Portrait

Die Abkehr von der Natur macht krank

Ein Gespräch mit Pater Karl Geißinger

Das Benediktbeurer Rezeptar aus dem 13. Jahrhundert gehört zu den ältesten erhaltenen medizinischen Handschriften aus dem bayerischen Raum. Einzelne der 57 pflanzenheilkundlichen Rezepte darin sind sogar wesentlich älter. Im Kräutergarten am Meierhof des Klosters Benediktbeuern werden heute die meisten der 35 Pflanzen aus dem Rezeptar kultiviert. Der Schaugarten zeigt die Entwicklungsgeschichte der Pflanzen und ihre Systematik im Pflanzenreich auf. Pater Karl Geißinger, Rektor des Zentrums für Umwelt und Kultur im Kloster Benediktbeuern, gewährte uns einen Einblick in das Rezeptar und erklärte, wie die alte Gartenkultur heute umgesetzt wird.


Pater Geißinger, ist ein 765 Jahre altes Rezeptbuch nur noch von historischem Wert?

Das Besondere am Benediktbeurer Rezeptar ist, dass der Blick auf die Medizin ein sehr ganzheitlicher, umfassender ist. Es wird in den Rezepten nicht für eine Krankheit ein Mittel empfohlen und die Dosierung angegeben, und dann kann man die Krankheit heilen. Wenn man die Rezepte durchliest, bemerkt man Empfehlungen, dass der Mensch mit sich in Frieden, im Einklang mit der Natur und auch mit Gott leben soll, dass er ein geistiges Leben führen soll. Krankheit ist ein Ausdruck von einer Disharmonie im Menschen, die Harmonie muss wiederhergestellt werden – das steckt da eigentlich dahinter.
Die Pflanzen und Naturmaterialien dienen dazu, die Symptome zu lindern, aber die eigentliche Heilung, die muss der Mensch durch sein richtiges Verhalten selbst bewirken. Insofern ist es wohl ein ganz moderner Ansatz, den Menschen als Ganzes zu sehen, den dieses Rezeptar aus dem Jahr 1250 vermittelt, ein Denken, das die Naturheilkunde noch heute vertritt.

Welche Pflanzen aus dem Rezeptar kultivieren Sie heute im Meditationsgarten des Klosters?

Die meisten, aber nicht alle – z.B. die sehr giftigen Pflanzen wie Tollkirsche, Zaunrübe, Digitalis, die sollen nicht für Kinder zur Gefahr werden. Es finden sich auch Pflanzen, die generell typisch für Klostergärten sind wie Alant und Johanniskraut, und die alten Symbolpflanzen, im Besonderen die Marienpflanzen.

Haben Sie das Gefühl, dass das Interesse an Heilpflanzen wieder größer wird?

Ja, ich stelle auch fest, dass die Nachfrage nach Samen alter Pflanzen wie der Mariennelke oder Kornrade steigt. In den letzten 25 Jahren haben wir schon erlebt, dass Pflanzen jahrelang nicht zu beziehen waren und dann plötzlich wieder modern und in besonderen Zuchtformen angeboten wurden. Beispielsweise die Jungfer im Grünen, der Alant, die Mariendistel und Mariennelke, verschiedene Akeleien oder bestimmte Thymianarten, die typisch sind hier für die Bergregion. Unsere Gärten werden von allen Altersgruppen besucht, aber gerade bei Kindern rufen sie Begeisterung hervor, weil wir auch Pflanzen kultivieren, die für sie interessant sind, wie die Schokoladenblume, das Lakritzenkraut, die Gummibärchenpflanze, das Colakraut usw. Das setzen wir ganz gezielt ein, obwohl es nicht in die Tradition eines Klostergartens gehört.
Unser Anliegen ist es auch, Kinder für Gärten und Natur zu begeistern. Denn die Entfremdung von der Natur schreitet immer weiter, immer schneller fort. Aber die Abwendung von der Natur macht krank.





Elisa Gebhardt
gebhardt@pflaum.de



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Naturheilpraxis 5/2016