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Autonomie entwickeln
oder: Wie Sie Ihre eigenen Wert-Maßstäbe setzen und durchsetzen können. (Für Edith)

von Hans-Peter Kuhl

Visionen

"Sprich mit dem König in Dir, und er wird hervorkommen." Dieses norwegische Sprichwort lenkt unsere Aufmerksamkeit nach innen und weist uns den Weg zur Entdeckung königlicher Würde in uns selbst. Folgen wir dem Rat des Sprichwortes, so geht es uns vielleicht wie dem australischen Maler Henri Hunsinger. Sein König taucht als Marionette auf, total abhängig.

Wie Sie die entsch(n)eidenden Maßnahmen treffen können, die Ihren eigenen inneren König, beziehungsweise Ihre Königin, erfolgreich hervorrufen, wiederbeleben und befreien können, das möchte ich Ihnen im folgenden Text aufzeigen.

Das Problem und seine Symptome

"Es geschieht mir gegen meinen Willen." Zuerst ist "Es" nur unangenehm. Es tritt wiederholt auf. Ich fühle mich dem Es hilflos und ohnmächtig ausgeliefert. Alle Versuche, Es zu bekämpfen, führen zum Scheitern und zu Bestrafung und Selbstzerstörung. Alle Versuche, davor wegzulaufen oder seine Existenz zu leugnen, enden in der Erkenntnis tiefster Abhängigkeit. Apathie und Sinnlosigkeit breiten sich aus, ich verliere jede Hoffnung.

Die Diagnose

In dem Es erkenne ich durch die wiederholte Erfahrung die Funktion eines Richters.

Es ist als ob Es mich irgendwann früher einmal in der dunklen Vorzeit meines Unbewußten verurteilt hätte. Ich hatte fortan mein Recht auf Zugehörigkeit und Geliebtwerden verloren. Ich war ausgestoßen, "reject", verbannt und sehr einsam.

Jeder Versuch, das Urteil zu leugnen oder zu bekämpfen, jeder Fluchtversuch wurden mit verschärften Bedingungen geahndet. Streß, Scham, Schuld, Angst, Depression, Sucht und Krankheit und Hilflosigkeit waren meine Strafen.

Manchmal hatte ich sogar den Eindruck, Es verlange von mir auch noch, dieses Urteil und die aufgebürdeten Strafen nicht nur geduldig zu ertragen, nein ich sollte dafür auch noch dankbar sein. Diese demütigende Verletzung meines Stolzes und die Aberkennung meiner Würde schmerzten mich noch viel tiefer als all die Strafen.

Die Behandlung

Setzen sie dem Richter in Ihnen neue Richtwerte! Ein Richter muß sich den Gesetzen gegenüber verantworten. Und die Gesetze sowie die Regeln, wie mit den Gesetzen umgegangen werden soll, werden in unserer Kultur vom Parlament und damit letztlich vom Volk, von jedem einzelnen von uns festgeschrieben.

Gehen wir davon aus, daß die Ausübung der Macht in unserer Innenwelt bis zum Zeitpunkt unseres Erwachsenwerdens sich an fremden Maßstäben orientiert, so gilt es nunmehr, eigene Maßstäbe zu entwickeln.

Autonomie, die Fähigkeit, die eigenen Wertmaßstäbe zu leben, kommt aus dem Griechischen und bedeutet freiwillige "Eigengesetzlichkeit". Simon (1988) definiert diesen Begriff als die Fähigkeit, sich eigene Ziele zu setzen, die sich aus den Gesetzen der inneren Struktur ergeben. Ein Handeln, das sich "rekursiv" auf diese inneren Gesetze bezieht, besitzt die Fähigkeit, sich zu öffnen und zu schließen und sich damit aktiv und flexibel gegen die Umwelt abzugrenzen. Damit erzeugt der Mensch die Balance aller Kräfte und seinen Eigen-Wert. Er aktiviert seine Selbstheilungskräfte (Immunität), stabilisiert seine Ausgeglichenheit und seinen Selbstwert und optimiert den Prozeß seiner kreativen Entwicklung.

Heteronomie, die Ausrichtung nach fremden Maßstäben, egal ob sich diese in Gehorsam oder Rebellion ausdrückt, führt zu Selbstentfremdung, Verlassenheit, Abhängigkeit und Krankheit.

Das Rezept:

1. Finden Sie das Symbol für Ihren eigenen obersten Wertmaßstab.
Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit nach innen, und setzen Sie einen inneren Suchprozeß in Gang. Sie werden spüren können, wenn Sie den richtigen gefunden haben.

Holen Sie sich eventuell erfahrene oder fachkundige Hilfe bei Ihrer Suche. Unsere Kultur hat als allgemeines Symbol für den obersten Richtwert das Bild der "Justitia" entwickelt. Die "Gerechtigkeit" wird dargestellt als eine Göttin mit verbundenen Augen. Mit ihrer Augenbinde weist sie darauf hin, daß das Wesentliche für die Augen unsichtbar bleibt, man muß es mit dem Herzen suchen. In der linken Hand hält sie eine Waage als Symbol für die ausgewogene Balance, die Ausgeglichenheit. In der rechten Hand trägt sie ein aufgerichtetes, blankes Schwert als Zeichen für ihre Entscheidungsbereitschaft.

2. Stellen Sie Ihren neu gewonnenen Maßstab in den Mittelpunkt Ihres Lebens.
Er soll Ihnen von nun an als oberster Richtwert dienen. Er ist Zentrum Ihrer Orientierung und Ausgangspunkt Ihrer Handlungen.

3. Beauftragen Sie den "Geschichtsschreiber" in Ihnen, mit diesem neuen Wertmaßstab in Ihre Lebensgeschichte zurückzugehen und alle Ihre Erfahrungen aus der Vergangenheit damit neu zu vermessen und zu bewerten.


Gehen sie sehr sorgfältig vor und lassen Sie sich all die Zeit, die Sie brauchen. Gehen Sie Schritt für Schritt zurück, schauen sie sich alles ganz genau an, hören Sie genau hin, und spüren Sie, was sich angesichts des neuen Maßstabes verändert. Sie brauchen nichts zu tun, nur messen und wahrnehmen was geschieht.

Gehen Sie ganz zurück bis an den Anfang - und gehen Sie dann auch darüber hinaus. Denken Sie dabei daran, daß jede Erfahrung und jedes Ding seine Bedeutung hat, die weit über dieselbe hinausgeht.

4. Beauftragen Sie nun den "Architekten" in Ihnen, mit Ihrem neuen Wertmaßstab Ihre eigene Zukunft zu entwerfen.

Beachten Sie dabei, sich ein schützendes und nährendes Umfeld und Klima zu schaffen, daß Ihre persönliche Weiterentwicklung bestens fördert. Gestalten sie es nicht zu groß und auch nicht zu klein, gerade "angemessen" auf ihren persönlichen Bedarf. Lassen Sie sich auch genügend Platz für die Verwirklichung Ihrer Visionen und Sehnsüchte.

5. Ihre Erfahrungen der Neu-Bewertung Ihrer Vergangenheit und Ihrer Zukunft lassen Sie nun einfließen in jede Ihrer Körperzellen.

Erlauben Sie sich, all den "alten Mist" herausspülen zu lassen, der durch fremde Maßstäbe entstanden war. Stellen Sie sich vor, ein Fluß klaren Wassers würde alle alten Rückstände lösen und jede Zelle von Grund auf reinigen und erfrischen - wie in der Geschichte vom Herkules, der die Pferdeställe des Augias ausmistete, indem er einen Fluß durch diese hindurch leitete.

Vielleicht ist es auch hilfreich, sich zu erinnern, daß "alter Mist" auch zu "neuem Dünger" werden kann, wenn man ihn kompostiert.

Und nun lassen Sie jede Zelle Ihres Körpers satt werden, sich volltanken mit Ihren eigenen Werten.

In unserer Kultur wird als der Grundwert aller Werte die Würde angesehen. Erfahren Sie, was das für Sie bedeutet, wenn Sie Ihre Vergangenheit, Ihre Zukunft und Ihre Entwicklungspotentiale würdigen und wertschätzen.

Erfahren Sie und genießen Sie. Staunen Sie, wie jede einzelne Zelle ihre ursprüngliche Strahlung wiedergewinnt.

Staunen Sie, wie Sie als ganze Person neu aufstrahlen.

6. Seien Sie neugierig darauf, was diese Veränderung bei Ihnen bewirkt.
Wie können Sie selbst Ihre neue Würde genießen lernen? Woran werden Sie die Besserung Ihres körperlichen Befindens erkennen? Woran werden Sie merken, daß sich ihr Wohlbefinden nachhaltig verbessert?
Fragen Sie sich ruhig auch einmal, woran andere Menschen Ihre neue Autonomie erkennen werden.

Werden Sie nun auch andere Menschen verstärkt wertschätzen und würdigen?
Woran werden Sie merken, daß andere das merken?

7. Üben Sie sich in der Anwendung.
Sie müssen üben, üben, üben! - denn "Übung macht den Meister".

Die Qualitätssicherung

Haben Sie daran gedacht, daß es Freude machen kann, zu wissen, was man will, und es dann auch in die Wirklichkeit erfolgreich umsetzen zu können?

Haben Sie daran gedacht, daß es nützlich sein kann, sich auch neue Freunde zu suchen, die Sie auf Ihrem neuen Weg begleiten und hilfreich unterstützen, und die Sie immer wieder ermutigen, sich weiter zu entwickeln?

Lernen, wie man/frau lernt

Wir lernen, indem wir Dinge tun. Gemeinsam Dinge tun, verbessert unser Lernen und verankert das Gelernte effektiver und nachhaltiger in der eigenen Lebenspraxis. Wir lernen immer schneller, weil wir uns gegenseitig in unseren Lernprozessen bestärken.

Wir lernen, wie man/frau lernt. Außerdem macht es viel mehr Spaß, sich miteinander weiterzuentwickeln.

Autonomie lernen bedeutet für mich, eine selbstverantwortliche Lebensführung entwickeln. Das Beste in sich selbst und in anderen wecken, neue Qualitäten, Fähigkeiten und geistige Potentiale fördern und weiterentwickeln und schließlich erfolgreich zum Ausdruck bringen, das nenne ich die: "flow." -Strategie zur Entwicklung der "Human Ressources" (Kuhl, 1998). Weiterhin geht es darum, sich selber treu zu bleiben, seinem Leben Lebendigkeit und Qualität zu geben, um schließlich in der Erfahrung seines ganzen Seins "Nach-Hause-zu-kommen".

Dann sagen die Menschen von sich: "Ich bin mit mir zufrieden. Weil es mir gelingt, mein Leben sinnvoll zu gestalten, fühle ich mich glücklich. In meinen Erfolgen finde ich mich wieder."

Bedeutungszusammenhänge

Von überlebenswichtiger Bedeutung ist es auf der körperlichen Ebene, die eigene Bewegung wahrnehmen zu können (Propriozeption). Mit der Eigenwahrnehmung stellt der Körper auf unbewußter Ebene den Zusammenhang her zwischen Anfang und Ende einer Erfahrung und schafft damit die Grundlage für die Entwicklung einer bewußten Steuerung seiner Eigenbewegungen - und das gibt Selbstsicherheit.

Dem entsprechend ist der eigene Wertmaßstab auf der seelischen Ebene von zentraler Bedeutung. Mit der Eigenbewertung stellt der Mensch den Zusammenhang von Ursprung und Ziel seines Lebens her und wird damit zum Mitschöpfer seiner Identität.

Durch seine bewußte Rückbindung (Re-ligio) in übergeordnete Zusammenhänge, zum Beispiel indem er seinen Platz und seine Aufgabe innerhalb der sozialen Gemeinschaft einnimmt, beginnt der Mensch, sein Leben als einen kreativen Entwicklungsprozeß zu begreifen und für seinen Anteil daran Verantwortung zu übernehmen. Wachsendes Selbstvertrauen stellt sich als Erfolg ein.

Auf der geistigen Ebene gewinnt der Mensch Selbsterkenntnis. Er wird sich des Zusammenhanges von Wollen, das heißt seiner planenden Absicht, und dem Resultat seiner Handlung, seinem Verhalten und dessen Wirkung bewußt. Damit schafft er sich die Grundlage zur Veränderung seiner inneren Strukturen. Insbesondere kann es ihm nun gelingen, seine eigene "Qualitätssicherungs"-Strategie zu entwickeln. Die eigene Strategie ist wie ein Schlüssel, mit dem der Mensch sein Wollen und Handeln in Einklang bringen und die Tür öffnen kann zur Nutzung seiner "Human Ressources".

Freude, ein tieferes Selbstgefühl, die Erkenntnis von Sinn und schließlich Zufriedenheit sind der Dank unserer Bemühungen.

Literaturhinweise
Simon, F. B. (1988). Unterschiede, die Unterschiede machen. Klinische Epistemologie: Grundlage einer systemischen Psychiatrie und Psychosomatik. Berlin: Springer-Verlag.

Kuhl, H.-P. (1998). Human Ressources. Das Mögliche verwirklichen. Das flow.-Konzept zur Entwicklung der geistigen Potentiale. Naturheilpraxis 11/98, S. 1787 - 1792.

Anschrift des Verfassers:
Hans-Peter Kuhl
Dipl.-Psychologe, BDP
Uhthoffstr. 48
28757 Bremen

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Naturheilpraxis 03/99