FACHFORUM

Colon irritabile

Das Reizdarmsyndrom

Martina Schneider

Etwa neun Millionen Bundesbürger leiden häufig unter einem Reizdarmsyndrom (RDS), das heißt unter wiederkehrenden Darmkrämpfen, Blähungen und Verdauungsstörungen, ohne dass organische Störungen festzustellen sind. Nach den Ursachen wird seit Längerem geforscht. Sicher ist, dass die psychische Verfassung eine große Rolle bei der Erkrankung spielt. Nun hat sich jedoch auch der Verdacht erhärtet, dass bestimmte Immunzellen verantwortlich für die Beschwerden sein können, so das Ergebnis einer aktuellen Pilotstudie.


Die Symptome eines Reizdarmsyndroms (Colon irritabile) können so heftig ausfallen, dass sie einer schweren Darmentzündung ähneln: Betroffene, Frauen eher als Männer, meist zwischen 20 und 40 Jahren alt, leiden immer wieder unter Krämpfen, Verstopfung mit schafskotartigen oder bleistiftdünnen Stühlen oder Durchfall (ohne Blut im Stuhl), Blähungen und Bauchschmerzen. Die Beschwerden nehmen im Stehen zu und zum Abend hin ab. Eine organische Störung liegt nicht vor. Sind auch die genauen Ursachen nach wie vor nicht bekannt, haben Forscher dennoch eine neue Erkenntnis gewonnen: Mediziner der Universität Bonn wiesen nach, dass bestimmte Immunzellen, die sogenannten Mastzellen, eine Reizdarmsymptomatik auslösen, indem sie krankhaft überreagieren. (1)

Symptome: Übelkeit und Brechreiz, Völlegefühl, dumpfe oder brennende Schmerzen im Oberbauch, Schleimbeimengung im Stuhl, Nahrungsunverträglichkeiten sowie Stress- und Angstsymptomatik in der Anamnese. Die Wissenschaftler untersuchten allerdings nicht nur die Darmbeschwerden der Studienteilnehmer, sondern interessierten sich auch für eine Vielzahl anderer Probleme: Traten bei den Betroffenen Hitzewallungen auf? Litten sie unter Gefühlsstörungen in Armen oder Beinen? Mussten sie wegen asthmaartiger Beschwerden behandelt werden? Klagten sie über Wortfindungs-, Konzentrations- oder Schlafstörungen? Bei 19 der 20 Patienten fanden die Ärzte eine Häufung derartiger Begleitsymptome. „In ihrer Kombination sind solche Störungen nur durch eine krankhafte Mastzellüberaktivität zu erklären“, sagt der Bonner Medizinprofessor Dr. Gerhard J. Molderings.

„Mastzellen sind Zellen unseres Immunsystems, die eine Vielzahl von Botenstoffen speichern“, erklärt Molderings. „Bei Kontakt mit Viren, Bakterien, Parasiten oder Allergenen können sie durch Freisetzung von Botenstoffen eine Immunreaktion einleiten, verstärken und die Körperabwehr koordinieren. Sind Mastzellen jedoch genetisch verändert, können sie auch ohne Anlass aktiv werden und beispielsweise Entzündungssymptome auslösen.“ Da Mastzellen in allen Geweben und Organen des Körpers zu finden seien, könne ihre Fehlfunktion zu dieser Vielzahl von Beschwerden führen.

„Bislang sind wir davon ausgegangen, dass bundesweit lediglich einige Hundert Menschen von einer primären Überaktivitätsstörung von Mastzellen betroffen sind“, führt Molderings aus. Die Ergebnisse der Studie deuteten nun in eine andere Richtung: „Zumindest schweren Reizdarmsymptomatiken kann eine systemisch krankhafte Überaktivität von Mastzellen zugrunde liegen, und dies könnte allein in Deutschland Hunderttausende von Menschen betreffen.“

Dass krankhaft veränderte Mastzellen auch Darmsymptome auslösen können, ist schon länger bekannt. „Erstaunlicherweise brachte man die beiden Krankheitsbilder aber lange Zeit nicht zusammen.“ Erst vor wenigen Jahren stellten Mediziner fest, dass bei Reizdarmpatienten häufig die Zahl der Mastzellen im Darm erhöht ist. „Unsere Studie belegt nun erstmals, dass Reizdarmpatienten häufig auch unter Symptomen einer Mastzellüberaktivität leiden. Man muss nur danach fragen“, sagt Molderings. „Auch wenn die Zahl der Patienten in unserer Pilotstudie gering war, ist das Ergebnis doch sehr deutlich.“ Den Fragebogen, um eine Mastzellbotenstoff-Erkrankung zu erkennen, hat der Mediziner zum Herunterladen ins Netz gestellt. (http://tinyurl.com/p5w4s3w). (1)

Als weitere Ursachen für ein Colon irritabile werden vermutet: bakterielle Infektionen des Magen-Darm-Traktes, eine Störung der lokalen Immunfunktion im Verdauungssystem und eine anormale Darmperistaltik. Darüber hinaus haben Wissenschaftler typische Veränderungen im Darm von Betroffenen festgestellt, allerdings kommen diese auch bei anderen Darmerkrankungen vor.

...

Literatur
(1) G. J. Molderings et al: Systemische Mastzellaktivierungserkrankung: Ein praxisorientierter Leitfaden zu Diagnostik und Therapie. Deutsche medizinische Wochenschrift 2014; 139(30):1523-1538
(2) Kongress Viszeralmedizin: 17.–20. September 2014 in Leipzig
(3) Multicenter-Kohortenstudie: Wirksamkeit und Verträglichkeit eines pflanzlichen Arzneimittels mit Myrrhe, Kaffeekohle und Kamille bei entzündlichen Darmerkrankungen unter den Bedingungen der täglichen Praxis. Unveröffentlichte Ergebnisse, vgl. auch C. Vissiennon et al.: Calcium antagonistic effects of ethanolic myrrh extract in inflamed smooth muscle preparations. Präsentation beim Phytokongress, 8.–10. März 2013 in Leipzig
(4) H. Everitt; R.E. Moss-Morris et al: Management of irritable bowel syndrome in primary care: Feasibility randomised controlled trial of mebeverine, methylcellulose, placebo and a patient self-management cognitive behavioural therapy. Website, BMC Gastroenterol. 2010; 10:136
(5) Rüdiger Dahlke: Verdauungsprobleme: Be-Deutung und Chance von Magen- und Darmsymptomen. Knaur Verlag, München 2001
(6) Jean-Pierre Barral: Die Botschaften unseres Körpers. Irisiana Verlag, München 2013



Anschrift der Verfasserin
Martina Schneider
Heilpraktikerin und Medizinjournalistin
Am Sahrbach 3
53505 Kreuzberg/Ahr



weiter ... (für Abonnenten der Naturheilpraxis


Zum Inhaltsverzeichnis

Naturheilpraxis 8/2015