Phytotherapie

Die Wiesenschlüsselblume

Blume des Jahres 2016

Bernd Hertling

Schlüsselblumen sind die Frühlingsboten schlechthin und erfreuen sich großer Beliebtheit, man darf hoffen, dass auch heute noch jedes Schulkind sie kennt. Vor etwas mehr als 45 Jahren kam der Verfasser dieser Zeilen auf die brillante Idee, seiner Mutter statt des üblichen selbst gepflückten Straußes eine Dauergabe zum Muttertag zu schenken. Er ging auf die Wiese und grub drei Stöcke mit Schlüsselblumen aus. Selbst wenn sie damals schon geschützt gewesen wären, im zarten Grundschulalter wäre es ihm sicher nicht bewusst gewesen.


In der Zwischenzeit haben sich die drei Stöcke dieser ausdauernden Spezies auf mehr als 60 Stellen auf unserer naturnahen, dreimahdigen Wiese im Garten erweitert. An der damaligen Entnahmestelle herrscht mittlerweile überdüngtes Einheitsgrün. Natürlich möchte ich mit diesem späten „Outing“ niemanden animieren, es heute ähnlich zu machen, denn seit einigen Jahrzehnten stehen beide Schlüsselblumenarten unter Naturschutz. Für das Jahr 2016 hat sich die Loki-Schmidt-Stiftung die Wiesenschlüsselblume (Primula veris) zur Blume des Jahres erkoren.
Die Botaniker der Gesellschaft, die im Geiste ihrer verstorbenen Gründerin weiterwirken, wollen mit dieser Wahl zum einen auf die starke individuelle Gefährdung dieser schönen Blume aufmerksam machen, zum andern auch auf das zunehmende Verschwinden ihrer natürlichen Standorte – trockene, sonnige und kalkreiche Wiesen und lichte Laubmischwälder – hinweisen. Im Gegensatz zu ihrer Schwester, der Hohen Schlüsselblume (Primula elatior), die es eher feucht liebt und auch schon seltener geworden ist, darf man die Wiesenschlüsselblume schon als Rarität bezeichnen.
Der Gattungsname dieser kraftvollen Heilpflanzen leitet sich aus dem lateinischen Primula, der Verkleinerungsform von „die Erste“, ab. Tatsächlich blühen sie in manchen Gegenden als erste Farbtupfer in der noch graugrünen Spätwinterlandschaft. Jedenfalls finden wir sie blühend in den Frühlingsmonaten März bis Mai. Ihr Epitheton veris wird in der Regel falsch übersetzt, da man gerne von dem deutschen Namen „echte“ Schlüsselblume auf den botanischen Namen rückschließt. Nur würde eine „echte Schlüsselblume“ eben Primula vera heißen, während sich veris von lateinisch ver, veris, der Frühling, ableitet, sie also eigentlich „Frühlingsschlüsselblume“ heißen müsste. In älteren Kräuterbüchern findet sich oftmals noch ihr Apothekername Primula officinalis, wie auch die Rezeptur Radix lautet, obwohl wir es mit einem Wurzelstock (Rhizom) zu tun haben.
Auch der deutsche Name lässt Trugschlüsse zu. Da aus einem Wurzelstock mehrere der langstieligen, doldigen Blüten sprießen, assoziierte man einen Schlüsselbund und nannte die Pflanze auch Himmelsschlüsselchen. Eigentlich kommt der Name jedoch von der Einzelblüte, die an ein mittelalterliches Türschloss erinnert, ein rundes Loch mit einem mittigen Zapfen.
Schaut man ins Schlüsselloch hinein, kann man, sozusagen als Zapfen, gut den Stylos oder Griffel sehen. Sieht man nun sehr genau hin, kann man sogar feststellen, dass die Länge dieser Griffel von einer zur anderen Blüte variiert. Der Botaniker spricht hier von einer Heterostylie. Mit dieser Strategie verhindert die Blume eine Selbstbestäubung. So wird ein varietätenreicherer Genpool angestrebt. Dabei passiert es immer häufiger, dass es zur Hybridisierung der Wildformen mit kurzstängeligen Zierprimeln aus Baumärkten und ähnlichen Bezugsquellen kommt.
Hält man die beiden Schlüsselblumenarten nebeneinander, ist beiden die Grundfarbe Gelb gemeinsam, und sie verfügen beide über schwache orangefarbene Saftmale, die den bestäubenden Insekten als Wegweiser zum nektarführenden Blütengrund dienen sollen. Fehlen diese Fleckchen, ist der „Tank“ leer. Die Frühlingsschlüsselblume ist inten- ...



Anschrift des Verfassers
Bernd Hertling
Heilpraktiker
Nettelkofenerstraße 1
85567 Grafing


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Naturheilpraxis 01/2016