SPEZIAL

Der „kalte, schlaffe Magen“

Physiologie des Magens

Friedemann Garvelmann

Im funktionsorientierten Denken der Traditionellen Europäischen Naturheilkunde (TEN) beschreibt der Begriff „Magen“ nicht allein das gleichnamige Organ im Oberbauch, sondern er steht als Überbegriff für die assimilatorischen Funktionen, die in der Humoralmedizin als erster Schritt der „Kochung“ bzw. „Coctio“ bezeichnet werden.


Der sehr bildhafte Begriff „Kochung“ beinhaltet, dass die Umwandlung der Nahrung in vom Organismus verwertbare Säfte ein aktiver, energieintensiver Prozess ist, der nur dann optimal realisiert werden kann, wenn die dazu notwendige physiologische Wärme1 der Menge und Qualität der Nahrung entsprechend zur Verfügung steht.
Nach dem Verständnis der TEN wird durch engen Kontakt der Nahrung mit der Magenwand und ihrer intensiven Vermischung die Wärme auf die Nahrung übertragen, wodurch die zuvor „kalte und feuchte“ Nahrung ein höheres energetisches Potenzial erreicht und so der thermischen Situation des Organismus immer ähnlicher wird. Dieser Prozess der energetischen Assimilation wird nach der Resorption des Nahrungsbreis im Dünndarm in zwei weiteren Kochungsschritten analog fortgesetzt und findet seine Vollendung im Sanguis (Blutbildung), das mit seinen warmen und feuchten Qualitäten präzise den Geweben entspricht, zu denen es schlussendlich wird und deren Funktionalität es zu initiieren und zu steuern hat. Es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, die zweite und dritte Coctio ausführlich zu beschreiben. Dieser kurze Ausblick auf die Folgeprozesse der ersten Coctio lässt aber bereits erkennen, von welch elementarer Bedeutung die Magenfunktionen für die Physiologie und die Säftequalität im gesamten Organismus sind. Ist die erste Kochung defizitär, kann auch in den folgenden Kochungsschritten keine optimale Säftequalität erreicht werden. Daher gehen Defizite der Magenfunktionen in ihrer systemischen Bedeutung weit über Krankheiten des Magens als anatomisch definiertes Organ hinaus.

Neben seiner eigenen Verdauungstätigkeit ist der Magen (inklusive Duodenum) auch energetisch-informatives Zentrum sämtlicher am Assimilationsprozess beteiligter Organe. So initiiert der Magen die Tätigkeiten von Pankreas, Galle und des gesamten Darms mit seinem gesamten Drüsensystem. Diese regulativen Funktionen werden im schulmedizinischen Arbeitsmodell durch die von Magen und Duodenum produzierten Hormone Cholezystokinin (Pankreozymin), Gastrin und Sekretin repräsentiert. Weitere wechselseitige vegetative Verknüpfungen zwischen Magen und den übrigen Verdauungsorganen bestehen über den N. vagus. Die zentrale Bedeutung des Magens ist also nicht nur in der Naturheilkunde bekannt, wird aber dennoch in der modernen Medizin weitgehend ignoriert. Doch dazu später mehr.

Die Durchmischung und der Transport des Nahrungsbreis setzen eine adäquate Grundspannung (Tonus) und sinnvolle Bewegungen der Magenmuskulatur voraus. Tonus ist grundsätzlich ein Aktivprozess, der vom Maß der physiologischen Wärme geregelt wird: Vermehrte physiologische Wärme steigert den Tonus, während ein Mangel an Wärme („Kälte“) die Spannkraft reduziert bzw. zusammenbrechen lässt. Nach dem Verständnis der traditionellen Heilkunde bezieht sich der Magentonus nicht nur auf dieses Organ, sondern der Magen wird als „Tonusgeber“ für den gesamten Organismus gesehen – inklusive seelischer Spannkraft.

Ein adäquater Tonus ist auch für die Schließfunktionen der Sphinkteren der Cardia und des Pylorus verantwortlich. Ein sehr häufig auftretendes Symptom in diesem Zusammenhang ist Sodbrennen (vor allem im Liegen), bedingt durch Reflux des Mageninhaltes in die Speiseröhre durch mangelhaften Verschluss des atonischen Magenpförtners – was dann fatalerweise als Hyperazidität fehlinterpretiert und mit Säureblockern „therapiert“ wird.

Hyperazidität/Hypoazidität

Die Fähigkeit des Magens, seine sauren Magensäfte angepasst an Art, Menge und Qualität der Nahrung zu produzieren, kann als Parameter für die Wärme- und Tonusqualitäten des Magens gesehen werden. Eine Hypo- oder Subazidität ist Folge eines Wärmedefizites, während Hyperazidität entweder Folge übermäßiger Wärme oder aber Resultat einer Ersatzausscheidung gelbgalliger Schärfen über die Magenschleimhaut (Ausscheidungsgastritis) ist.
Die Erfahrung der täglichen Praxisarbeit zeigt, dass echte Hyperazidität des ...

Anmerkungen
1In der Literatur wird in diesem Zusammenhang gelegentlich der Begriff „eingeborene Wärme“ verwendet, was korrekturbedürftig ist. Die „eingeborene Wärme“ ist die angeborene Lebensenergie, deren Verlust nicht kompensiert werden kann. Da aber ein ständiger Energiegewinn Voraussetzung für den Prozess der Coctio ist, bevorzugt der Autor in diesem Zusammenhang den Begriff „physiologische Wärme“.
2Von den Herstellern pflanzlicher Galenika werden die Begriffe „Tinktur“ oder „Urtinktur“ (ø) sehr uneinheitlich verwendet. Auch wenn für die Herstellung von Tinkturen andere Vorgaben bestehen als für Urtinkturen, unterscheiden sie sich in ihrer Wirkungsweise und Dosierung nicht maßgeblich. Der Praktiker kann also – je nach Verfügbarkeit – sowohl Tinkturen als auch Urtinkturen rezeptieren. Das wichtigste Kriterium liegt wohl darin, dass von weit mehr Pflanzen Urtinkturen zur Verfügung stehen als Tinkturen.
Diese Aussagen gelten nicht für die Urtinkturen der Fa. Ceres. Für deren Präparate gelten spezielle Anwendungskriterien, die der Firmenliteratur zu entnehmen sind.

Anschrift des Verfassers
Friedemann Garvelmann
Heilpraktiker
Hauptstraße 8
79790 Küssaberg-Kadelburg

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Naturheilpraxis 6/2014