Grundannahmen der Naturheilkunde

Die fehlende Pathologie der Naturheilkunde

von Christoph Kunke

Auf den ersten Blick, und so wird es ja von vielen Interessengruppen formuliert, erscheint der Unterschied zwischen dem Schulmediziner und dem naturheilkundlich angehauchten Kollegen so völlig unterschiedlich zu sein, daß sie sich das immer wieder um die Ohren hauen müssen. Auf der einen Seite der Schulmediziner, der für jede einzelne Erkrankung das Spezifikum sucht, der den feinen zellulären Mechanismus z. B. des eingedrungenen Bakteriums und die Reaktion des Wirtes untersucht und aus den biochemischen Wechselbeziehungen heraus ein neues, sehr speziell in die komplizierten Verläufe des Körpers eingreifendes Medikament entwickelt. Schon diese Jagd nach dem Spezifikum, und recht betrachtet ist dies bei allen Stoffgruppen die eigentliche Unternehmung, ist ein Irrweg an sich. Mit isoliert wirkenden Mitteln wird man nie komplexe Krankheiten behandeln können. Hier wird der Schulmediziner einwenden, daß er das ja auch gar nicht wolle und hält entgegen, daß, wenn die Hauptsache (durch das isoliert wirkende Medikament) bewältigt wurde, der Körper dann von selber seinen Weg und die Heilung finden wird. Auch dies ist ein Irrtum. Die Tatsache, daß es nicht wenige depressionsfreie Menschen gibt, die ernstlich krank sind, ohne daß sie einen klinisch greifbaren Befund hätten, beweist dies. Dies kann mit Spezifika nicht mehr angegangen werden. Plötzlich dämmert auch dem eingefleischtesten Schulmediziner die Notwendigkeit, auf Allgemeintherapeutisches, Roborierendes, Anstoßendes, Umstimmendes balneologisch, diätetisch etc. zu installieren. Daß es aber diesem Gebiet der allgemeinen Regulationstherapie und dem der Behandlung mit einem Spezifikum an einer gemeinsamen, schlüssigen, umfassenden Beschreibung ermangelt: das ist das grundsätzliche Leiden unserer westlichen Medizin. Wer einseitig endetail forscht, dies aber versäumt in einen operativen Zusammenhang mit allen anderen Maßnahmen zu stellen, gerät zwingend auf Abwege.

Zu Grunde liegt das uns bekannte System der Zellularpathologie. Zunächst einmal erscheint es nur wie eine atmosphärische Kritik, daß man nämlich bei Befindensstörungen, und das ist es ja, was der Praktiker häufig sieht, nicht mit "Kanonen auf Spatzen" schießen soll, also die Kritik der Unangemessenheit des Eingriffs. Im Grunde genommen aber ist es mehr, als nur ein Unbehagen mit dem Apparat der Medizin, der Apparatemedizin, mit der Medizin des Mechanischen. Der naturheilkundlich angehauchte Kollege setzt im Gegensatz zum Spezifikum auf Regulation, auf Impuls, auf chronobiologische Maßnahmen. Die alten humoralpathologischen Begriffe wie Ausleitung, Kräftigung, Herbeiführen von Schwitzen oder Erbrechen, Entgiftung - das sind die Schlüsselworte, die er im Munde führt. Das therapeutische Instrumentarium, um dies zu bewerkstelligen sind z.B. die Kneipp`schen Anwendungen, diätetische Umstellungen, veränderte Lebensgewohnheiten im Sinne einer Ordnungstherapie aber auch spezifische Maßnahmen mittels homöopathischer oder phytotherapeutischer Präparate.

An der Oberfläche scheint das Vorgehen des einen und des anderen sich völlig zu unterscheiden. Der Grund dafür, daß die Schulmediziner so herablassend auf die "Barfuß-Doktoren" heruntergucken, ist aber ein ganz anderer: sie spüren, sie wissen, daß hier überhaupt ein Vabanquespiel betrieben wird. Er unterstellt, daß der naturheilkundlich tätige Kollege, im Grunde ein konvertierter Schulmediziner ist, der in seinem Kopf die alten Pathomechanismen der Zellularpathologie aufbewahrt hat und sie immer wieder reklamiert um Geschehen "eigentlich" zu erklären und darauf einige methodische, aber nicht wirklich andersartige, therapeutische Betrachtungen gesetzt hat. Da hat nun der Schulmediziner recht, und solange diesem berufsmäßigen Skeptiker kein schlüssiges, logisches, überprüfbares Konzept vorgelegt wird sagt er: es fehlt der Naturheilkunde eine eigenständige Pathologie!

1) "Traditionelle Chinesische Medizin", Falken-Verlag, 1997

Anschrift des Verfassers:
Dr. med. Christoph Kunkel
Marktstraße 24
36037 Fulda

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Naturheilpraxis 03/99