Teil II
Ein Beitrag von Christian Heimüller
„Was kann man denn im Auge alles sehen?“ Sicherlich kennen Sie als Augendiagnostiker diese Frage. „Viel zu viel!“, wäre eine angemessene Antwort, denn in der Iris spiegelt sich ein Sammelsurium von Einflüssen wieder – förmlich eine Art Schauhaus der Gebrechen und Beschwerden aller Vorfahren vom Ausmaß wahrhaft biblischer Dimensionen – sozusagen bis hinein „ins siebte Glied“.
Was ist eine Konstitution?
„Eine Konstitution ist die angeborene körperlich-seelisch-geistige Gesamtverfassung des Menschen.“
„Die iridologische Individualkonstitution wird bestimmt aus der Grundkonstitution, die modifiziert wird durch Dispositionen und Diathesen. Sie erfasst den iridologisch individuellen Menschen im Hinblick auf seine typische Erkrankungsbereitschaft: Grundkonstitution + Disposition(en) + Diathese(n) = Individualkonstitution.“
Wir finden in diesen Definitionen durchaus Fragwürdiges:
Die Konstitution sei eine angeborene Gesamtverfassung des Menschen, und andererseits subsummiert man darin Diathesen, welche nicht sämtlich angeboren sein müssen (wie z. B. die Übersäuerungsdiathese).
Man postuliert eine „Grundkonstitution“, welche sich ergibt, wenn man von der (einzig in der Wirklichkeit feststellbaren) „Individualkonstitution“ die „modifizierenden“ Dispositionen und Diathesen wegdividiert. Wie schon im ersten Teil des Artikels dargestellt (siehe NHP 01/2017) finden wir häufig Menschen mit lymphatischer Iriskonstitution und Übersäuerungsdiathese, welche einen „hitzigen“ Reaktionstypus präsentieren, der traditionell eher der Mischkonstitution zugeschrieben wird. Zieht man von der „real existierenden“ cholerischen „Individualkonstitution“ die „Übersäuerungsdiathese“ ab, so erhält man als Ergebnis jedoch nicht die lymphatische „Grundkonstitution“, sondern immer noch einen cholerischen Leber-Galle-Reaktionstypus im Sinne der Mischkonstitution: Die Gleichung geht also nicht auf. Dasselbe gilt zum Beispiel auch bei der Misch-(Grund-)Konstitution mit lipämischer Diathese: Der „cholerische“ Leber-Galle-Reaktionstypus der Mischkonstitution kann bei Auftreten eines Arcus lipoides nicht mehr als „hitzig“ gelten, denn die nun zu „kalte“ Leber impliziert alle Facetten eines Melancholikers, der traditionell eher der hämatogenen Iris-(Grund-)Konstitution zugeschrieben würde.
Was ist nun eine Konstitution tatsächlich? Die Konstitution – wie jede andere Klasse von Erscheinungen, zusammengefasst anhand gemeinsamer Merkmale, existiert nicht in der Wirklichkeit: Es gibt „dort draußen“ nur eine unendliche Fülle phänomenologischer Mannigfaltigkeit, deren Unterscheidbarkeit nicht in den Manifestationen selbst, sondern nur in der Willkür unserer Betrachtung und der Zufälligkeit unseres Standpunktes liegt. Strukturell-anatomische Gegebenheiten als Begründung für unsere drei Grundkonstitutionen führen in denselben diagnostischen Nihilismus wie beispielsweise der Versuch, alle Arten von hinkendem Gang aufzuzählen, um das Phänomen des „Hinkens“ zu klassifizieren: Will man „Hinken“ definieren, benennt man am besten die Veranlassung des Hinkens, anstatt alle seine möglichen Manifestationsformen zu beschreiben. Die „Alten“ (z. B. Alchymisten, Humoralpathologen) betrachteten die Wirklichkeit, als ob nicht das Phänomen am Anfang der Anschauung stünde, sondern dessen Notwendigkeit: Zuerst kommt das Bedürfnis nach einer Funktion, dieses schafft sich dann seine Funktion, und erst die Funktion schafft sich zuletzt das Organ als phänomenologischen Ausdruck im Stofflichen. In höchster Vollendung formuliert dies Wilhelm Pelikan in seiner „Heilpflanzenkunde“: „Nicht das vor den Augen erscheinende Gewordene, sondern das Werdende […]; nicht das Gebilde, sondern das Bildende; und nicht das im Entstehen schon Vergängliche, sondern das in ihm Dauernde, das Bildungsgesetz, die Verwandlungsform, das Urlebendige, Wesenhafte.“
Verfasser
Christian Heimüller, Heilpraktiker
Grünwalder Straße 225 b
81545 München
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Naturheilpraxis 05/2017