Krebsforum

Die Mistel - Heilige Pflanze der Druiden

Ernst-Albert Meyer

Die auf Bäumen schmarotzende Mistel (Viscum album) übte immer schon eine besondere Anziehungskraft auf die Menschen aus. Galt sie doch vor allem in der nordischen Mythologie als geheimnisvolle und zugleich heilige Pflanze. Ihr wurden neben Zauberkräften auch eine Vielzahl heilender Eigenschaften zugeschrieben.


In der Lieder-Edda, einer Sammlung skandinavischer Götter und Heldensagen, die im 13. Jahrhundert im christianisierten Island niedergeschrieben wurde, spielt die Mistel eine bedeutende Rolle.

Wie Balder, der Liebling der Götter, starb

Der Liebling der germanischen Götter, der Sommer- und Lichtgott Balder, träumt von seinem Tod. Er erzählt davon seiner Mutter Frigg. In Sorge um ihren Sohn lässt sie alle Tiere, Pflanzen und Steine schwören, ihrem Sohn nicht zu schaden. Nur von der unbedeutenden Mistel verlangt Frigg keinen Eid. Davon erfährt der böse Gott Loki.
Als die Götter sich in fröhlichen Kampfspielen der Unverwundbarkeit Balders erfreuen, holt Loki den Mistelzweig und drückt ihn dem blinden Hödur in die Hand. Er heißt ihn, den Mistelzweig auf seinen Bruder Balder zu werfen. In der Luft verwandelt sich der Mistelzweig in einen Speer und tötet Balder. Zur Strafe werfen die Götter die schuldbeladene Mistel aus dem Himmel hinaus auf die Wipfel der Bäume, in denen sie als „Heilig Heu“ grünt und blüht.

Die Ernte der Mistel

Besonders im Volksglauben der Kelten und Germanen spielte die Mistel eine herausragende Rolle. Über den Mistelkult berichtet der römische Autor Plinius (23–79 n.Chr.): „Die Priester der Gallier (Kelten), die Druiden, kennen nichts Heiligeres als die Mistel und den Baum, worauf sie wächst, besonders wenn dieser eine Eiche ist. Sie verehren den Baum aufs höchste und betrachten alles, was darauf wächst, als Himmelsgabe und als Zeichen, dass dieser Baum von dem Gott selbst auserwählt sei.“ (1)

War den germanischen Völkern schon die Eiche ein heiliger Baum, so glaubten sie, dass die Mistel, die auf seinen Zweigen wächst, eine besondere Kraft hat. Weiter berichtet Plinius, dass es bei den Druiden für die Ernte der Mistel am Neujahrstag besondere Kulthandlungen gab: Nachdem die Druiden unter der Eiche mit der Mistel bestimmte Opferhandlungen vollzogen hatten, wurden zwei weiße Stiere herbeigeführt, deren Hörner mit Kränzen geschmückt waren. Nun stieg der Oberpriester in einem weißen Gewand auf die Eiche, um mit einer goldenen Sichel die Mistel abzuschneiden. In einem weißen Laken fing man die Mistel auf, denn sie durfte nicht den Erdboden berühren. Dann schlachteten die Druiden die Stiere als Opfergaben mit dem Gebet, die Götter mögen die geschenkte Mistel segnen.

Aus der Mistel bereiteten die Priester einen Trank. Er galt nicht nur als wirksames Mittel gegen alle Gifte, sondern verhalf jeglichem Geschöpf zu Fruchtbarkeit und neuer Lebenskraft. Vor allem sollte die gepulverte Mistel Frauen fruchtbar machen. In ihrer Sprache nennen die Kelten die Mistel „All-heal“ (Allheil). Damit galt die Mistel als „Allheil-Mittel“, als Panazee.

Oft verwechselt

Die Mistel schmarotzt auf allen möglichen Bäumen, auf Birken, Kiefern, Tannen, Pappeln, Obstbäumen und verschiedenen Sträuchern. Doch auf einer Eiche ist sie äußerst selten anzutreffen. Wahrscheinlich hat diese Seltenheit den Wert der Eichenmistel als Zauberpflanze besonders erhöht. So hat sie nicht nur im Aberglauben der späteren Jahrhunderte, sondern auch in der Heilkunde eine wichtige Rolle gespielt.
Als „viscum quercinum“ (Eichenmistel) war sie in den Arzneibüchern und Apothekertaxen bis ins 19. Jahrhundert präsent. Doch es gibt noch eine zweite, der Mistel ähnliche Pflanze, die auf Eichen schmarotzt: Loranthus europaeus, die Riemenblume, auch Eichenmistel genannt. Sie besitzt dicke, dunkelgrüne Blätter, die sie aber im Winter abwirft. Im Gegensatz zu Viscum album fruchtet die Riemenblume im Spätsommer und bildet gelbe Beeren. Wahrscheinlich wurden beiden Pflanzen oft verwechselt. So erwähnt Matthiolus (1501–1577) in seinem Kräuterbuch eine Mistel auf Eichenbäumen, die im Winter die Blätter verliert. Damit hat in vergangenen Zeiten wahrscheinlich die Riemenblume oder die auf anderen Bäumen wachsende echte Mistel ...

Literatur
(1) Schöpf, H.: Zauberkräuter. VMA-Verlag, Wiesbaden 1986
(2) Toellner, R.: Illustrierte Geschichte der Medizin. Bd. 3, Andreas Verlag, Salzburg 1990
(3) Engel, F.-M.: Zauberpflanzen – Pflanzenzauber. Landbuch-Verlag, Hannover 1978

(Abbildung: Ingrid Rockstroh)

Anschrift des Verfassers
Ernst-Albert Meyer
Fachapotheker für Offizin-Pharmazie und Medizin-Journalist
Oldendorfer Straße 44
31840 Hessisch Oldendorf

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Naturheilpraxis 9/2014