Akupunktur/TCM

Praxisfall Migräne

Ulrich Neumann

Auch mit Erfahrung und Routine sollte sich ein Behandler eine Portion Unbefangenheit bewahren, einerseits, um der Individualität der Patienten gerecht zu werden, andererseits, um aus der Praxis neue Aspekte und Nuancen zu lernen. Um nun Ihre Unbefangenheit, liebe Leserinnen und Leser, für den folgenden Fall nicht zu beeinträchtigen, möchte ich erst nach der Vorstellung erläutern, was ich daran so bemerkenswert finde.


Die Patientin, 55 Jahre, Hausfrau, macht einen gefühlsbetonten Eindruck, beschreibt sich selbst als aktiv, kernig, mit viel Kraft, ist aber im Gegensatz zu früher schnell erschöpft. Sie kommt wegen Migräne, seit der Pubertät alle vier Wochen, beidseitig, mit Schmerzen innen oben in den Augen, bitterem Erbrechen und stinkendem Durchfall, im Frühjahr und Herbst stärker als in den anderen Jahreszeiten. Außerdem leidet sie unter Ödemen und Schwindel.

Anamnese

Als Kind oft Ohren- und Mandelentzündung, davon ein vernarbtes Trommelfell und Hörschwäche, in der Jugend z.T. extrem viel Sport; als jung Verheiratete bei einem Unfall am Meer Nierenversagen mit Ödemen, Herzrasen, kurzatmig, hatte nachts das Gefühl, gleich zu sterben. Zwei Fehlgeburten wegen abgeknickter Gebärmutter, wurde operativ gerichtet, in der bald folgenden Schwangerschaft keine Migräne, schwere Geburt mit Komplikationen und folgender Total-OP. Die rechte Niere wurde nach vielen Entzündungen entfernt. Ebenfalls häufig Lungenentzündung und vor zwei Jahren viereinhalb Monate Krankenhausaufenthalt wegen u.a. Wirbelsäulen-, Nieren- und Leberentzündung. Durch die Einnahme starker Antibiotika wurde der Gleichgewichtssinn gestört, seitdem Schwindel. Die Menstruation war ab und zu leicht schmerzhaft, Eileiterzysten, Wechseljahre nicht gespürt.

Weitere Befunde

Appetit gut, gern würzig, scharf, Eis, Schokolade, Nüsse, Fett, kein Alkohol, da er schnell Kopfschmerzen verursacht, fühlt sich übergewichtig, de facto nur leicht, Stuhlgang außer bei Migräne gut. Trinkt viel, schlimm, wenn nichts da ist, Urin scharf riechend, weiterhin noch manchmal leichte Blasen- und Nierenentzündung, zwei- bis dreimal nachts auf Toilette, Ödeme an den Beinen, auch Handgelenke und Nacken etwas betroffen, nimmt Diuretika. Karies, Ohrenrauschen, Schwindel besonders im Dunkeln von den Augen aus, wie betrunken. Nackenverspannung, manchmal Bindehautentzündung, leichte Palpitationen.

Pulse: Lungenposition dünn, fein, klein, Erde voll, beide proximalen Pulse tief, ebenso Herz. Leber gespannt, insgesamt links schlüpfrig.

Zunge: feucht, blass, geschwollen, Risse im Lungenbereich. Vorne leicht gerötet, etwas spitz und z.T. gespannt.

Vielleicht möchten Sie, verehrte Leser, an dieser Stelle kurz innehalten, um selber zu überlegen, wie dieser Fall zu lösen sei? Es mag sein, dass Ihnen noch wichtige Informationen fehlen. Zudem ist die Behandlung chronischer Krankheiten oftmals ein längerer Prozess und nicht wie ein Rätsel mit einer Lösung. Hier wurde aufgrund der geschilderten Befunde eine Lösung gefunden, d.h. ab Einnahme von chinesischen Kräutern für einen Monat trat die Migräne drei Monate lang nicht mehr auf. Natürlich fehlt bei einer schriftlich vorliegenden Beschreibung der persönliche Eindruck. Die Patientin erzählte alles mit fröhlichem Gemüt ohne Gefühlsein- oder -ausbrüche und ohne Klage irgendeiner Couleur. Auch bei gründlichster Reflexion war keinerlei Leber-Qi-Stau bemerkbar.

Wie sehen Sie diesen Fall?

Wahrscheinlich wurde bereits in Ihrer Ausbildung Migräne als Beispiel par excellence für aufsteigendes Leber-Yang angeführt. Letzteres wird am häufigsten durch einen Leber-Qi-Stau und seltener durch einen Leber-Yin-Mangel verursacht. Der Leber-Yin-Mangel kann aus einem Nieren-Yin-Mangel oder einem Leber-Blut-Mangel resultieren. Ein weiterer Faktor zur Entstehung von Migräne können Nackenverspannungen sein, die aus Sicht der chinesischen Medizin den Qi-Fluss durch die betreffenden Meridiane behindern, es sich also auch um einen Qi-Stau handelt.

Dieser Fall zeigt noch einen anderen Aspekt: Die Nierenschwäche ist zwar offensichtlich, aber woher kommt diese? Bei einer Schwäche in einem Element, hier dem Wasser, zählt das im Nährzyklus vorangehende Element zu den Ver- ...

Anschrift des Verfassers
Ulrich Neumann
Witzelstr. 40
40225 Düsseldorf
Tel. (0211) 9347097

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Naturheilpraxis 9/2014