SPEZIAL

Rechtsgeschichte des Heilpraktikerberufs

Teil 1

Christian Ullmann

Die „Ausübung der Heilkunde“ als Sammelbezeichnung der Tätigkeitsmerkmale einer Anzahl von medizinischen Berufen, aber auch als Rechtsbegriff, ist sehr alt. Im Königreich Bayern lässt sich der Begriff bereits in Anordnungen zum „Medicinalwesen“ des frühen 19. Jahrhunderts nachweisen. Danach sollte „die Ausübung eines Theils der medizinischen Wissenschaften“ erlaubnispflichtig, aber nicht an eine formale Ausbildung gebunden sein. Der Bewerber hatte in einer Prüfung „durch ermächtigte Stellen“ nachzuweisen, dass er jenen Teil der Heilkunde, den er auszuüben gedenke, „nach den dafür bestimmten Gesetzen genügend erlernt“ habe1.


Die Gewerbeordnung für den norddeutschen Bund vom 21. Juni 18692 wurde durch Reichsgesetz vom 12. Juni 18723 für das ganze Deutsche Reich, somit auch für das Königreich Bayern, geltendes Recht. Darin heißt es im Paragrafen 6 zunächst ausgrenzend: „Das gegenwärtige Gesetz findet keine Anwendung auf … die Ausübung der Menschen- und Thier-Heilkunde …, die Errichtung und Verlegung von Apotheken und den Verkauf von Arzneimitteln …“ 4

Diesen Berufen kam eine gesonderte Stellung zu, weil die Ausübung der Heilkunde nicht durchweg als Gewerbe im Sinne der Gewerbeordnung zu werten war. Gleichwohl regelte der Paragraf 29 die Approbation der Apotheker und jener „Personen, welche sich als Ärzte (Wund-Ärzte, Augenärzte, Geburtshelfer, Zahnärzte und Thierärzte) oder mit gleichbedeutenden Titeln bezeichnen“5. Und mit Bezug auf diesen Paragrafen erließ der Bayerische König die Verordnung, die Ausübung der Heilkunde betreffend, vom 11. August 18736. Diese trat, wegen der geänderten Gesetzeslage durch die Reichs-Gewerbeordnung, an die Stelle der alten Verordnung, die Ausübung der Heilkunde betreffend, vom 29. Januar 18657.

Gegen das – auch in anderen deutschen Ländern8 bestehende – Ärztemonopol zur Ausübung der Heilkunde hatte sich kein Geringerer als der Reichskanzler Otto von Bismarck vehement im Reichstag ausgesprochen und bekannt:

„Wem Gott und die Natur die Fähigkeit zum Heilen gegeben hat, dem darf es die Polizei nicht verbieten.“

Und aufgrund einer Petition der renommierten Berliner Medizinischen Gesellschaft mit Rudolf Virchow als „Referenten der Kommission“, welche die Vorschläge formuliert hatte, wurde in die Reichsgewerbeordnung des Norddeutschen Bundes am 21. Juni 1869 die Kurierfreiheit eingeführt9.

Die damals einflussreiche Ärztegesellschaft hatte sich erfolgreich und unter Betonung der Patientenrechte im Reichstag des Norddeutschen Bundes mit folgenden Worten für die Abschaffung des – freilich nur auf dem Papier stehenden – ärztlichen Behandlungsmonopols eingesetzt: „Es ist das natürliche Recht eines jeden, die medizinische Hilfe zu nehmen, wo er sie findet … Wie können Sie glauben, die Volksbildung und Aufklärung zu fördern, wenn Sie denjenigen, der die Heilung auf einem anderen als vom Gesetz vorgeschriebenen Wege vollzieht, aber gut vollzieht, zur Strafe bringen? Die Gesetze über Medizinalpfuscherei sind für unser Volk unwirksam, weil sie den Schutz nicht gewähren, den sie gewähren wollen, sie sind auch nicht allein überflüssig, weil sie Privilegien gewähren, die jetzt glücklicherweise zurückgewiesen werden von denen, die sie besitzen, sondern sie sind auch unwürdig für die Bildungsstufe und Urteilsfähigkeit unseres Volkes.“10

Die Initiative zur Einführung der Kurierfreiheit erfolgte indes nicht ganz selbstlos. Die Ärzte wurden dafür „von den lästigen Verpflichtungen des Strafgesetzbuches, durch die sie mehr als ein anderer Streit heimgesucht wurden, vollständig enthoben“11, darunter vom Behandlungszwang.

Aus „Besorgnis, dass nach Aufhebung der auf die medizinische Pfuscherei früher gesetzten Strafe die Ausübung der Heilkunde durch nicht approbierte Personen für die Zukunft sehr überhand nehmen werde“, erließ – wiederum in Bayern – das Staatsministerium des Innern am 2. Juli 1873 eine „Entschließung, die Ausübung der Heilkunde durch nicht approbirte Personen betreffend“12, nach der ein Verzeichnis „aller jener Individuen“ angelegt werden musste, „welche ohne approbirte Ärzte zu sein, sich mit der Heilung von Krankheiten der Menschen abgeben“. Damit sollten Erkennt- ...

Rechtsprechung zur Fortgeltung des Heilpraktikergesetzes

...



Die Fortsetzung folgt in Ausgabe 9





Anmerkungen
1 Döllinger, Georg: Das Medicinalwesen in Bayern, die desfalls bestehenden Anstalten und die seit dem Jahre 1616 bis auf die neueste Zeit erlassenen, noch in Kraft bestehenden Anordnungen. Erlangen 1847, Verfügung vom 8. September 1808.
2 Reichs-Gesetzblatt S. 245
3 Reichs-Gesetzblatt S. 170
4 Zitiert nach Martin, Aloys: Das Civil-Medicinalwesen im Königreiche Bayern. Erster Band, München 1884
5 Martin, Aloys: a.a.O., S. 5 f.
6 Regierungsblatt S. 1313
7 Regierungsblatt von 1865 Nr. 6
8 Nach der preußischen Gewerbeordnung von 1845 war die Ausübung der Heilkunde ausschließlich approbierten Ärzten vorbehalten.
9 Die anderen deutschen Länder übernahmen die Regelung bis 1873.
10 Weidinger, Ernst: Der Heilpraktiker und seine berufliche Qualifikation. In: 60 Jahre Heilpraktiker Schule München – Ein Modell für Europa. München, ohne Jahr
11 Ostheim, Max: Reichsärzteordnung und Kurierfreiheit. In: Der Mentor, 1931, S. 99
12 Martin, Aloys: Das Civil-Medicinalwesen im Königreiche Bayern. Zweiter Band, München 1887
13 Martin, Alois/Kuby, Wilhelm: Die Medizinalgesetzgebung im Königreiche Bayern. Dritter Band, München 1891
14 Martin, Aloys: a.a.O.; Urteil des k. sächs. Oberlandesgerichts zu Dresden vom 5. Dezember 1889
15 Martin, Aloys, a.a.O.; auch: Ministerial-Amts-Blatt, 1890, S. 267
16 Dr. Fest: Das Kurpfuschertum im Freistaat Bayern. In: Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung des Kurpfuschertums: Ueber Kurpfuschertum und seine Bekämpfung. Berlin 1927
17 Reichsv. vom 21.1.1917 und Minist.-Bek. vom 4.2.1920; vgl. Fest, a.a.O.
18 Fest: a.a.O.
19 Fest: a.a.O.
20 Döllinger: a.a.O. S. 356
21 Reichs-Gesetzblatt 1890, S. 9
22 Fest: a.a.O.
23 Heberer, H.: Das Kurpfuschertum im Freistaat Sachsen. In: Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung des Kurpfuschertums: Ueber Kurpfuschertum und seine Bekämpfung. Berlin 1927
24 Heberer: a.a.O.
25 Kurpfuschereiverbot?. In: Der Mentor, 1929, S. 62 ff.
26 Moses, Julius: Der Kampf um die Kurierfreiheit. Radebeul/Dresden 1930
27 Von Julius Moses „Experimentierwahnsinn“ genannt. In: Moses, Julius: Der Totentanz von Lübeck. Radebeul/Dresden 1930
28 Moses, Julius: Der Kampf um die Kurierfreiheit. Radebeul/Dresden 1930
29 Moses, Julius: Der Kampf um die Kurierfreiheit. Radebeul/Dresden 1930
30 Was wir zum Heilpraktikergesetz sagen. In: Der Heilpraktiker, Sondernummer zum Heilpraktikergesetz, 1. März 1939
31 Der Mentor, Juli 1933
32 Dokumentiert in: Denkschrift. Erste Heilpraktikertagung 7. und 8. Oktober 1933
33 Völkischer Beobachter, Münchner Ausgabe, 27. November 1933
34 Der Heilpraktiker, 1933
35 Der Heilpraktiker, 1933
36 Der Heilpraktiker, 1937
37 Der Heilpraktiker, 1937
38 Der Wortlaut der Rede des Reichsärzteführers in Lübeck. In: Der Heilpraktiker, 1937; auch in: Aerzteblatt für Hamburg und Schleswig-Holstein, 1937
39 Redewortlaut in: Der Heilpraktiker, 1937
40 a.a.O.
41 a.a.O.
42 Beide Gesetze traten am 20. Februar 1939 in Kraft.
43 Berufskameraden! In: Der Heilpraktiker, 1939
44 Es bleibt fraglich, warum diese Zulassungsbestimmung in die 1. DVO zum HeilprG eingefügt wurde, mehr als zwei Jahre, nachdem die auf 1. April 1939 limitierte Antragsfrist nach § 1 Abs. 1 1. DVO zum HeilprG abgelaufen war. Für alle, welche „die Heilkunde, ohne als Arzt bestallt zu sein, bisher nicht ausgeübt“ hatten, konnte eine Erlaubnis „nur in besonders begründeten Ausnahmefällen“ erteilt werden (§ 2 Abs. 1 HeilprG, ursprüngliche Fassung). Die Vorschrift des Buchst. i) gewann erst nach der grundgesetzkonformen Auslegung des Heilpraktikerrechts und der damit verbundenen Streichung dieser Vorschrift ihre Bedeutung.
45 Die bestehenden Heilpraktikerschulen in Berlin, Köln und München wurden nicht sofort geschlossen, damit die in Ausbildung stehenden Kandidaten diese beenden konnten.
46 … abgedruckt auch in: Der Heilpraktiker, 1. März 1939 (Sondernummer zum Heilpraktikergesetz) sowie in: Ullmann, Christian: Das Recht des Heilpraktikers – Ein Leitfaden zur Berufskunde. München 1983
47 Rabe, Fritz: Berufskunde für Heilpraktiker. 6. Auflage, München 1978
48 Moser, Carl: Bundestag beschließt über Heilpraktikergesetz. In: Naturheilpraxis, Dezember 1950; der erwähnte Entwurf der Fraktion der Deutschen Partei entsprach jenem der Arbeitsgemeinschaft der Landesverbände.
49 Heilpraktikergesetz: Fortschritt der Arbeiten in Bonn. In: Naturheilpraxis Juli 1952
50 Rabe, Fritz: a.a.O.
51 Ullmann, Christian: Comeback für Gebetsmarie und Streichelheini. Viele Mediziner sehen in der Abschaffung des Heilpraktikergesetzes die einzige Möglichkeit zur Bewahrung des ärztlichen Behandlungsvorrechts. In: Süddeutsche Zeitung vom 6. Dezember 1978
52 Ullmann, Christian, a.a.O.
53 Ullmann, Christian, a.a.O.
54 BVerfG, Beschluss v. 2.3.2004–1 BvR 784/03
55 DVBl. 50, S. 644
56 Az.: 1 B 18/50=NJW 1951, S. 616
57 BVerfG, Beschl. vom 10.5.1988–1 BvR 482/84, 1166/85=NJW 1988, 2290
58 BVerwG, Urt. v. 11.11.1993–3 C 45/91=NJW 1994, S. 3024





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Naturheilpraxis 8/2015