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Glosse

von Karl F. Liebau

Also, auf meinen Heilpraktiker lasse ich nichts kommen. Der ist prima. Der hat mir ­bisher immer geholfen. Der nimmt sich Zeit. Mit dem kann man über alles reden. Nur – wenn ich das Wort „Evidence based medicine – EBM“ erwähne, dann macht er so ein merkwürdiges Gesicht, als wenn ihm mächtig der Kamm schwellen würde. Dabei will ich ja gar keine andere Behandlung oder gar woanders hingehen. Er sorgt für meine Gesundheit, und die Evidence based medicine forscht und produziert neue wissenschaftliche Erkenntnisse. Das sind doch zwei völlig verschiedene Dinge, das hat doch absolut nichts miteinander zu tun. Die Evidence based medicine hat doch sowieso nichts mit Heilbehandlung zu tun. Ich kann doch zu meinem Heilpraktiker gehen und gleichzeitig neue Forschungsergebnisse zur Kenntnis nehmen. Aber ­irgendwas stimmt da nicht: Immer wieder wird auf die Evidence based medicine geschimpft, und sie wird unfair angegriffen. Neulich hat einer in einem Kommentar die Evidence based medicine sogar mit dem ADAC verglichen, nur weil die Studienlage der medizinischen Forschung angeblich zu 85 % unbefriedigend sei – also so ähnlich wie das mit den Auto-Tests beim ADAC war. Den Kommentar fand ich eine richtige Unverschämtheit.*
Andererseits ist mir das egal, ich bin eigentlich Positivist. Ich hänge dieser wunderbaren Richtung der Philosophie an, die fordert, Erkenntnis auf die Interpretation von „positiven“ Befunden zu beschränken, also solchen, die im Experiment unter vorab definierten Bedingungen den erwarteten Nachweis erbringen. Ich finde, man muss die Dinge immer von der positiven Seite aus sehen. 85 % unbefriedigende Studien heißt doch nach Adam Riese nichts anderes als 15 % gute Studien, die Erkenntnisfortschritt bringen.
Viele Dinge, die wir uns bis vor Kurzem nicht mal im Schlaf hätten träumen lassen, sind jetzt durch die Spitzenforschung der Evidence based medicine wissenschaftliche Tatsache. Denken wir nur mal an die ekelhaften gesundheitlichen Probleme mit dem Schleim bei Erkältungen und Bronchitis – gut, auch die traditionelle Heilkunde kannte das Problem und hat es thematisiert, aber sie hat überhaupt nicht gefragt, was eigentlich dahintersteckt. Sie hat einfach die Leute, die ewig damit zu tun haben, zu einer Gattung zusammengefasst und sie als „Schleimer“ bezeichnet. Damit das medizinischer klingt, nennen sie sie Phlegmatiker, weil „Schleim“ griechisch „phlegma“ heißt, aber sie bleiben doch ganz einfache Schleimer, das ist durch die Signaturenlehre belegt.
Aber dann – ja dann kommt die wunderbare Evidence based medicine mit ihren immerhin 15 % ordentlicher medizinischer Forschung daher und gibt sich eben nicht damit zufrieden, dass das Ganze da einfach nur mit Schleim zu tun hat. Nein, sie gibt viele Millionen aus und forscht und forscht, und sie entdeckt, was eigentlich wirklich hinter der Schleimbelästigung steckt: Es ist gar nicht der Schleim selbst – nein nein, es sind nämlich Schleimmonster. Das hätte man nicht gedacht. Diese Biester toben in den Bronchien herum und feiern da fröhliche Urständ’. Das hätte ich nie und nimmer geglaubt, aber ich habe diese miesen und ­frechen Schleimmonster persönlich im Fernsehen gesehen – und zwar zur besten Sendezeit abends vor den 20-Uhr-Nachrichten. Diese Entdeckung wurde nur kurz eingeblendet, es ging alles ziemlich schnell, aber ich habe es wohl mitbekommen. Der Wissenschaft ist es nämlich gelungen, die Schleimmonster zu isolieren und zu fotografieren, und – was man auch nicht für möglich gehalten hätte – sie erinnern an Walt Disney. Ja, sie bewegen sich so ähnlich wie in den Zeichentrick-Filmen, und das zeigt ja ganz klar, dass es sie wirklich gibt. Da gibt es keinen Zweifel – und wenn ich das gesehen habe, dann stimmt das. Ich gehöre nicht zu den altmodischen Leuten, die heute noch glauben, dass die Mondlandung lediglich eine Fernsehsimulation war. Die Schleimmonster sind doch eine immens wichtige Entdeckung, die wir nur der Spitzenforschung der Evidence based medicine verdanken und die man nicht missen möchte: Erstaunlich, was sich beim Phlegmatiker, also einem Verschleimten, so alles abspielt. Leider benutzt man das Wort Phlegmatiker zuweilen ganz zu Unrecht als Schimpfwort. Man ist manchmal gedankenlos, aber so ist der Mensch – außer vielleicht der Phlegmatiker: Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen.

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* Siehe Naturheilpraxis 1/2015, S. 77: „Evidence“? based medicine – Kommentar von Karl F. Liebau

 
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Naturheilpraxis 01/2016