Blätter für klassische Homöopathie

Samuel-Hahnemann-Lehrinstitut

von Werner Dingler

Fallbesprechung zur Hausaufgabe des AK 12 in Heidelberg

Im Folgenden wird ein Hausaufgaben-Fall des SHL Heidelberg aus dem Kurs "Die Besonderheiten der homöopathischen Therapie Geistes- und Gemütskranker" besprochen. Damit alle Leser den Fall nachvollziehen können, erfolgt zuerst die Falldarstellung. Er soll als Beispiel für den § 225 aus dem Organon dienen, in welchem Hahnemann, im Gegensatz zu § 215, eine umgekehrte Krankheitsentwicklung darstellt.

Schauen wir uns die beiden Paragraphen etwas genauer an:
"§ 215 Fast alle sogenannten Geistes- und Gemüths-Krankheiten sind nichts anderes als Körper-Krankheiten, bei denen das jeder (Krankheit) eigenthümliche Symptom der Geistes- und Gemüths-Verstimmung, sich unter Verminderung der Körper-Symptome (schneller oder langsamer) erhöhet und sich endlich bis zur auffallendsten Einseitigkeit, fast wie ein Local-Übel in die unsichtbar feinen Geistes- oder Gemüths-Organe versetzt."

"§ 225 Es gibt dagegen wie gesagt, allerdings einige wenige Gemüths-Krankheiten, welche nicht bloß aus Körper-Krankheiten dahin ausgeartet sind, sondern auf umgekehrtem Wege, bei geringer Kränklichkeit, vom Gemüthe aus, Anfang und Fortgang nehmen, durch anhaltenden Kummer, Kränkung, Aergerniß, Beleidigungen und große, häufige Veranlassungen zu Furcht und Schreck. Diese Art von Gemüthskrankheiten verderben dann oft mit der Zeit, auch den körperlichen Gesundheits-Zustand, in hohem Grade."

Der nun zu behandelnde Fall zeigt auf anschauliche Weise, wie anhaltender Kummer und wiederholte Schicksalsschläge zuerst die seelische und dann die körperliche Gesundheit eines Menschen nachhaltig aus dem Gleichgewicht bringen.

Fallbeispiel Diabetes mellitus, Depression:
Am 24. Februar 1995 wurde die 64 1/2jährige B.B. von der Tochter in die Praxis gebracht, da die Mutter sich total vernachlässigte und nicht mehr allein zurechtkam. Die Tochter erzählte Folgendes: Die Mutter kümmere sich um nichts mehr, sie verwahrlose total. Sie gehe nicht einkaufen, koche sich nichts, esse nicht oder esse verdorbene Speisen, halte die Diabetes-Diät nicht ein, nehme keine Euglucon-Tabletten, räume nicht auf, putze und wasche nichts. Sie gehe mit der Kleidung schlafen oder wenn sie diese abends ausziehe (auf Aufforderung der Tochter) dann kleide sie sich am folgenden Morgen nicht mehr an. Sie gehe nicht mehr allein aus dem Haus, unternehme nichts von sich aus, sitze nur zu Hause herum. Tagsüber könne sie sich nicht um die Mutter kümmern, und ihre Geschwister kümmerten sich überhaupt nicht um sie. Wenn sie die Mutter dann abends besuche, sitze diese im Dunkeln. Falls sie mal erst nach zwei Tagen nach ihr sähe, sei die Wohnung in katastrophalem Zustand. Sie müsse, ob sie wolle oder nicht, die Mutter in die Alterspsychiatrie geben. Bei diesem Ausspruch weinte die Tochter. "Sehen sie", sagte die bis dahin völlig stumm sitzende und ernst blickende Mutter, "das ist mein Problem: Ich kann nicht weinen, aber da drin steckt es" und zeigte mit dem Finger auf ihr Herz. Dann verstummte sie wieder, rutschte öfters nervös auf dem Stuhl hin und her, kratzte sich mal im Gesicht, mal an den Armen, fasste mit den Händen mal hier, mal dorthin und sagte auf meinen fragenden Blick, das komme von ihren Nerven. Das war der Hauptdialog, denn danach war die Frau wieder ganz stumm.

Darauf erzählte die Tochter wieder, dass die Mutter 1983 schon einmal in einem ähnlich schlechten Zustand gewesen sei, damals habe sie ein ganzes Jahr nur im Bett gelegen und sich um gar nichts mehr gekümmert. Nach monatelangem Aufenthalt in der Psychiatrie sei es ihr dann wieder gut gegangen, bis vor 2 1/2 Jahren. Seither gerate sie wieder in den damaligen Zustand. Im vergangenen halben Jahr sei die Mutter völlig apathisch gewesen. Davor habe sie diese noch mobilisieren können, und wenn sie dann mal in Gesellschaft gewesen sei, habe es ihr dort gefallen. Seit zwei Jahren habe die Mutter in erschwerender Weise noch einen Diabetes mellitus und in den letzten Wochen sei der Blutzucker oft über 300 mg%.

Die weiteren Symptome nun in Kurzform:
*Trockenheit der Haut.
*Juckreiz.
*Augen rot (injiziert).
*Rote Lidränder.
*Harninkontinenz (muss schon jahrelang Einlagen tragen, da beim Husten, Niesen, und schwerem Heben unkontrollierbar Urin abgeht).
*Urin roch streng, war auch im Raum wahrnehmbar.
*Schwerhörigkeit (schon 14 Jahre lang).

Zur Vorgeschichte erfuhr ich von der Tochter, dass ihre Mutter immer gesund gewesen sei und selten einen Arzt aufgesucht habe, obwohl sie zwischen 1952 und 1970 neun Kinder geboren habe, wovon sieben noch lebten. Die einzige Operation sei eine Kropfoperation im Jahr 1980 gewesen. Ein Kind sei nach der Geburt verstorben. Eine weitere Tochter sei mit 20 Jahren (1981) von ihrem Mann ermordet worden, was die ganze Familie, besonders aber die Mutter schwer belastet habe. Das sei ein Schock gewesen, worauf die Mutter depressiv geworden sei. Sie sei ein Jahr nicht mehr aus dem Bett aufgestanden und dann in die Psychiatrie gekommen. An dieser Stelle weinte die Tochter und die Mutter sagte zum zweiten Mal: "Wenn ich das nur könnte, dann ginge es mir besser." Die Mutter habe kein schönes Leben gehabt, sich aber nie beklagt.

Nach dem Aufenthalt in der Psychiatrie (1981) habe die Patientin wieder für sich und ihre Familie gesorgt, bis 1992 ihr Ehemann starb. Ab diesem Zeitpunkt wurde ihre seelische Verfassung instabiler und sie erkrankte an Diabetes.

Einige Monate später musste sie dann auch noch aus ihrer Wohnung, denn 1989 hatten sie und ihr Mann Geschäft und Wohnung mit Leibgeding (kostenloses Wohnrecht auf Lebenszeit) an eine Tochter und den Schwiegersohn abgegeben. Die Kinder hatten 1992 bankrott gemacht und waren ins Ausland geflohen. Sie hatten die Mutter mit allen Unannehmlichkeiten allein sitzen gelassen, und so verlor sie zwei Monate nach ihrem Mann auch noch die Wohnung. Ab da geriet sie dann in den totalen Verwahrlosungszustand, aß tagelang nichts mehr, heizte die Wohnung nicht mehr und lag nur noch im Bett. Deshalb, und weil weder der Hausarzt noch der Psychiater eine Besserung zustande gebracht hätten, hoffe die Tochter, dass ich der Mutter helfen könne.

Bis zum Besuch bei mir hatte die Patientin Euglucon, Clibenclamid, Anafranil und Risperdal eingenommen. (siehe Repertorisation nächste Seite) Folgende Symptome, welche zweifellos vorhanden und krankhaft waren, kommen in Betracht:
Hauptsymptome:
Haut trocken, Juckreiz, ungesunde Haut, rote Lidränder, Schwerhörigkeit, Struma, unwillkürliche Harnentleerung, Zucker im Urin (einziger Hinweis in Kents Repertorium auf Diabetes mellitus und deswegen als synonyme Rubrik in der Repertorisation verwendet).

Causa: Kummer und Beschwerden durch Kummer sind zweifelsohne die Auslöser für die Krankheit.
Die sonderlichen Symptome dieses Falles finden wir unter den Geistes- und Gemütssymptomen, insbesondere den stillen Kummer, ihre Unfähigkeit zu weinen, die stille Natur dieser Patientin und ihre völlige Teilnahmslosigkeit gegenüber allem.

Drei Heilmittel kommen in die engere Wahl:
1. Natrium muriaticum
2. Phosphoricum acidum
3. Sulfur

Natrium muriaticum ist bekannt als ausgezeichnete homöopathische Arznei gegen Kummer und dessen Folgen, besonders bei Patienten, die ihren Kummer nicht ausdrücken und v.a. nicht weinen können. Sie sind häufig sprachlos. Auch die Urininkontinenz beim Husten, Niesen und Heben schwerer Gegenstände ist ein Symptom, das unseren Blick auf dieses Medikament lenken muss.

Auch Phosphoricum acidum ist eine ausgesprochen wirksame homöopathische Arznei gegen Kummer und dessen Folgen. Wie bei Natrium muriaticum sprechen die Patienten nicht über ihren Kummer und sind überhaupt sehr still. Ihre Teilnahmslosigkeit ist noch ausgeprägter als bei Natrium-muriaticum-Patienten. Außerdem ist dieses Mittel auch bei Diabetes mellitus ganz besonders indiziert.

Die Symptome der Haut, das Aussehen der Patienten, überhaupt ihr ungepflegter Zustand, lenken unseren Blick auf Sulfur, das ein Hauptmittel bei der Behandlung chronisch Kranker ist und sich häufig auch in der geriatrischen Praxis bewährt hat, dort, wo Stoffwechselvorgänge nicht mehr in ausreichendem Maße stattfinden und es deshalb zu einer Autointoxikation kommt.

Aufgrund der ausgesprochenen Teilnahmslosigkeit der Patientin, entschied ich mich, mit Phosphoricum acidum die Therapie zu beginnen und wählte in diesem Falle der Einfachheit halber eine Einzeldosis in der Potenz C30. Diese bekam die Patientin am 25. Februar 1995 in der Praxis. Arznei Nummer 2 (Sulfur C30) und Nummer 3 (Natrium muriaticum C30) als Reihenfolge für die Einnahme gab ich der Tochter mit der Anweisung mit, diese in Absprache mit mir der Mutter zu geben.

Nach drei Wochen, als es der Patientin bereits etwas besser ging, gab die Tochter in Rücksprache mit mir eine Dosis Sulfur C30. 2 1/2 Monate später telefonierte sie mit mir und berichtete, dass es ihrer Mutter nicht mehr so gut gehe, wie nach Phosphoricum acidum. Die Tochter erzählte mir jetzt, dass die Mutter nach der Einnahme von Phosphoricum acidum munterer gewesen wäre, mehr gesprochen habe und wieder am Leben teilgenommen habe, was sich inzwischen wieder mehr zum ursprünglich negativen Zustand entwickelt habe. Sie sei inzwischen wieder sehr wortkarg und teilnahmslos. Zumindest habe sich ihr Hautbild deutlich verbessert. Wie ist dieser Umstand zu erklären und wie sollte nun weiter gehandelt werden?

Sulfur war in diesem Falle oder zumindest in dem Zeitpunkt der Einnahme nicht das richtige Mittel. Vielmehr hätte bei begonnener Besserung abgewartet werden müssen bis eine Zustandsverschlechterung oder eine Stagnation der Besserung eingetreten wäre. Erst dann wäre eine erneute Dosis des dann indizierten Mittels - je nach den vorhandenen Symptomen - erlaubt gewesen. Da der jetzige Zustand dem ursprünglichen sehr ähnlich war, auf welchen Phosphoricum acidum günstig eingewirkt hatte, entschied ich mich, ihr abermals dieses Mittel, jedoch in einer höheren Potenz, nämlich C200 einzugeben. Etwa drei Wochen später erfuhr ich, dass es der Patientin nun wieder besser gehe.

Nach weiteren vier Wochen kam ein Anruf der Tochter, in welchem sie mir berichtete, dass ihre Mutter bereits eine Woche nach der Einnahme deutlich munterer und gesprächiger wurde. Es folgte nun eine sehr gute Zeit, so die Tochter. Die Mutter wurde lebendig und gesprächiger, sie fragte, ob sie ihrer Tochter im Haushalt helfen könne, war tagsüber gerne bei ihr, doch abends wollte sie in ihre Wohnung zum Schlafen. Seit einer Woche sei dieser positive Zustand aber wieder gekippt und zwar ab dem Zeitpunkt, als sie vom Arzt die Mitteilung erhielt, dass ihr Platz im Alterspsychiatrie-Heim frei geworden sei. Der Arzt meinte zwar, der momentane Zustand erfordere eine solche Maßnahme nicht, doch wenn sie den Platz jetzt nicht in Anspruch nähme, werde er wieder vergeben. Und sollte die Besserung nicht anhalten und ein solcher Platz wieder notwendig werden, müsste sie wieder auf die Warteliste. Dies bekümmerte die Mutter erneut, so dass der positive Effekt wieder verschwand. Tochter und Mutter teilten mit, dass sie nicht wüssten, wie sie sich entscheiden sollten. Die Mutter lag nun viele Stunden schlaflos in ihrem Bett und grübelte darüber, was sie tun sollte. In diesem Zustand gab ich ihr eine Dosis des Medikaments Nummer 3 (Natrium muriaticum C30).

Knapp zwei Monate später erfuhr ich von der Tochter, dass die Mutter sich entschieden hätte zu Hause zu bleiben und dass es ihr inzwischen wieder sehr gut ginge. Sie sei wieder viel offener, könne wieder lachen und weinen und nehme Anteil am Leben. Sie äußere ihre Wünsche, rede mit anderen Leuten, koche wieder für sich, gehe in der Natur spazieren und freue sich über Blumen am Wegrand. Außerdem äußere sie nun ihre Gefühle, was sie lange nicht mehr gekonnt habe. Unter diesen Umständen war eine weitere Gabe nicht indiziert.

Nach einem 3/4 Jahr meldete sich die Tochter erneut und berichtete mir, dass ihre Mutter sich bis vor einer Woche selbst versorgt, Freunde besucht habe und in einem guten Zustand gewesen sei. Nun beginne sie jedoch sich wieder zu vernachlässigen.

Hieran sehen wir, wie das zuletzt gegebene Medikament, obwohl nur in C30 verabreicht, eine so lange Zeit positiv gewirkt hatte, nun aber eine erneute Dosis notwendig wurde. Diese bekam die Patientin in einer Dosis C200 desselben Mittels, da keine Symptomveränderung für einen Mittelwechsel sprach. Danach stabilisierte sich der Zustand der Patientin wieder bis zum heutigen Tage. Selbst der BZ stabilisierte sich und bewegte sich, allerdings unter der regelmäßigen Euglucon- oder Clibenclamiddosis, zwischen 120 - 150 mg%.

Anschrift des Verfassers:
Werner Dingler
Schottenstr. 75
78462 Konstanz

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Naturheilpraxis 04/99