SPEZIAL

Frauenrollen, Heil(s)kunde und das alte China

Andreas Noll

Unsere Vorstellungen vom Menschenbild – also von dem, wie wir optimal zu sein haben – werden geprägt durch die Zeit und den Ort, in dem wir leben. Dazu gehören auch die Vorstellungen der Geschlechterrollen, die erst in den letzten Jahrzehnten tatsächlich diskutiert werden – und das auch „nur“ in den modernen Regionen der Welt. Milliarden Menschen leben in anderen Vorstellungen mit anderen lebensbestimmenden Ideen. Unsere Definition des „vollkommenen Menschen“ und somit vom idealen Mann / der idealen Frau wird und wurde immer von den Religionen und somit den Vorstellungen eines die Lebensspanne überschreitenden Heils bestimmt. Das beeinflusste auch die Heilkunde.


Vorstellungen bei den „alten Chinesen“

Im Osten ist vieles anders, aber nicht unbedingt besser. Wir neigen dazu, das Vergangene und Ferne zu glorifizieren – und ignorieren dabei gern die historischen Entwicklungen: Auch in China war nicht alles konstant – das China der Han-Dynastie (Zeitenwende) war anders als das zur Qing-Zeit (17.–20. Jh.). Wir würden ja auch nicht die byzantinische Gesellschaft mit der unsrigen vergleichen. Und: China ist groß – im Norden und Süden gab es z. B. häufig unterschiedliche Entwicklungen ... Wechseln Sie also die Sichtweise – es wird Ihren Horizont erweitern!

Das Problem der Übertragung

Bevor ein Text aus dem alten China in deutscher Sprache vor uns liegt, ist er durch vielerlei Filter und Bereinigungen gegangen:
Zuerst ist er aus dem Chinesischen ins Deutsche übersetzt worden. Das Chinesische ist eine völlig fremde Sprache, mit kurzen, prägnanten Begriffen/Schriftzeichen, die in ihrer Bedeutung sehr aus dem Kontext schöpfen. Jede Übersetzung ist Interpretation des Übersetzers!
Aber damit nicht genug. Der chinesische Text ist unter Umständen nicht mehr das Original. Über die Jahrhunderte/ -tausende sind Bücher neu geschrieben und der dem Kaiser genehmen Realität angepasst worden. Gelegentlich verschwanden Bücher in China vollkommen, um über Japan 1000 Jahre später wieder aufzutauchen.
Bei der Frage, ob chinesische Texte tatsächlich die Realität widerspiegeln, kommt man zu den Autoren: Wer hat sie geschrieben, in welcher Zeit und aus welcher Perspektive? Bei unserem Thema Gender/Heilskunde waren die Autoren in der Regel (konfuzianische) Gelehrte aus der obersten Gesellschaftsschicht und fast immer Männer – bis auf wenige sehr interessante Ausnahmen aus dem „marginalen Raum“ (s.u.)!
Last but not least – da jeder Text aus der Perspektive des Autors entsteht: Wer hat diesen Text geschrieben? Aus welchem Kontext/Umfeld/welcher Erfahrung heraus?

Gefangen im System – und entscheidende Besonderheiten

Also: China ist weit weg, die Zeiten ändern sich und mit ihr auch die heilkundlichen Konzepte und die Rollen von Frauen und Männern. Europa hat sich in den letzten 2000 Jahren gewaltig entwickelt. Das sollte man auch China zugestehen und dieses ferne, fremde Land nicht als historisch unveränderlichen Block betrachten. Auch bei uns spielten Frauen noch vor 300 oder 50 Jahren eine ganz andere Rolle als heutzutage. In Deutschland gab es aber auch eine Hildegard von Bingen und in China eine Ban Zhao.
Es gibt jedoch in China einige entscheidende Konstanten. Dazu gehört der „Ahnenkult“. Er beruht auf der Vorstellung, dass es eine „Existenzgemeinschaft“ zwischen Lebenden und Verstorbenen gibt. Die Lebenden sind verantwortlich für Pflege und Achtung der Vorfahren, die aus dem „Jenseits“ für das Glück ihrer Nachfahren sorgen. Entscheidend hierfür waren die Männer und somit die männliche Nachkommenschaft. Wobei Kinder bekanntermaßen nicht ohne Frauen/Mütter auf die Welt kommen – und da lag eine ganz entscheidende Macht in weiblicher Hand: die letztendliche Bestimmung über die Nachkommenschaft. Schließlich konnte eine ausbleibende Menstruationsblutung als pathologisch (und somit z. B. abortiv Blut bewegend) oder als Schwangerschaft interpretiert werden. Und als Folge der häuslichen Erziehung galt z. B. in der Ming-Zeit nicht die Ehefrau, son- ...


Literatur
Noll, A.: Frau im Dao – abseits des Mainstreams. BoD-Verlag, 2016 (erscheint in Kürze), ISBN 9783739221571

Anschrift des Verfassers
Andreas A. Noll
Heilpraktiker, BA
www.praxis-noll.de

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Naturheilpraxis 3/2016