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Gute Phytos – böse Phytos: Gezielter Rufmord oder unerwünschte Arzneiwirkungen?

Wieder gehen „neue Erkenntnisse“ über die Nebenwirkungen von Phytotherapeutika durch die Presse. Jetzt stehen der Baldrian und die Teufelskralle in Verdacht, eine akute Pankreatitis auslösen zu können. Aufgeregte Anrufe von Fachkreisen gehen ein, Patienten sind verunsichert. Es ist wieder einmal Unruhe an der Front der traditionellen Phytotherapie und der Wissenschaft.

Fall-Kontroll-Surveillance-Studie (FAKOS)
In einer vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) geförderten FAKOS wurde das pankreastoxische Risiko verschiedener Arzneimittel quantifiziert. In der Zeit von 2002 bis 2011 sind in allen Berliner Krankenhäusern 102 Patienten mit akuter Pankreatitis unklarer Ätiologie und 750 Kontrollpatienten anhand anamnestischer, klinischer und labortechnischer Daten rekrutiert und zu Arzneimitteleinnahmen befragt worden. Hierbei sei überraschenderweise ein signifikant erhöhtes Risiko einer akuten Pankreatitis durch Baldrian und Teufelskralle beobachtet worden.

Pressereaktion
In den Veröffentlichungen der Fachpresse werden die Überschriften wie „Schadet Baldrian der Bauchspeicheldrüse?“ mit Fragezeichen versehen. Die Studienautoren weisen darauf hin, dass weitere Forschungen notwendig seien, um den Zusammenhang zwischen den Wirkstoffen in Baldrian sowie Teufelskralle und einer akuten Pankreatitis zu erfassen. Wörtlich gaben zwei der Forschenden an: „Obwohl weitere Studien notwendig sind, um die hier beschriebene Phytotherapeutika-assoziierte Pankreastoxizität zu verifizieren, liefern unsere Ergebnisse weitere Argumente gegen den sorglosen Einsatz solcher Arzneimittel, insbesondere wenn die Wirksamkeit nicht durch kontrollierte klinische Studien gut belegt ist.“
Mit anderen Worten, solange nicht die genannten kontrolliert klinischen Studien vorliegen, befinden sich Baldrian und Teufelskralle in einer Art „Untersuchungshaft“. In den Köpfen manifestiert sich bereits das Negativimage. Inzwischen erscheinen erste Veröffentlichungen schon mit Überschriften wie „Auch Phytos können Pankreatitis auslösen“ – und zwar ohne das vorher erwähnte Fragezeichen.

Andere Interpretationen
Eine akute Pankreatitis tritt gehäuft bei offen liegendem oder verstecktem chronischen Alkoholkonsum auf. Da diese Klientel ebenfalls überdurchschnittlich an Symptomen wie Unruhezuständen, Schlafstörungen oder nervös bedingten Organstörungen leidet, ist es nicht verwunderlich, dass das bekannteste Mittel aus der Volksmedizin, nämlich der Baldrian, gegen die genannten Beschwerdebilder in Eigenmedikation (und in Überdosierung nach dem Motto „viel hilft viel“) verwendet wird. Hier wäre anamnestisch sicher eine höhere Einnahmerate bei den befragten Patienten festzustellen als bei der Kontrollgruppe. Warum wird nicht so argumentiert? Bevor nicht die „Anschuldigungen gegen die Pflanzen“ untermauert sind, gilt „Im Zweifel für den Angeklagten“ – und zwar für die Gesamtindikation und das Gesamtbild der Pflanze.
Dass die Teufelskralle mit ihrer entzündungswidrigen Wirkweise ausgerechnet an der Entstehung einer „Itis-Erkrankung“ ursächlich beteiligt sein soll, erscheint ebenfalls auf den ersten Blick merkwürdig. Da die Pflanze als Bitterstoffdroge bei allgemeinen Verdauungsbeschwerden eingesetzt wird, die oft mit Gallenflussproblemen vergesellschaftet sind, und Gallenwegserkrankungen wiederum zu den Hauptursachen von Pankreatiden gehören, muss auch hier an eine Dosierung in der Selbstmedikation gedacht werden, die höher ist als in der Kontrollgruppe.
Ebenfalls weisen rheumatische Erkrankungen systemische Beteiligungen des Bindegewebes innerer Organe auf. Hier kann eine häufigere Einnahme von Harpagophytum procumbens als Rheumatherapeutikum eine Rolle spielen.
Meine Argumente sind Annahmen – genau wie die der Studie auch. Allerdings sollen sie die Denkweise der Interpretationsmöglichkeiten nicht nur in eine Richtung lenken. ...

Literatur
Ingrid und Peter Schönfelder: Das neue Handbuch der Heilpflanzen. WVG/Kosmos

Anschrift des Verfassers
Peter Germann
Gesundheitshaus Viriditas/PhytAro – Heilpflanzenschule
Im Karrenberg 56
44329 Dortmund
www.phytaro.de



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Naturheilpraxis 5/2015