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Smarte Gesundheit

„Wenn der Tiger Durst hat, dann trinkt er.“ Oder so ähnlich. „Der Tiger trinkt, wenn er Durst hat.“ Egal. Irgendwie will mir dieser Spruch aus dem Zen-Buddhismus nicht mehr aus dem Sinn. Ich dränge ihn entschlossen zur Seite und schaue fasziniert auf die App „Wasser trinken Erinnerung“, welche mir beim Rumstöbern im Smartphone-Shop aufgefallen ist. Weit über 200.000 haben sie sehr positiv bewertet. Eva schreibt: „Effektiv. Mit dieser App trinke ich wirklich viel mehr. Sie ist mittlerweile ein Teil meines Lifestyles geworden.“

Hm *grübel, trinke ich selber genug? Ok, ich installiere. Gewicht einstellen und Glassymbol auswählen, acht verschiedene Trinkmengen darf ich wählen. Dann läuft die App im Hintergrund. Ein großes Glas Wasser steht nun am Schreibtisch bereit. Nach einer Weile, während ich anfange, diese Zeilen auf trockenes Papier zu schreiben, macht mein Smartphone ein unerwartetes Geräusch, ähnlich einer kurzen Toilettenspülung. Ach ja, stimmt, ab jetzt werde ich ja überwacht, ob ich auf meine vorgegeben 2574 ml täglich komme. In regelmäßigen Abständen ertönt nun diese Wasserspülung, und ich leere brav das Glas und drücke auf den Plus-Button, welcher die Gläser zählt, sodass mein Trinkverhalten in einer Statistik ausgegeben werden kann.

Wow ... Allmählich werde ich zum Smartphone-Zombie, sitze da und erwarte das befreiende, leicht quäkende Geplätscher aus dem kleinen, unsichtbaren Lautsprecher, welches mich auffordert, endlich wieder zu trinken. Nein, meine vitalen Instinkte habe ich schon abgegeben – ich blicke schon längst nicht mehr gen Himmel und schaue, ob es regnet oder die Sonne scheint – dafür gibt es schließlich die bunte Wetter-App. Die stelle ich per GPS auf meinen Aufenthaltsort ein – ach was, krass, das kann die schon selber ... wie gut. Termine und sowas erledigt nicht mehr mein Gehirn, das brauche ich für Wichtigeres, nämlich wie ich meinen Androiden roote und den Arbeitsspeicher des viereckigen Homunkulus optimiere, sodass er meine Termine nicht vergisst. Ich bin verzückt – stolz leere ich das nächste Glas. Wie folgsam bin ich. Eines Tages werde ich per Sprachsteuerung von ihm vorgelesen bekommen, dass gewisse Gesundheits-Apps sich mit den Krankenkassen verbinden. Oh cool – so klug ist mein Handy, und dann lese ich einige Wochen in dem Schreiben meiner Versicherung, dass mein Beitrag erhöht wurde – Risikozuschlag. Ich werde das nicht mehr so ganz verstehen, super, jetzt bin ich gegen Risiken auch noch versichert, klicke in der inzwischen eingegangenen Feedback-E-Mail auf „Like“ und erwarte wieder dieses sanfte Plätschern, welches sich um meine Gesundheit kümmert. Ach, alles wird mir so leicht gemacht. Meine Schritte werden gezählt und die Pulsfrequenz, der Blutdruck analysiert und der Zuckergehalt auch noch. Ich habe alles voll im Griff. Und wenn ich den Knopf vergessen habe, den digitalen Gesundheitswächter mal in den Schlaf zu befördern, dann gibt es wunderschöne Konzentrationsübungs-Apps.

Soziale Kontakte lassen sich natürlich zwischen den einzelnen Gläsern erledigen ... schnell hier ein Herzchen, da eine E-Mail, die schönen Bilder von romantischen Menschen gecheckt. Träum. Meine Fantasie beginnt zu tanzen. Schier unzählige Verwendungsmöglichkeiten fallen wie ein warmer Regenguss vom Himmel. Wir können unser Leben designen. Irgendwann mendelt sich schon eine Hautfalte heraus, in die ein Minihandy hineinpasst. Genial, vielleicht lässt sich ja auch der Raum unterhalb der Schädelknochen sinnvoller dafür nutzen. Die Einkaufs-App: Es wird vorgelesen, was ich brauche (das haben die Gesundheits-Apps schon ermittelt), und wenn ich per Sprachbefehl „Ja“ sage, ist alles bereits online bestellt. Oder die Sweetheart-App: die erinnert daran, wann zärtliche Streicheleinheiten fehlen. Das hat der Algorithmus längst aus meinem Social-Media-Verhalten herausdestilliert. Dann blinkt herzig ein Blingblong-Herz auf dem Display, und per Sprachbefehl geht die passende Message an den algorithmisch ermittelnden Favoriten der Stunde raus. Ich bin entzückt. Das Plätschergeräusch rückt mich kurzzeitig zurück in die Realität – jawohl, liebes Smartphone, lieber Smart-Dater – ich gehorche. Wasser ist Leben. Das Glas Wasser ist bereit, ich bin bereit, ich werde richtig gelebt und geliebt, und alles ist so gut. Großer weiser Algorithmus, allwissender Big-Dater, ich liebe Dich. Danke. Danke. Danke.

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Christian Reichard
Heilpraktiker
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Naturheilpraxis 2/2016