Phytotherapie

Rationale versus traditionelle Phytotherapie

Arnold Mayer

Bereits 1935 schrieb Dr. med. Bohn in seinem Buch über die Heilwerte heimischer Pflanzen: „Als dann die aufblühende Chemie begonnen hatte, die Einzelstoffe der [...] Pflanzen festzustellen, kam eine Zeit, die im Vertrauen auf die [...] sicheren Versuchsreihen der chemischen Arzneimittellehre die [...] ­Erfahrungen der Ärzte, ja der Menschheit mit den Heilpflanzen einfach über Bord warf [...] und der reine wirksame Stoff in genauester Gabe aus der Apotheke zum Krankenbett wanderte [...]


Wenn wir im Sinne der Pflanzenheilmethode nicht davon ausgehen, dass in jeder Pflanze nur ein oder mehrere zu bestimmende Stoffe heilkräftig [...] sind, die man isolieren müsse – der Grundirrtum der üblichen Heilmittellehre, – sondern dass möglichst der gesamte Gehalt an wirksamen Stoffen im biologische Sinne, zur Verwendung kommen müsse [...]“ (1)

Rationale Phytotherapie ­rational betrachtet

Nach gängiger Definition basiert die rationale Phytotherapie auf den Wurzeln der traditionellen Phytotherapie. Sie nimmt für sich hier lediglich ergänzend in Anspruch, den Erfahrungsschatz der Phytotherapie um eine naturwissenschaftliche Dimension erweitert zu haben.
Die Wirksamkeit von Arzneipflanzen sei durch den naturwissenschaftlichen Ansatz mit Studien belegt worden, und Wirkmechanismen seien nun wissenschaftlich nachvollziehbar (Stichwort „evidenzbasierte Medizin“). Basierend auf dieser Annahme wird, wie Dr. Bohn dies bereits vor über 80 Jahren beklagte, ein großer Teil des Erfahrungsschatzes der Phytotherapie als „unwissenschaftlich“ über Bord geworfen. Die naturwissenschaftliche Beurteilung ist zum Maßstab der Dinge geworden. Leider gehen hier Wunsch und Wirklichkeit nicht ganz Hand in Hand. Der Gedanke, die Wirkung einer Heilpflanze gehe von einem singulären chemisch definierbaren Wirkstoff aus, hat sich bisher nicht wirklich ­bestätigt.


Es zeigt sich immer mehr, dass es sich meist um synergistische Effekte mehrerer Inhaltsstoffe handelt.
Und an dieser Stelle der naturwissenschaftlichen Vorgehensweise tut sich ein kardinales Problem der aktuellen Phytotherapie auf.


Die Interaktion der Inhaltsstoffe

In der modernen Medizin gelten mehr als fünf chemisch definierte Arzneimittel als oberste Grenze in der Nachvollziehbarkeit von pharmakodynamischen Inter­aktionen. Pessimistischere Experten gehen von maximal drei Wirkstoffen aus. Jenseits dieser Grenze ist es nach wissenschaftlichem Ermessen kaum noch möglich vorherzusagen, wie sich der eingenommene Cocktail auf den Organismus auswirkt. Wichtige Bausteine im wirksamen Cocktail einer Pflanze sind die sekundären Pflanzenstoffe, wie etwa die Polyphenole. Aktuell wird davon ausgegangen, dass an die 100.000 sekundäre Pflanzenstoffen in der Flora existieren, von denen circa 30.000 nachgewiesen werden konnten. Jede einzelne Pflanze besteht aus mehreren Hundert bis weit über tausend Inhaltsstoffen, deren chemische Struktur oft noch gar nicht bekannt ist.
Veranschaulichen lässt sich die Krux der rationalen Phytotherapie gut an der Kaffeebohne, die als sehr gut erforscht gilt. Über 800 Inhaltsstoffe sind bekannt, über 1000 sollen es sein, wobei selbst von den bekannten nur ein kleiner Teil erforscht ist. Lange Zeit galt das Coffein als der unbestrittene Hauptwirkstoff im Kaffee. Es gilt als problematisch, weil es im Verdacht steht, negative Effekte auf das Kreislaufsystem zu haben. Nun stellte sich aber heraus, dass entkoffeinierter, vermeintlich gesünderer Kaffee entgegen den Erwartungen ein höheres Herz-Kreislauf-Risiko mit sich bringt, die Leberfunktion belastet und den Cholesterinspiegel erhöhen kann.
Beim Johanniskraut findet Ähnliches statt. Die am besten untersuchte Heilpflanze erweist sich als schwer zu entwirrendes Rätsel. Es zeigte sich, dass sich die Wirkung nicht an einem einzelnen Inhaltsstoff festmachen lässt und dass die fotosensibilisierende Wirkung wohl eher bei Kühen als beim Menschen auftritt. Der viel gefürchtete Sonnenbrand nach Hypericum-Präparaten lässt sich nur bei Mega-Dosierungen im Rahmen von Immuntherapieversuchen provozieren. ...

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Literatur
(1) Bohn, Dr. med. Wolfgang: Die Heilwerte heimischer Pflanzen. 5. Aufl. 1935
(2) Hong Cai et al.: Cancer chemoprevention: ­Evidence of a nonlinear dose response for the protective effects of resveratrol in humans and mice. Science Translational Medicine, 29.7.2015, Vol. 7
(3) Pohl, Christine: Flavonoide des Apfels: Transport in Caco-2-Kolonzellen und Einfluss auf den Fremdstoffmetabolismus. Dissertation von Dipl.-Lebensmittelchemikerin Christine Pohl, TU Kaiserslautern, 2005
(4) Kahle, Kathrin: Polyphenole aus Apfelsaft: Studien zur Verfügbarkeit im Humanstoffwechsel. Dissertation von Kathrin Kahle, ­Julius-Maximilians-Universität Würzburg, 2008




Anschrift des Verfassers
Arnold Mayer
Heilpraktiker
Meilerstraße 1
88477 Schwendi
E-Mail: physicusnaturae@googlemail.com


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Naturheilpraxis 01/2016