Nerven und Hormone

Holunder (Sambucus nigra)

Von der Signatur zur therapeutischen Anwendung

Margret Rupprecht

Der Lyriker Hans-Christoph Neuert schreibt: „Erst im Alltag zeigt sich wirklich die Reife deiner Menschlichkeit“, und berührt damit ein Thema, das im Grimm’schen Märchen von Frau Holle eindrücklich beschrieben wird: Eine Witwe hatte zwei Töchter. Die Stieftochter war schön und fleißig, die leibliche hässlich und faul. Als der Stieftochter einst eine Spule in den Brunnen fiel, musste sie hinabsteigen, um sie zu holen.


Am Grund des Brunnens – einem Symbol für die tiefere Ebene der seelischen Transformation – wieder erwacht, traf die Stieftochter auf einen Backofen voll ausgebackenem Brot, das herausgezogen werden wollte. Sie unterzog sich dieser Pflicht mit Selbstverständlichkeit, und ebenso selbstverständlich schüttelte sie einen Apfelbaum, der unter der Last seiner reifen Äpfel litt. Danach traf sie auf Frau Holle, deren Federbetten sie ausschütteln sollte. Auch diesen Dienst besorgte das Mädchen zur Zufriedenheit. Vor ihrer Rückkehr in die obere Welt belohnte Frau Holle sie mit einem überaus reichen Goldregen.

Als wenig später die hässliche und faule Tochter voller Berechnung auf den goldreichen Lohn ebenfalls in den Brunnen hinabstieg, scherte sie sich um das Brot und den Apfelbaum herzlich wenig und gab sich auch beim Ausschütteln der Betten wenig Mühe. Dafür ward bei ihrer Rückkehr statt des Goldes ein großer Kessel voll Pech über sie ausgegossen, das ein Leben lang an ihr haften blieb. Bemerkenswerterweise ist das aus dem Mittelhochdeutschen stammende Wort Pech auch ein Synonym für Hölle, etymologisch verwandt mit dem ostoberdeutschen picken – kleben und Pick – Klebstoff. Im Bild des Grimm’schen Märchens verwandelt sich das unreife Verhalten der faulen und hässlichen Tochter in einen Stoff, der lebenslang an ihr kleben bleibt (vgl. Pech haben). Er wird gewissermaßen zur Hölle auf Erden.

Die schöne und fleißige Tochter hingegen, die durch Pflichterfüllung in kleinen Dingen Reife bewiesen hat, wird mit dem edelsten Stoff belohnt, der dem Mittelalter bekannt war: Gold. Diese Tatsache verhält sich sehr kongruent zur tieferen Bedeutung des Wortes Reife. Es leitet sich vom westgermanischen reip-a – ernten ab. Dahinter steckt auch das indogermanische rei – reißen oder das griechische ereipo – ich reiße nieder. Reif ist, was geerntet (abgerissen) werden kann, doch dies ist unmöglich, wenn nicht zuvor eine Energie investiert wurde. Mit ihrem reifen Verhalten gegenüber dem ausgebackenen Brot und dem unter seiner Last ächzenden Apfelbaum hat die schöne und fleißige Tochter die Voraussetzungen dafür gelegt, ernten zu können, was durch den Goldregen reichlich geschah.

Für Reifungsprozesse

Frau Holle ist im Grimm’schen Märchen die positive, Gerechtigkeit stiftende Gegenwelt zur Welt der bösen Stiefmutter, die als Symbol für die Schlechtigkeit der äußeren, materiellen Welt anzusehen ist. Die Holle, eine frühgermanische Muttergöttin, die Fleiß und Ordnung belohnt, wurde zur Namensgeberin für eine einheimische Heilpflanze, die eine wesenhafte Beziehung zu Reifungsprozessen auf körperlicher und seelischer Ebene besitzt: den Holunder, in dessen Endsilbe -der das althochdeutsche tar – Baum verborgen ist.

Als „Baum der Holle“ bringt Holunder in der arzneilichen Anwendung stockende und damit „faule und hässliche“ im Sinne von unfertigen Prozessen zur Reifung, sei es, dass sie sich in einer chronifizierten körperlichen Krankheit oder in Form von seelischen Entwicklungsverzögerungen zeigen. Wann immer die Reifung eines somatischen oder psychischen Prozesses erforderlich ist, sind Zubereitungen aus Holunder das Mittel der Wahl.

Beim Beginn enden

Wer einen alten Hollerbaum betrachtet, vor allem, wenn er im Winter unbelaubt dasteht, wird ein eigenartiges Phänomen wahrnehmen: Seine Äste und Zweige weisen eine unübersehbare Bogenform auf. Dies liegt am spezifischen Wachstumsverhalten des Baumes. Aus seinen kräftigeren Zweigen schießen immer wieder neue Triebe steil nach oben. Die jungen Zweige entwickeln sich dabei zu einer erstaunlichen Länge. Dies geschieht so schnell, dass die Borkenbildung kaum mithalten kann. Ihre grüne Rindenhaut ist sehr dünn und schützt den neuen Trieb nur notdürftig.

Der überschießende Wachstumsprozess führt nach einer Weile dazu, dass die Last, vor allem durch Blätter und Blüten, ...

Mythologie und Geschichte

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Pharmakologie und Indikationen

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(Abbildungen: Bernd Hertling)

Literatur
Jacob und Wilhelm Grimm: Grimms Märchen. Gesamtausgabe. Dörfler Verlag, Eggolsheim 2000
Roger Kalbermatten: Wesen und Signatur der Heilpflanzen. Die Gestalt als Schlüssel zur Heilkraft der Pflanzen. AT Verlag, Aarau 2002
Roger Kalbermatten, Hildegard Kalbermatten: Pflanzliche Urtinkturen – Wesen und Anwendung. AT Verlag, Aarau 2011
Max Wichtl (Hrsg.): Teedrogen und Phytopharmaka. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2002
Gerhard Madaus: Lehrbuch der biologischen Heilmittel. Band 10. Mediamed Verlag, Ravensburg 1989
Hermann P. T. Ammon: Hunnius – Pharmazeutisches Wörterbuch. Walter de Gruyter, Berlin 2010
Marianne Beuchert: Symbolik der Pflanzen. Insel Verlag, Frankfurt 2004
Ursel Bühring: Praxis-Lehrbuch der modernen Heilpflanzenkunde. Grundlagen – Anwendung – Therapie. Sonntag Verlag, Stuttgart 2005
Friedrich Kluge, Elmar Seebold: Etymologisches Wörterbuch der Deutschen Sprache. Walter de Gruyter, Berlin 2011
Hildebert Wagner, Markus Wiesenauer: Phytotherapie. Phytopharmaka und pflanzliche Homöopathika. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2003









Anschrift der Verfasserin
Margret Rupprecht
Quinta Essentia
Heilpraktikerin und Medizinjournalistin
Hohensalzaer Straße 6a
81929 München



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Naturheilpraxis 8/2015