Phytotherapie

Spitzwegerich (Plantago lanceolata)

Von der Signatur zur therapeutischen Anwendung

Margret Rupprecht

Dem menschlichen Gefühlsleben kann man sich auf eine wissenschaft­liche und auf eine literarische Weise nähern. Die wissenschaftliche Annäherung geschieht zum Beispiel mit einem Blick in das Wörterbuch Psychologie s. v. „Emotion“: „Aus dem lat. emovere (aufwühlen, heraustreiben) hergeleitete, allgemeine und umfassende Bezeichnung für psychophysiologische Zustandsveränderungen, ausgelöst durch äußere Reize (Sinnesempfindungen), innere Reize (Körperempfindungen) und/oder kognitive Prozesse (Bewertungen, Vorstellungen, Erwartungen) im Situationsbezug.“


Ganz anders klingt – wenn man von der Wissenschaft zur Literatur hinüberwechselt – zum Beispiel Gretchens Klagelied im ersten Teil des Faust: „Meine Ruh’ ist hin, mein Herz ist schwer, ich finde sie nimmer und nimmermehr. Wo ich ihn nicht hab’, ist mir das Grab. Die ganze Welt ist mir vergällt. Mein armer Kopf ist mir verrückt, mein armer Sinn ist mir zerstückt … Nach ihm nur schau’ ich zum Fenster hinaus, nach ihm nur geh’ ich aus dem Haus … Und küssen ihn, so wie ich wollt’, an seinen Küssen vergehen sollt’!“
Lässt man beide Zitate auf sich wirken, wird spürbar, dass Gretchens sehnsuchtsvolles Seufzen dem Leser das Wesen intensiver Gefühle viel lebendiger nahebringt. Die Wörterbuchdefinition beschreibt aus einer Distanz, was Gefühle sind. Goethes Zeilen sind Ausdruck eines Gefühls, und als solcher bringen sie ähnliche Empfindungen in der Seele des Lesers zum Schwingen. Gleichzeitig verraten die Zeilen des „Faust“ den engen Zusammenhang zwischen intensiver Emotionalität und Selbstentfremdung. Besser könnte es kein Wörterbuch beschreiben.
Gretchens Klagen „Wo ich ihn nicht hab’, ist mir das Grab“ oder „An seinen Küssen vergehen sollt’“ bringen es auf den Punkt: Ein Mensch, der von solchen Gefühlen gebeutelt wird, ist nicht mehr bei sich. Er ist sich selber fremd, nicht mehr Herr im Haus seiner Seele. Gretchens Gefühl verrät eine Todessehnsucht und hat mit Lebendigsein nur noch wenig zu tun. Begriffe wie „Grab“, „zerstücken“ oder „vergehen“ sprechen eine deutliche Sprache. Grab ist in diesem Zusammenhang ein Synonym für Selbstverlust und Lebensende.
Intensive Emotionen können durchaus genussvoll sein und, z. B. im therapeutischen Prozess, etwas Kathartisches besitzen. Wenn sie bewusst erlebt, ergründet und konstruktiv integriert werden, heben sie einen Menschen auf eine höhere Entwicklungsstufe. Daneben gibt es jedoch eine Form von starken Gefühlen, die etwas zutiefst Zerstörerisches besitzen und einen Menschen von sich selbst und seiner Persönlichkeitsfindung ablenken. Dazu gehören nicht nur die blinde Verliebtheit, sondern alle Formen von überschießenden positiven oder negativen Gefühlen, die letztlich nicht in den Dienst von Mitmenschlichkeit und Kreativität gestellt werden können.
Ungesunde, den Menschen von sich selbst entfremdende Emotionen sind – psychosomatisch betrachtet – der Nähr­boden für das Entstehen zahlreicher Krank­heitsbilder, von banalen Atemwegs­infek­ten bis zu malignen Prozessen.
Es gibt eine Heilpflanze, die in besonderer Weise über die Fähigkeit verfügt,
das Überschießende in der menschlichen Seele zu dämpfen: Plantago lanceolata,
der Spitzwegerich.
Plantago kühlt „Entzündungen“ der Schleim­haut und der Seele und wirkt dem Verzehrenden, das feurigen Prozessen oft eigen ist, ausgleichend entgegen.

Hinweise aus der Pflanzengestalt

Das Wesen des Spitzwegerichs ist Reizminderung. Im Bereich des Stofflichen, z. B. bei Atemwegsentzündungen, erzielt Plantago diese Wirkung über seinen reichen Gehalt an Schleimstoffen. Kalbermatten weist darauf hin, dass frische Spitzwegerichblätter, wenn man sie zwischen den Fingern verreibt, eine schleimartige Konsistenz und einen feuchten, kühlenden Charakter besitzen. Trotz der in ihr enthaltenen feuchten Kühle sucht sich die Pflanze als bevorzugte Standorte am liebsten trockene Stellen: Der Spitzwegerich trägt somit das Prinzip der Feuchtigkeit ins Trockene … er ist – bildlich gesprochen – ein „pflanzlicher Feuerlöscher“.
Nicht weniger aufschlussreich ist die Blattgestalt des Spitzwegerichs. Ihre lanzettliche Form erinnert an den zwischen zwei Sehnen liegenden Muskelbauch. Muskulatur ist auf der körperlichen Ebene für die Bewegung zuständig, während die Emotionen die Bewegung im Bereich des Seelischen darstellen. Spitzwegerich ...

Spitzwegerich in Volksmedizin und Geschichte

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Pharmakologie

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Literatur
Hermann P.T. Ammon: Hunnius Pharmazeu­tisches Wörterbuch. 10. Auflage, Walter de Gruyter, Berlin 2010
Ursel Bühring: Praxis-Lehrbuch der modernen Heilpflanzenkunde. Grundlagen – Anwendung – Therapie. Haug Verlag, Stuttgart 2011
Werner D. Fröhlich: Wörterbuch Psychologie. DTV, München 2002
Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Der Tragödie erster und zweiter Teil. Urfaust. Herausgegeben und kommentiert von Erich Trunz, Verlag C.H. Beck, München 1982
Roger Kalbermatten: Wesen und Signatur der Heilpflanzen. Die Gestalt als Schlüssel zur Heilkraft der Pflanzen. AT Verlag, Aarau (Schweiz) 2002
Hildegard und Roger Kalbermatten: Pflanzliche Urtinkturen – Wesen und Anwendung. AT Verlag, Baden und München 2005
Gerhard Madaus: Lehrbuch der Biologischen Heilmittel. Band 9. Mediamed Verlag, ­Ravensburg 1989
Hildebert Wagner, Markus Wiesenauer: Phytotherapie, Phytopharmaka und pflanzliche Homöopathika. Wissenschaftliche Verlags­gesellschaft, Stuttgart 2003
Max Wichtl (Hrsg.): Teedrogen und Phytopharmaka. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2002


Anschrift der Verfasserin
Margret Rupprecht
Quinta Essentia
Heilpraktikerin und Medizinjournalistin
Hohensalzaer Straße 6a
81929 München


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Naturheilpraxis 01/2016