereich zu, zudem ist die zeitlich prolongierte Zuwendung und hohe Individualität ein stichhaltiges Argument für viele Patienten, sich lieber dem Heilpraktiker zuzuwenden.

Doch was erwartet den Krebskranken tatsächlich in unserem Berufsstand? Zum einen muß aus Erfahrung konstatiert werden, daß die Angst vor Krebs auch unserem Berufsstand tief in den Knochen sitzt. Ein hoher Respekt gegenüber einer sich seit Jahrzehnten als inkurabel erweisenden Krankheit bewirkt in vielen Fällen ein Abweisen von Krebskranken in unseren Praxen. Viele Kolleginnen und Kollegen fühlen sich in diesem Themenrahmen überfordert, obgleich gerade die schweren chronischen Krankheiten eine traditionelle Domäne des Heilpraktikers darstellen. Krebs scheint hier eine Ausnahme zu sein, obgleich hier eine qualifizierte und sensible Annahme dieser Herausforderung durch unseren Berufsstand angebracht wäre.

Andererseits muß festgestellt werden, daß Krebspatienten in unserem Berufsstand in einem hohen Maße Verfahren zur Diagnostik, Prävention und Behandlung von Krebs angeboten werden, die jeden Boden auch nur andeutungsweiser Rationalität, Vernunft und Ethik vermissen lassen. In (dokumentierten) Einzelfällen muß sogar von krassen Fehldiagnosen, Falschbehandlungen und unterlassenen Hilfeleistungen gesprochen werden, die z.T. den Charakter von Körperverletzungen zeigen. Grund sind fast ausnahmslos entweder missionarisch-religiöse Grundauffassungen zur Entstehung des Krebses, die isolationistischen und pseudowissenschaftlichen Charakter aufweisen (Beispiele: Therapie nach Hulda Clark, Cell-Com-System nach Nielsen, radikale "Krebsdiäten", "Konfliktolyse" nach Hamer) oder aber die durch Selbstüberschätzung verursachte Vernachlässigung z.T. lebenserhaltender klinisch-onkologischer Maßnahmen (z.B. Empfehlungen gegen operative Eingriffe oder klinisch-onkologische Therapieoptionen).

Krebs: Spiegel für die therapeutische Impotenz und Stimulus für ein Umdenken

Der Themenrahmen Krebs konfrontiert uns alle zwangsläufig mit dem Themenrahmen Tod, ob wir dies nun wollen oder nicht. Unsere Reaktion auf diese Konfrontation korreliert mit unserer Einstellung zum Tod, und dies gibt den Ausschlag wie wir mit Krebskranken umgehen. Die sich omnipotent wähnende Schulmedizin reagiert (in der Regel) mit technokratischer Kälte, Arroganz, Zynismus und Krisenmanagement.

Die Naturheilkunde begegnet dem Themenrahmen Krebs/Tod mit der ihr eigenen Verdrängung und Verleugnung rationaler Vernunft. Die Herausforderung wird (wenn überhaupt) mit pseudowissenschaftlichen, religiös-mystischen und/oder autistischen Denk- und Handlungsmodellen beantwortet.

Der Verlust des solidarischen und konfliktfreien Umgangs mit dem Prozeß des Sterbens seit Beginn unseres Industrie- und Technokratiezeitalters scheint mit verursachend auf eine Entsolidarisierung und Isolierung gegenüber Krebskranken zu wirken. Verschärfend kommen von Zeit zu Zeit wieder auftauchende alte Hypothesen (z.T. im neuen Gewand verpackt) von der Infektiosität des Krebses hinzu. Die "Erregertheorie" bewirkt, schon allein als Wort verwendet, eine soziale Isolation der Betroffenen, der sich die Verfechter dieser Hypothesen vermutlich gar nicht bewußt sind. Eine sozialpolitische Verantwortung gegenüber publizierten (meist sehr fragwürdigen) Hypothesen wird verdrängt oder ist gar nicht vorhanden. Das durch den AKODH kürzlich publizierte Beispiel der von den AKODH-Kollegen Dr.Möller und Prof.Noll ad absurdum geführten Hypothesen von Hulda Clark, in der ein harmloser Egel zur sine-qua-non-Krebsursache emporgeschwungen wird (und sich vermutlich vor der plötzlichen eigenen Bedeutung selbst am meisten erschreckt!) ist beredtes Beispiel hierfür.

Die medizinischen Auswirkungen sind in diesem Fall (aufgrund definitiver Unwirksamkeit und zu erwartender Nebenwirkungsfreiheit der Clark´schen Hypothesen) vernachlässigbar. Die soziale Konsequenz ist unkalkulierbar, frischt sie doch die Erregerhypothesen neu auf. Im sozialpolitischen Konsens verstärkt sich durch unverantwortliche Publikationen die Stigmatisierung und Isolierung Krebskranker, die (noch lebend) als bereits tot gelten.

Elias beschreibt dieses Problemfeld wie folgt:
"Der Begriff der Einsamkeit bezieht sich auch auf einen Menschen inmitten vieler anderer, für die er selbst ohne jede Bedeutung ist, für die es gleichgültig ist, ob er existiert oder nicht existiert, die die letztliche Gefühlsbrücke zwischen sich selbst und ihm abgebrochen haben. Die Stadtstreicher, die Methylalkoholtrinker, die in einem Türeingang sitzen, während die geschäftigen Fußgänger an ihnen vorbeigehen, gehören in diese Gruppe. Die Gefängnisse und Folterkammern der Diktatoren sind Beispiele für diese Art Einsamkeit. Der Weg zu den Gaskammern ist ein anderes. Kinder und Frauen, junge und alte Männer wurden hier nackt dem Tode entgegengetrieben von Menschen, die jedes Empfinden der Identität, jedes Mitempfinden abgebrochen hatten. Da überdies die hilflos in den Tod Getriebenen auch zumeist noch selbst durch Zufall zusammengewürfelt und einander unbekannt waren, war jeder von ihnen, mitten unter Menschen, in höchstem Maße einsam und allein.

Das extreme Beispiel mag daran erinnern, wie fundamental die Bedeutung der Menschen für Menschen ist. Es weist zugleich darauf hin, was es für Sterbende bedeutet, wenn sie (noch lebend) fühlen müssen, daß sie von den Lebenden bereits aus ihrer Gemeinschaft ausgeschlossen sind." (Elias N. Über die Einsamkeit der Sterbenden. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1990, 6: 98-9).

Wenn auch das Beispiel von Folter- und Gaskammern extrem erscheinen mag, so befinden sich Menschen nach der Diagnose Krebs innerhalb ihrer sozialen Isolationsräume der Bestrahlungsbunker und Zytostatikabehandlungsräume in vergleichbarer Situation. Die Annahme des Todesurteils durch Krebs, die Postulate der möglichen Infektiosität und die darauffolgende Isolation sogar innerhalb des Familienverbandes verschärfen diese Situation fraglos und sind doch angesichts des heutigen Kenntnisstandes nicht haltbar.


Die Energien des Krebses in Medizin, Wirtschaft und Politik

Vor allem die anthroposophische Medizin beschreibt bereits lange Zeit die Krebserkrankung als ein epochales Phänomen, und als einen Spiegel zwischenmenschlichen Zeitgeistes. Rita Leroi, Pionierin der Misteltherapie und Wegbegleiterin Rudolf Steiners weist auf diese Zusammenhänge hin: "Seit Jahrtausenden wird die Menschheit von Krankheiten und Epidemien heimgesucht, die man rückblickend als Folgen bestimmter Seelenhaltungen, Gewohnheiten, Lebensbedingungen, aber auch der geistigen Verfassung des jeweiligen Zeitalters erkennen kann. So starben z.B. in der griechischen Kulturepoche, im 5./4. vorchristlichen Jahrhundert, die Menschen vorwiegend an hochfieberhaften Erkrankungen, wie es Hippokrates beschreibt. Es war eine Zeit, in der sich die Menschheit in Daseinsfreude voll mit dem irdischen Leben verband und an Kunst und Schönheit begeisterte. Diese Haltung konnte in Fieberzuständen überborden. In der Zeitenwende hingegen war es körperlicher und geistiger Zerfall mit Lähmungszuständen, Besessenheit und Aussatz, der die aus der Führung der Götter entlassene Menschheit heimsuchte.(...)

Heute stehen wir vor der Tatsache, daß vor allem die verhärtenden Erkrankungen wie deformierende rheumatische Krankheitsformen und durch Arteriosklerose bedingte Herz- und Kreislauferkrankungen überwiegen; letztere bilden die häufigsten Todesursachen. Dazu kommen die zunehmenden Depressionen, bis hin zu schweren Psychosen. An zweiter Stelle der Todesursachen steht der Krebs. Diese Situation fällt zusammen mit dem Tiefpunkt des Materialismus, der auf allen Gebieten herrschenden einseitigen Weltanschauung, die auch die Lebensbedingungen prägt und in der Krebsdisposition bis hin zum Tumor ihre körperlichen und seelischen Auswirkungen zeigt." (Leroi R. Misteltherapie. Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben, 1987:14).

Man muß nicht Anthroposoph sein, ja man muß nicht einmal Nostradamus gelesen haben, um die dramatischen Veränderungen zwischenmenschlichen Miteinanders kurz vor dem Milleniumwechsels zu erkennen. Die "Energien des Krebses" (die Homöopathen nennen es das "Simile des Carcinosinum") durchdringen unsere Welt bis in die kleinsten Strukturen. Technokratie, Isolation, Aggression, Asoziales Miteinander und Machtkonzentration auf der einen Seite, sowie Schuldgefühl, Harmoniesucht und Verzicht auf der anderen Seite bilden den Spannungsbogen, der die derzeitige Menschheit kennzeichnet:

* die Zusammenschlüsse der Großkonzerne zu gigantischen und weltumspannenden Machtzentren, bei denen die Aufsichtskartelle ihre Rolle aufgegeben zu haben scheinen,

* der Anspruch der reichen Industrieländer auf ihre Rolle als "Weltpolizei",

* die aktuellen Bilder neuer Genozide, Einrichtung von Konzentrationslagern und ethnischen "Säuberungen" ganzer Landstriche,

* Flächenbombardements inmitten Europas, aber auch

* die zunehmenden massiven Beschränkungen der Sozial- und Gesundheitsversorgung in den Industriestaaten nach US-amerikanischem Muster,

* zunehmende Aggression und Intoleranz in der Bevölkerung,

* kaum beherrschbare Arbeitslosigkeit, Verdrängungsideologien und Austausch zwischenmenschlicher Wärme gegen Computerkommunikation,
all dies sind Phänomene, die uns auch in der Biologie der Tumoren begegnen, und auf beiden Ebenen ist der Trend zu einer Verschärfung der Situation zu registrieren.

Wenn wir uns darum bemühen wollen, im naturheilkundlich-onkologischen Bereich Qualität zu sichern und Transparenz zu schaffen, so sind wir vorab dazu gezwungen, uns mit den herrschenden Energien dieses Spannungsfeldes zu beschäftigen, sie zu verstehen und in ein Handlungskonzept einzubeziehen. Dabei werden wir versagen, wenn wir uns depersonalisiert auf dieses Gebiet begeben. Die Schulmedizin lebt uns seit Jahrzehnten dieses Versagen vor: geprägt von kühler, technokratischer Distanz zum leidenden Menschen, ohne eigene Leidenschaft, bemüht sie sich im Krisenmanagement der Onkologie um eine Lösung.

Wir als Heilpraktiker haben den großen Vorteil, nicht von der technokratischen universitären Doktrin geprägt zu sein. Damit ist uns die Möglichkeit an die Hand gegeben, dem erkrankten Gegenüber, aber auch dem Phänomen Krebs, mit selbstkritischer, offener und liebevoller Haltung zu begegnen, ihn zu verstehen und unsere Heilimpulse wirksam werden zu lassen. Wenn wir es zudem verstehen, die beiden Fallen des naturwissenschaftlichen Dogmas und des religiös-pathetischen Mythos erkennend und respektierend zu umgehen, haben wir bereits einen der wichtigsten Schritte zur Qualitätssicherung getan: wir sind selbstbewußt handelnde Subjekte, die in ihrem (erkrankten) Gegenüber ebenfalls das Subjekt erkennen und respektieren.


Paradigmenwechsel

Bereits in den frühen 60er Jahren wurde der (damals ärztlich dominierten) Komplementäronkologie von Rechtsmedizinern wie Oepen und Bleuler der Vorwurf des "autistisch-undisziplinierten Denkens" und der "Polypragmasie" gemacht. Die Pioniere einer ganzheitlichen Onkologie wie Issels, Windstosser, Hoepke und andere wurden diskriminiert und teilweise mit straf- und zivilrechtlichen Prozessen überzogen. Issels gar sah sich zur Flucht in die USA gezwungen, um sein Ganzheitskonzept weiterführen zu können. Heute, kurz vor dem Milleniumwechsel und in einer Dekade des sich abzeichnenden Paradigmenwechsels in Medizin und Naturwissenschaft, in der die Kybernetik dabei ist, überholte monotheistische Denk- und Handlungsmodelle abzulösen, ist der Begriff der Polypragmasie schon fast ein Lob für ein vielschichtiges Denken und Handeln (unter anderem bei Krebs) geworden. Die alten Vorstellungen vom ehernen Ursache-Wirkungs-Prinzip beginnen zu bröckeln, und nur noch in wenigen Bereichen der Naturwissenschaft und Medizin wird die Monokausalität als Gesetz durch immer schwächer werdende Arme emporgehalten. Man beginnt zu verstehen, daß (nicht nur) das Biosystem Mensch eine hochkomplizierte und weit vernetzte, mehrdimensionale Realität besitzt. Wir verstehen heute viel mehr von diesen Vernetzungen, wenn wir auch nur noch immer einen kleinen Ausschnitt aus dem Realen erfassen, messen und belegen können. Entgegen alter Auffassungen, daß der Mensch eine kalkulier- und berechenbare "Input-Output-Maschine" sei, ist man heute zunehmend zum Blick "über den Tellerrand" fähig. Und dennoch ist im Themenrahmen Krebs, vermutlich angesichts einer therapeutischen Verzweiflung, das monokausale Handlungskonzept gang und gäbe. Da wird weiterhin (in der klinischen Onkologie) blind und unreflektiert das Tumorzell-Zerstörungskonzept mit Krebsheilung verwechselt und in der Naturheilkunde nach dem Motto "das Karma wird´s schon richten" gehandelt.

Konsequenzen für unseren Berufsstand

Einfluß zu nehmen auf den Sektor der onkologischen Forschung, Lehre und Klinik, ist uns nicht möglich. Was wir allerdings vermögen (und dies ist aus meiner Sicht als ein Zeichen der Zeit zu verstehen), ist eine kritische Reflexion unseres traditionellen Denkens und Handelns angesichts der Herausforderung durch die noch immer unheilbare Krankheit Krebs. Wir betreiben Medizin, und Medizin ist eine Naturwissenschaft, oder sie ist es nicht. Aus diesem Grunde sind wir als Heilpraktiker dazu verpflichtet, unsere Handlungen an naturwissenschaftlichen Basiskonzepten auszurichten. Wir unterstehen in der Be-Handlung von kranken Menschen, insbesondere im Themenrahmen von als inkurabel postulierten Krankheiten, einer hohen Verantwortung gegenüber den Betroffenen, der Gesellschaft und gegenüber unserem Berufsstand. Hierbei haben wir die Grundgesetze der Naturwissenschaft als ebenso richtungsweisend zu respektieren, wie die Grundgesetze der Ethik und der Erfahrungsheilkunde, ohne sie allerdings als uns dominierende Dogmen zu übernehmen. Wir sind in der Lage, und wir sind verpflichtet, Brücken zu schlagen zwischen extremen Standpunkten in der Naturwissenschaft und der Medizin. Dabei dürfen wir unsere Fachproblematik nicht von den uns umgebenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Problemen abtrennen, sondern müssen hier integrativ wirken und bewußt handeln.

In diesem Kontext bedürfen wir einer verbesserten Transparenz und einer Qualitätssicherung, die wir nicht von außen bekommen können, sondern durch unsere eigenen -persönlichen-Bemühungen und Leistungen anstreben müssen. Dabei sind unsere Berufsverbände gefordert, sich alter und scheinbar bewährter Gedanken- und Handlungskorsetts zu entledigen. Die Einrichtung von Fachgremien wie fachlichen Konsensuskonferenzen und berufseigenen Ethikkommissionen sind überfällig, ebenso wie berufsgruppenübergreifende Gremien zum Erfahrungs- und Wissenstransfer in besonders problematischen Themenbereichen. Dabei müssen wir in der Kollegenschaft unsere Berufsverbände hierzu anregen. Solche Bemühungen dürfen nicht daran scheitern, daß sich die Verbände und Arbeitskreise mit Blick auf die eigenen Mitgliederzahlen befehden, statt sich zu beflügeln.

Die Forderung der Gesundheitsministerkonferenzen nach einer Verbesserung von Transparenz und Qualität heilpraktischen Tuns steht im Raum. Niemand kommt hier darum herum, sich diesbezüglich Gedanken zu machen, zu äußern und Veränderungen zu beginnen. Dabei geht es nicht um leidige und unwirksame Positiv-Negativ-Listen, die sich in der Ärzteschaft gerade nach ihrer Einführung bereits auf den Müllhaufen der Geschichte zubewegen. Es geht primär um unsere Handlungsmoral!

Was tue ich und warum?

Welche Grundlagen meines Denkens und Handelns bewegen mich, und wie sind diese Grundlagen auf der Basis des heutigen allgemeinen Wissens- und Kenntnisstandes legitimiert?

Kann ich meine Handlungen begründen und meinen Patienten und ggf. auch einem Naturwissenschaftler gegenüber verständlich ausführen?

Würde ich meine Kinder, meinen Ehepartner und mich selbst so behandeln wie ich meine Patienten behandle? Wo könnte ich irren?

Wo mangelt es mir an Kenntnissen und Begründungen für mein Tun und wo kann ich lernen?

Die Beantwortung dieser Fragen und die daraus resultierenden Veränderungen in meinem Handeln erscheinen mir mehr Qualitätssicherung und Transparenz als kollegiale und/oder berufsübergreifende Prüfungsgremien zu erreichen in der Lage wären. Sie könnten (nach meinem Dafürhalten) erste Schritte zu einer Professionalisierung unseres Berufsstandes darstellen.

Daß wir uns hier bewegen müssen, steht außer Frage. Daß diese Bewegung nur eine gemeinsame sein kann, sofern sie effektiv sein will, liegt in der Natur der Sache. Daß diese Gemeinsamkeit auf den Schultern jedes Einzelnen ruht, sollte allen klar sein.

Wir können uns angesichts der vor uns liegenden Herausforderungen heute nicht mehr auf unseren traditionellen Lorbeeren ausruhen, die Zeit ist eindeutig vorbei. Die bequeme (und falsche!) "alte Weisheit" unseres Berufsstandes vom "wer heilt, hat recht..." oder die lapidare Einschätzung "der Therapeut ist der Impuls, die Natur wird´s dann schon heilen..." ist Spiegel eines alten und überholten Dogmas, welches uns in beschaulicher Selbstherrlichkeit lange hat überleben lassen. Heute sind wir gefordert, uns in die Kommunikation mit einer sich öffnenden und nach Diskussionspartnern suchenden kybernetischen Welt- und Menschensicht (Naturwissenschaft) einzulassen. Der Mensch ist ein beständig lernendes Wesen, warum sollte der Berufsstand der Heilpraktiker hiervon unberührt bleiben?

Wir müssen mit Traditionen brechen, sie zumindest grundlegend in Frage stellen. Dies bezieht sich nicht nur auf unsere Grundansichten zu Krankheit und Gesundheit, es betrifft auch unser berufspolitisches Miteinander. Graben- und Flügelkämpfe um Mitgliederzahlen, Macht, Einfluß und persönlicher Erfolg sind Parameter eines kranken Systems auch innerhalb einer Berufsgruppierung. Wir benötigen Gradlinigkeit, Klarheit, Ehrlichkeit und Intelligenz, die dann auch den Erfolg und den Einfluß (in der Folge!) mit sich bringen und gerechter Lohn sein können. Besinnen wir uns darauf, was uns zur Handlung motiviert und legitimiert: das Leid kranker Menschen und deren legitimer Anspruch auf eine transparente und hochqualifizierte ethische Ganzheitsmedizin.

Anschrift des Verfassers:
Manfred D.Kuno
Naturheilzentrum Mommenstrasse
Mommsenstr.55
D-10629 Berlin



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Naturheilpraxis 08/99