TCM

Von Leere, Stagnation und Akupunktur

Der Patient im Alter

Christina Eul-Matern

Die meisten Philosophen, die sich mit menschlichem Dasein beschäftigten, haben sich auch über das Alter Gedanken gemacht. Für die meisten ist es eine Phase im Leben, die mit Einsicht, Weisheit, aber auch Zukunftsverlust einhergeht. Die Zeitachse, die hinter uns liegt, wird zunehmend länger, Erinnerungen häufen sich an. Die Zeitachse vor uns verkürzt sich, je nach Empfinden, dramatisch. Je nach Empfinden? Ja, denn unsere Zeitmessung ist ein willkürliches Werkzeug, das sich nach den Umdrehungen und damit Tag- und Nachtzyklen unseres Heimatplaneten richtet. Ein sinnvolles Mittel, aber manchmal auch fatal. Denn unser Zeitempfinden ist subjektiv, ja geradezu individuell.


Was bedeutet Alter? – Eine philosophische Sichtweise

Wenn Momente bewusst, sinnhaft verbracht und erfüllt werden, dann erscheint uns Zeit dehnbar und weit. In Momenten aber, in denen wir abgelenkt sind von uns selbst und vom Sein, verfliegt sie wie ein Schatten und nichts von ihr scheint zu verbleiben. Auf diese Weise kann man sogar einen Verlust von Zeit erfahren. Wertvolle Lebenszeit scheint sich zu verflüchtigen. Gegen Ende eines Lebens scheint sich die Zeit, die wir in die Zukunft verlagern, zu verkürzen. Perspektivlosigkeit kann aus unterschiedlichen Gründen entstehen und intensiviert diese Sichtweise noch. Körperliche Schwächen, die manches zuvor Gelebte unmöglich machen, Verlust von Sozialkontakten zu Personen gleichen Alters durch Krankheit oder Tod, Partnerverlust und Isolation, Probleme mit der Nutzung sich rasant entwickelnder technischer Neuerungen im Alltag lassen den alternden Menschen oft in Bewegungs- und Perspektivlosigkeit verharren.

Doch es ist möglich, diese scheinbare Linearität der Zeitachse zu erweitern. Jede Lebensphase hat ihre Besonderheiten in Anspruch, Anforderung, Erfahrung und Erleben. Wir sollten uns jede dieser Phasen bewusst machen, denn sobald wir mitten in ihnen sind, heißt es auch schon wieder loslassen und in die nächste Phase hineinfließen. Schädlich ist einzig die Stagnation. Mit zunehmendem Alter wächst auf diese Weise ein Schatz an Lebenserfahrung. Wenn diese Erfahrungen sich mit der Wahrnehmung des Selbst in der Umwelt synchronisieren lassen, dann können wir in einen Zustand von Gelassenheit und Leichtigkeit einmünden. Dann entsteht aus einer übergeordneten Sicht auf die Dinge und ihre Zusammenhänge eine Weisheit, die der Zeit eine andere Dimension gibt. Zeit gewinnt damit Tiefe und kann dadurch den Lebenszeitraum erweitern. Wenn wir alternden Menschen helfen wollen, sollte neben der medizinischen Hilfe und körperlichen Unterstützung der Aspekt der Harmonisierung mit dem Zeitgefühl nicht außer Acht gelassen werden. Ein wesentlicher Faktor des Sich-gesund-Fühlens ist das Erfahren einer Stimmigkeit von Selbstgefühl mit der Rolle in der Umwelt.

Was passiert aber, wenn die kognitiven Fähigkeiten nachlassen und mit medizinischer Hilfe nicht mehr aktivierbar sind? Die Demenz ist eine tückische Erkrankung, aber auch sie verschiebt Zeitachsen und sollte ebenso aus dieser Sicht eine besondere Betrachtung erfahren. Beim Demenzpatienten erscheint das Hier und Jetzt absolut und das Vorher und Nachher verschwinden im Nebel der Zeitachse. Was in jedem einzelnen Moment stattfindet, was wir in diesem speziellen Moment spüren, ist wichtig. Demenzkranke werden wahr und wahrhaftig in ihren Äußerungen. Die Zeit scheint nicht mehr linear zu verlaufen, sondern erfährt eine zuvor unbekannte Tiefe. Oft tritt Wesentliches an die Oberfläche, was ein Leben lang verborgen schien. An Demenz Erkrankte können uns einen Spiegel vorhalten wie sonst niemand. Sie müssen sich nicht mehr um mögliche Folgen ihrer Worte und Taten sorgen. Die Zukunft hat keine Bedeutung mehr. Diese Aspekte sollten wir im Hinterkopf haben, wenn wir mit Demenz-kranken umgehen. Natürlich benötigen sie unsere Hilfe bei alltäglichen organisatorischen, planerischen und praktischen Dingen. Die Alltagsanforderungen im Kontext der Umwelt sind für einen Demenzpatienten nicht mehr allein zu meistern, und wir sollten den Verlauf der Erkrankung so weit wie möglich mildern. Aber ein Teil der Therapie muss sich unbedingt mit dem notwendigen Gefühl der Stimmigkeit von Selbstgefühl und Umwelt befassen. Denn als Gesundheit wird laut Definition der WHO immer noch ein „Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen“ bezeichnet.

Zyklen des Lebens – wann beginnt das Altern?

Sowohl die westliche als auch die östliche Wissenschaft kennt definierte Abschnitte

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Literatur
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Focks, C., Hillenbrand, N.: Leitfaden Traditionelle Chinesische Medizin. 2. Aufl., Urban und Fischer, München 2000
Deadman P., Al-Khafaji, M., Baker, K.: Großes Handbuch der Akupunktur. 1.Aufl., Erich Wühr, Kötzting 2000
Bschaden J.: Shen-Akupunkturatlas. 1. Aufl., Springer, Berlin 2000
Rentsch, Th., Vollmann, M.: Gutes Leben im Alter. Reclam, Stuttgart 2012
Müller, J. V.: Den Geist verwurzeln. Müller & Steinicke, München 2004

Anschrift der Verfasserin
Dr. Christina Eul-Matern
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Naturheilpraxis 5/2014