TCM

Ginkgo (Ginkgo biloba)

Von der Signatur zur therapeutischen Anwendung

Margret Rupprecht

Einer späten Liebe, der Begegnung des alten Goethe mit der jungen Gattin des Barons von Willemer, verdankt die deutsche Literatur eines ihrer schönsten Liebesgedichte. Im Jahre 1814 lernt der fünfundsechzigjährige Dichter die damals dreißigjährige Marianne von Willemer kennen und war höchst angetan von ihrem „allerliebsten“ Wesen. Marianne war leidenschaftliche Goetheleserin und kannte ganze Partien seines Werkes auswendig. Ein Jahr später kommt es zu jener berühmten Liaison, als beide mehrere Wochen auf dem Landsitz der Willemers, der Gerbermühle am Main, verbringen. Es bleibt ein reizvolles Geheimnis, was genau zwischen beiden geschah.


Sicher ist, dass die Begegnung mit Marianne, wie so oft bei Goethe, zu einer emotionalen Verjüngung führte und eine besondere poetische Produktivität nach sich zog. In jenen Wochen entstanden mehr als dreißig Liebesgedichte, dessen berühmtestes den Ginkgo als Symbolpflanze der Liebe preist:

Dieses Baumes Blatt, der von Osten
meinem Garten anvertraut,
gibt geheimen Sinn zu kosten,
wie’s den Wissenden erbaut.
Ist es ein lebendig Wesen,
das sich in sich selbst getrennt?
Sind es zwei, die sich erlesen,
dass man sie als eines kennt?
Solche Frage zu erwidern,
fand ich wohl den rechten Sinn;
fühlst du nicht an meinen Liedern,
dass ich eins und doppelt bin?

Diese Zeilen ließ Goethe, mit Ginkgoblättern verziert, kurz nach seinem 66. Geburtstag Marianne zukommen, Ausdruck seiner leidenschaftlichen Verehrung und der Erfahrung von Ganzheit, die er in der Begegnung mit dieser Frau noch einmal erlebte. Goethe und die verheiratete Marianne sahen sich niemals wieder.

Die Signatur des Ginkgoblattes berührt ein Urthema des Goethe’schen Werkes. Die Zweilappigkeit der Blattstruktur gilt seit jeher als Symbol für Polarität, die in der Goethe’schen Naturbetrachtung als Grundprinzip der Natur gesehen wird. Das Wirken polarer Kräfte beruht auf dem Wechsel von gegensätzlicher Aufspaltung, Spannung, Ergänzung und Wiederzusammenfügung. Eine Kraft tritt in zwei entgegengesetzte Impulse auseinander, die bald nach ihrer Trennung erneut zur Vereinigung streben. So empfand Goethe die Natur; dieses Thema durchzieht sein dichterisches Werk wie ein leiser Hauch, spiegelt sein Selbsterleben als Mensch und als Mann – und findet unermüdlich seinen Ausdruck in den Dichtungen. Wie stark Goethe die Polarität des Daseins zu empfinden vermochte und immer wieder um die Verbindung des Getrennten rang, zeigt sich auch in einem etwa zehn Jahre später in Weimar geschriebenen Gedicht:

Wer sich selbst und andre kennt,
wird auch hier erkennen:
Orient und Okzident
sind nicht mehr zu trennen.

Sinnig zwischen beiden Welten
Sich zu wiegen, lass ich gelten;
Also zwischen Ost und Westen
sich bewegen, sei zum Besten!

Das Ganzheitserleben durch die Verschmelzung der polaren Daseinskräfte – sei es von Mann und Frau oder „Osten“ und „Westen“ mit der ganzen hinter diesen Begriffen stehenden Symbolik – ist nicht nur Leitmotiv vieler Goethe’scher Dichtungen: Es erinnert auch an das östliche Yin-Yang-Symbol, das anders, aber durchaus ähnlich wie ein Ginkgoblatt die Zusammengehörigkeit der zwei polaren Kräfte zum Ausdruck bringt. In der Verschmelzung der Gegensätze entsteht trotz ihres unaufhebbaren Getrenntseins ein Ganzes.

Ginkgo – Heilung eines kulturellen Ungleichgewichts

Die Blattnervenstruktur des Ginkgos hat eine zutiefst geheimnisvolle, ja archaische Ausstrahlung auf den Betrachter. Evolutionsgeschichtlich jüngere Bäume weisen meist Blätter mit einer netzartig verzweigten Nervenstruktur auf: Es gibt einen Hauptnerv in der Blattmitte, von dem kleinere Seitennerven seitlich abzweigen, die sich wiederum in zartere Bahnen aufspalten. Anders beim Ginkgo, hier findet man ein streng zweiteilig gegabeltes Verzweigungsmuster: Der Ursprungsnerv teilt sich in zwei gleich starke Folgenerven, die sich wiederum in zwei kleinere Nerven aufspalten und so weiter. Vom Ursprung des Ginkgoblattes ...

Literatur:
Marianne Beuchert: Symbolik der Pflanzen. Insel Verlag, Frankfurt 2004
Ursel Bühring: Praxis-Lehrbuch der modernen Heilpflanzenkunde. Grundlagen – Anwendung – Therapie. Sonntag Verlag, Stuttgart 2005
Dagmar von Gersdorff: Marianne von Willemer und Goethe – Geschichte einer Liebe. Insel Verlag, Frankfurt 2011
Goethes Gedichte in zeitlicher Folge. Insel Verlag, Frankfurt 1999
Hermann P. T. Ammon: Hunnius Pharmazeutisches Wörterbuch. Walter de Gruyter, Berlin 2010
Roger Kalbermatten: Wesen und Signatur der Heilpflanzen. Die Gestalt als Schlüssel zur Heilkraft der Pflanzen. AT Verlag, Aarau (Schweiz) 2002
Laotse: Tao Te King (in der Übertragung von K. O. Schmidt). Drei Eichen Verlag, Hammelburg 1996
Hildebert Wagner, Markus Wiesenauer: Phytotherapie. Phytopharmaka und pflanzliche Homöopathika. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2003
Max Wichtl (Hrsg.): Teedrogen und Phytopharmaka. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH, Stuttgart 2002

Anschrift der Verfasserin
Margret Rupprecht
Heilpraktikerin und Medizinjournalistin
Hohensalzaer Straße 6a
81929 München

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Naturheilpraxis 5/2014