FACHFORUM

Das Wiederfinden der inneren Ruhe

Passiflora incarnata

Margret Rupprecht

Ein berühmtes literarisches Zeugnis über den Verlust der inneren Ruhe ist  das Klagelied Gretchens in Goethes „Faust“: „Meine Ruh ist hin, mein Herz ist schwer, ich finde sie nimmer und nimmermehr.“ Was der Schmerz für das physische Erleben, ist die nervöse Unruhe für das psychische: Weniges ist für Menschen so belastend wie das Gefühl, aus der inneren Mitte gefallen zu sein.


Blickt man auf die Sprache, so fällt ein Phänomen sofort ins Auge: Das Wort „Ruhe“ wird oft im Kontext von Tod und Sterben oder von Schlaf, dem kleinen Bruder des Todes, genannt. Wir kennen Begriffe wie Grabesruhe, Totenruhe, ewige Ruhe, Kirchhofsruhe, letzte Ruhe, Nachtruhe oder Bettruhe. Offenbar scheint sich ein Mensch vor allem dann in vollkommener Ruhe zu befinden, wenn er entweder schläft oder tot ist, während die Konflikte des (Alltags-)Lebens bestens geeignet sind, uns mehr oder weniger stark in Un-Ruhe zu versetzen. Was sind nervöse Unruhe, Schlafstörungen und Angstgefühle anderes als ein dramatischer Verlust der inneren Mitte?

Die eigene Mitte wiederfinden

Diese Überlegungen sind nicht ohne Bedeutung für die Therapie:

Wenn das Herausfallen aus der eigenen Mitte das Problem ist, ist das Wiederfinden dieser Mitte die Lösung.

Auf diesem Weg spielen nicht nur pharmakologische Aspekte von infrage kommenden Heilpflanzen, sondern auch Signaturbetrachtungen eine zentrale Rolle: In der Pflanzenwelt gibt es ein Gewächs, das zum Kreis und zum Thema der „Mitte“ in einer wesenhaften Beziehung steht: Passiflora incarnata, deren Blüte zehn konzentrische Kreise um einen genau im Zentrum liegenden Mittelpunkt bildet. Die Passionsblume, ein pflanzliches Mandala, Symbol für das aus der Mitte kommende und zur Mitte zurückkehrende Leben, hat nicht umsonst eine tief beruhigende und zentrierende Wirkung auf das Seelenleben. Sie erinnert an einen Satz des Augustinus aus seinen „Confessiones“: „Unruhig ist mein Herz, bis dass es ruhet in dir.“ Schon jene Menschen, die der Pflanze den Namen Passionsblume gaben, haben ihre religiöse Dimension gespürt. Die „Fleisch gewordene Leidensblume“, abgeleitet von den lateinischen Worten incarnatus, passio und flos, wurde von Missionaren in Südamerika mit der Christusgestalt assoziiert, die in den drei Narben der Pflanze die Nägel der Kreuzigung sahen, im Fadenkranz der Blüte die Dornenkrone Christi und in den fünf Staubbeuteln seine Wundmale.

Der Kreis mit seinem Mittelpunkt gehört zu den Ursymbolen des Lebens. Er kann gedacht werden als ein Punkt, der sich aufbläst, die Dimensionen von Zeit und Raum in sich hineinfließen lässt, um sich anschließend wieder in sich selbst zurückzuziehen. Das Mandala findet sich in der Atomphysik im Tanz der Elektronen um einen Kern ebenso wie in der Zelle als Grundbaustein organischen Lebens, die alle Informationen für ihre vielfältigen Strukturen und Funktionen aus dem in ihr ruhenden Kern erhält. In jedem Sonnensystem und Spiralnebel begegnet uns dieses Urmuster des Universums ebenso wie in Blütenkelchen, Wasserstrudeln, Schneckenhäusern und Wirbelstürmen. Im menschlichen Leben entspricht der Mittelpunkt des Mandalas dem Paradies, in dem vollkommene Einheit herrscht und keine Gegensätze vorhanden sind. Der Weg in die Peripherie ist der Weg in die Polarität und den Konflikt, ein schmerzlicher, aufwühlender, aber unvermeidlicher Prozess. Es geht nicht anders: Der Weg des Kindes aus der unbewusst erlebten Mitte zurück in die bewusst gesuchte Mitte, der Weg von der Geburt zum Tod, muss ein Weg durch die Konflikthaftigkeit der Existenz sein, denn Bewusstsein entsteht und schärft sich vor allem in der Auseinandersetzung mit einander polar entgegengesetzten Positionen.

Wenn Menschen sich in Lebensphasen befinden, in denen die Probleme des Daseins sie überfordern, in denen ihr Herz von Ängsten und Sorgen bedrückt wird und in denen die zentrifugalen Wirkungen von Alltagsstress sie aus ihrer inneren Mitte herauskatapultieren, ist Passiflora incarnata ein wunderbares Heilmittel. Im Sinne jenes Augustinuszitats – „Unruhig ist mein Herz, bis dass es ruhet in dir“ – führt die Passionsblume zu einer neuen Zentrierung und zur Fähigkeit, die Mitte der eigenen Existenz wieder zu ...

Botanisches

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Die Passionsblume in der Medizingeschichte

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Passiflora incarnata im praktischen Einsatz

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Literatur
Burgerstein, Uli P.: Handbuch Nährstoffe. Trias Verlag in Medizinverlage Stuttgart, 2012
Bühring, Ursel: Praxis-Lehrbuch der modernen Heilpflanzenkunde. Haug Verlag, Stuttgart 2011
Dahlke, Ruediger: Lebenskrisen als Entwicklungschancen. Bertelsmann Verlag, München 2006
Madaus, Gerhard: Lehrbuch der biologischen Heilmittel. Bd. 9, Mediamed Verlag, Ravensburg 1989
Kalbermatten, Roger: Wesen und Signatur der Heilpflanzen. Die Gestalt als Schlüssel zur Heilkraft der Pflanzen. AT Verlag, Aarau 2002
Traversier, Rita, et. al.: TCM mit westlichen Pflanzen. Sonntag Verlag, Stuttgart 2005
Wagner, Hildebert; Wiesenauer, Markus: Phytotherapie – Phytopharmaka und pflanzliche Homöopathika. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2003
Wichtl, Max, et. al.: Teedrogen und Phytopharmaka. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2002



Anschrift der Verfasserin
Margret Rupprecht
Quinta Essentia
Heilpraktikerin/Medizinjournalistin
Hohensalzaer Straße 6a
81929 München



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Naturheilpraxis 2/2016