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Heilung aus dem Internet

„Unser kleiner Knirps hat seit dieser Nacht Dolle durchfall. Muss dazu sagen, dass es gestern spinat gab, wovon er auch eine ordentliche Portion gegessen hat. Sollen wir etwas geben, oder einfach „aussitzen“ lassen? Wir denken nicht dass es magen-darm ist. Man könnte sagen dagegen ist er imun.“

Bei Erkrankungen gehen wir üblicherweise zum Arzt, Heilpraktiker, fragen den Apotheker, die Nachbarin oder den Kumpel – früher auf dem Marktplatz oder am Dorfbrunnen, da war immer wer. Nun, Tempora mutantur, nos et mutamur in illis, heute haben wir dafür das Internet – Google und unzählige Gesundheitsforen. Krankheitssymptome werden gegoogelt und allzu schnell wird so aus dem Spannungskopfschmerz vielleicht wegen Überlastung oder Übersäuerung ein handfester Kopftumor. Wer nicht seelisch sattelfest ist, wird bei dieser Methode schnell zum Hypochonder – aber auch der lässt sich glücklicherweise bis in die letzte Faser ergoogeln – und am Ende geht es dem einen oder anderen wie Goethes Faust: „Da steh ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor.“ Denn wer jetzt mit seinen Symptomen und der aus vielen Seiten herausdestillierten Diagnose auf einem der Gesundheitsforen vorstellig wird, dem ist nun nicht mehr zu helfen. Diese Foren funktionieren meist nach dem gleichen Muster: „Hi Leute, ich habe gerade Kopfschmerzen mit Erbrechen. Ich glaube, es ist eine Migräne. Was hilft? ... Danke im Voraus. Smiley.“ Nun öffnet sich nach diesem „Sesam-öffne-dich-Posting“ eine wahre Schatzkammer von Ratschlägen im Minutentakt .... Es gibt da nichts, was es nicht gibt. Lassen wir die Frage nach der Rechtschreibung von medizinischen Fachbegriffen oder gar Medikamentennamen mal außen vor: Wen interessiert schon der Unterschied von Tramal und Traumeel, wenn’s gut gemeint ist. Helfen wollen alle, schreiben sie. Von Ernährungsumstellung über Kräutertees, Chlorbleiche oder Silberlösung, Schüßlersalze, Aurosoma, Reiki bis zu mal spazieren gehen .... Oder auch sehr beliebt: das meist unscharfe Handyfoto des Ausschlags vom Kind oder sonst wem: „Hi Leute. Was kann das sein? Was hilft? Und danke schon im Voraus. Smiley.“ Dann geht’s auch schon munter los wie beim heiteren Krankheitsraten. Die psychologisch orientierten Ferndiagnostiker fragen dann genauer nach, wie z.B. die Beziehung ist, um dann schnell triumphierend das abgebildete Scharlachexanthem als Beziehungsthema zu outen mit dem therapeutischen Ratschlag, ganz viel mit dem Kind zu kuscheln. Oder: „Lass dein Kind einfach – es heilt sich schon selbst, und bloß zu keinem bösen Doktor gehen, weil der ja Antibiotika gibt und Du weißt schon ... Smiley“. Ab und an mischt sich auch eine Stimme darunter, besser wohl Schreibe, die rät, zu einem Arzt oder Heilpraktiker zur Abklärung zu gehen, und von Eigenexperimenten abrät. Uiii – dann kann es schnell passieren, dass sich ein gewaltiger Shitstorm auf das zweifelnde Haupt dieses Gruppenabtrünnigen ergießt. Ach ja, früher oder später sind wir dann doch bei den Lieblingsthemen dieser Foren: Ernährung. Dann geht’s richtig zur Sache. Dann verhauen sich die Helfer verbal-ideologisch wie bei Asterix wegen des vermeintlich stinkenden Fisches, während die medizinische Frage des Thread-Eröffners zum Glück vielleicht unbeantwortet bleibt: Was soll der denn mit 20 und mehr therapeutischen Ratschlägen anfangen? Soll er alle nacheinander ausprobieren oder den raussuchen, der ihm gerade passt, oder quasi die Quersumme aus allen nehmen? Es ist wie beim Publikumsjoker. Die Masse kann nicht irren. Schon klar, warum so viele Patienten diesen Online-Weg gehen: Einerseits um Zeit und Kosten bei Ärzten/Heilpraktikern zu sparen, und andererseits schwingt ein gewisses Misstrauen diesen Fachleuten gegenüber mit. Anders lässt sich dieses Muster nicht erklären: „Ich war gerade beim Arzt/Heilpraktiker wegen Z. Habe X/Y bekommen. Habt Ihr noch eine Idee dazu? Danke schon im Voraus. Smiley.“ „Vor die Therapie haben die Götter die Diagnose gestellt“ (Prof. Franz Volhard) – und wie soll das online funktionieren? Blutdruckmessung, Harnuntersuchung, gründliche Anamnese etc.? So müssen wir Heilberufe diese Zeichen der Zeit erkennen und noch mehr auf unsere Patienten zugehen, sie noch umfassender informieren, noch mehr für sie da sein. Denn wenn die Internetbehandlung schiefgegangen ist, kommen sie dann doch in die Praxen. Woher ihre Krankheitsverschlimmerung durch vergeudete Zeit herkommt, das werden sie in der Regel wohl nicht erwähnen.

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Christian Reichard, Heilpraktiker
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Naturheilpraxis 7/2014