TCM

Alte Rezepturen

Angepasst an moderne Erkrankungen

Gerd Wiesemann

Obschon die Chinesische Medizin manchem veraltet oder unwissenschaftlich erscheinen mag, ist sie doch nach wie vor hochaktuell. Das wird deutlich, wenn wir die alten Rezepturen und ihre enorme Wirksamkeit bei modernen Erkrankungen betrachten. Eine geschichtliche Einordnung chinesischer Rezepturen.


Die Chinesische Medizin (CM) ist geschichtlich betrachtet eine alte Medizin in einem modernen Gewand. Oder: Die Chinesische Medizin ist eine moderne Medizin mit alter Tradition. Sie mutet in mancher Hinsicht recht archaisch und in naturwissenschaftlicher oder medizinischer Hinsicht vielleicht sogar unwissenschaftlich an.

Akupunktur und ihre begleitenden Therapien wirken altertümlich und erinnern zum Teil an magische Rituale, gleich den Praktiken eines Voodoo-Zauberers, der direkt das Opfer nadelt.

Auch die Rezepturen ähneln einer Hexenküche aus alter vergangener Zeit. Es stehen Skorpione, Tausendfüßler, Kakerlaken, Zikadenpanzer, aber auch Würmer und dergleichen auf dem Speise- respektive Rezepturenplan.

Die einzelnen Methoden der Chinesischen Medizin sind aber alles andere als alt. Betrachten wir z.B. eine ganz neue, hochwissenschaftliche Methode in der Zahnmedizin. Britische Forscher entwickelten eine „neue“ Methode, um eine Zahnwurzelresektion zu vermeiden. „Kleine Schnitte in das Wurzelkanalsystem sollen dabei eine kontrollierte Blutung auslösen, die die Pulpa zur Regeneration anregt“ (1), um einen entzündeten Wurzelkanal zu retten. Eine Methode, die an die Technik des Stechens der Netzgefäße (Ci Luo Fa) erinnert und die im Huang Di Nei Jing schon vor 2000 Jahren erwähnt wird.

Auch die Kräutertherapie ist ein durchdachter Strategieplan, eine Schlachtanordnung, gerichtet gegen die Krankheit. Sie überlässt nichts dem Zufall. Kräuter, Mineralien, selbst tierische Produkte werden aufgestellt wie Schachfiguren in einem Spiel gegen einen teils übermächtigen Gegner. Zum einen sind die Kräuter gedacht als Stärkung und Regulierung des Immunsystems (Fu Zheng). Zum anderen dienen die einzelnen Arzneimittel dazu, ähnlich Pfeilen und Schwertern, die Pathogene auszumerzen (Qu Xie). Dabei werden die Rezepturen immer so zusammengestellt, dass die Harmonie zwischen Yin und Yang und der Ausgleich von Qi und Blut nicht gefährdet werden.

Die Chinesische Medizin hat sich seit Anbeginn stetig weiterentwickelt und sich den unterschiedlichsten Veränderungen angepasst. Dies geschah aber immer in dem Sinne, dass auf altes Wissen aufgebaut wurde. Hierbei entstanden keine vollständig neuen Ideen und Theorien. Neue Erkenntnisse verdrängen die alten nicht, sondern ergänzen sie. Neues basiert auf dem Huang Di Nei Jing, den Klassikern von Zhang Zhong Jing, stützt sich auf die Werke der vier großen Ärzte der Jin- und Yuan-Dynastie, dem Wissen der Wen Bing Xue Pai und all der gelehrten Ärzte der Vergangenheit bis hin zur Neuzeit. Selbst die westliche Medizin wurde und wird integriert. Ganz im Sinne von Zhang Xichun (1860–1933): „Chinesisch im Herzen, westlich, wo angemessen.“ (2)

Als man im letzten Jahrhundert versuchte, die Chinesische Medizin durch die TCM an die Kette zu legen, um sie von vermeintlich Unsinnigem zu befreien, erlahmte sie nicht. Mit dem Ansturm der Westler auf China, die dort die TCM erlernen wollten, hat sie im Heimatland eine Renaissance erlebt. Insbesondere seit dem Ausbruch von SARS. Die Forschung und das Studium der Klassiker lieferten die notwendigen Informationen und die Rezepturen, die zur Bekämpfung dieser Epidemie notwendig waren. Durch den Erfolg der Chinesischen Kräutertherapie in der Behandlung von SARS erfolgte nicht nur eine größere Anerkennung der TCM, sondern auch eine Rückbesinnung auf die alte Tradition und die klassischen Schriften.

Wie können altes Wissen und alte klassische Rezepturen moderne Erkrankungen behandeln?

Die Erkrankungen der Vergangenheit sind doch verschieden von denen der modernen Zeit, wie können da alte klassische Rezepturen dennoch benutzt werden?

Hierzu gibt es einen wichtigen Ausspruch: „Wenn ein äußeres Pathogen die Menschen attackiert, kann man oft nur schwierig erkennen, was die Ursache ist. Doch die Symptome und Zeichen, die sich dadurch zeigen, kann man differenzieren. Durch diese Reaktion kann man dann erkennen, woran man ist.“ (3)

Krankheitsursachen und Krankheit haben sich verändert, aber die Reaktionen (Symptome und Zeichen) des Körpers auf die unterschiedlichsten Krankheitsauslöser sind gleich geblieben. Diese Symptome und Zeichen gilt es in der Chinesischen Medizin als spezielle Krank-

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Anmerkungen
1 Zi ist in etwa gleichbedeutend mit einem Künstlernamen oder hier Gelehrtennamen, Ming ist der eigentliche Geburtsname, Xing ist der Nachname oder Familienname, der vom Vater an die Kinder weitergegeben wird.
2 Hao ist in etwa ein „Spitzname“, Kosename oder ein Name, der hier mit dem Ort (Yi Shui) in Verbindung steht, wo er herkommt. Xian-Sheng bedeutet etwas Ähnliches wie Meister oder Lehrer.
3 Ren Yinqiu (1914–1984), einer der „Wu Lao Shi“ (die fünf alten Ärzte/Lehrer) aus Beijing, etablierte das neue Studienfach „Ge Xia Xue Shuo“ (Scholars oder Lehre der verschiedenen Schulrichtungen/chinesischen Ärzte). Das „Zhong Yi Ge Jia Xue Shuo“ (Theorie der verschiedenen klassischen chinesischen Ärzte) Shanghai 1981 ist hauptsächlich von ihm.
4 Jie Gu bezieht sich auf den Zweitnamen von Zhang Yuansu.
5 Es gibt noch ein paar andere Varianten von Shao Yao Tang.

Literatur
(1) „Wurzelbehandlung ade“: http://www.zwp-online.info/de/zwpnews/dental-news/branchenmeldungen/wurzelbehandlung-ade, abgerufen am 5.3.2014
(2) Zhang Xichun (1860–1933): Chinesisch im Herzen, westlich, wo angemessen: Essays zur Untersuchung einer integrativen Form der Medizin
(3) Qian Huang (Shang Han Shuo Yuan Ji): Collections of Returning to the Origins of Shang-han Lun, Qing-Dynastie
(4) Huang Huang, übersetzt von Michael Max: Ten Key Formula Families in Chinese Medicine, 2009
(5) Fei Boxiong (1800–1879): Yi Chun Sheng Yi, Kap. Si Jia Yi Tong
(6) Mitchell C.; Ye F., Wiseman, N.: Shang Han Lun, On Cold Damage, Paradigm Publication, 1999
(7) Siehe dazu auch Gerd Wiesemann: Pao Zhi (Verarbeiten und Veredeln von Arzneien) 2010 in 7.3 Leitfaden Chinesische Medizin
(8) Xue Shengbai (1681–1770): Systematic Differentiation of Damp Heat (Shi Re Tiao Bian)
(9) Wu Jutong: wen bing tiao bian (Systematische Differenzierung der Wärme-Erkrankungen) 1798

Anschrift des Verfassers
Gerd Wiesemann Ph. D. TCM Hangzhou
Mercurius Kolleg für Chinesische Medizin
Tombergerstaße. 27
53359 Rheinbach
E-Mail: gw@tcm-germany.de
www.tcm-germany.de
www.tcm-academy.com

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Naturheilpraxis 5/2014