Akupunktur/TCM

I Ging

Spiegel seelisch-geistiger Prozesse

Jochen Gleditsch

Das chinesische Orakel ist seit Jahrtausenden geschätzt – im Westen ebenso wie im Osten. Viele große Geister, wie C.G. Jung, Hermann Hesse, Werner Heisenberg, Lama Anagarika Govinda, haben sich mit großer Bewunderung zum I Ging, dem Buch der Wandlungen, geäußert. Über das Orakel hinaus gilt I Ging als eines der ältesten Weisheitsbücher der Menschheit.


Im I Ging wurde erstmals ein binärer Code, eine Chiffrierung mittels zweier einfacher Zeichen, verwendet: ein Code mittels ungebrochener und gebrochener Linien. Dem Orakel liegen 64 Hexagramme – sechs Linien-Etagen – zugrunde; zu jedem der 64 Hexagramme gehört ein lebensberatender Spruch, eine Art Metapher. Forscher, die sich intensiv mit dem I Ging beschäftigt haben, fanden heraus, dass die 64 Hexagramme eine erstaunliche Parallele zu den 64 Codons des genetischen Codes des Menschen aufweisen. 

Während die Hexagramme – als Orakelsprüche – dem Fragesteller eine lebensberatende Antwort geben, liegt in der Urstruktur des I Ging – einem Achter-Modell – die eigentliche Grundlage für alle Besonderheiten des I Ging. Dieses Achter-Modell setzt sich aus acht Trigrammen zusammen: Linien-Zeichen in drei Etagen. Diese acht Trigramme wurden von Anbeginn mit speziellen Namen und Eigenschaften bezeichnet, mit der Natur entlehnten Begriffen wie Berg, Wasser, Feuer etc. Weit aufschlussreicher sind die Eigenschaften, z.B. sanft, abgründig, erkennend etc. In einem der traditionellen Kommentare zum I Ging finden sich darüber hinaus Symbolfiguren beschrieben, die jedes Trigramm charakterisieren. Diesen Symbolen ist in der umfangreichen Literatur zum I Ging bisher kaum Beachtung geschenkt worden. Doch verhelfen gerade diese Strichfiguren zu einer Deutung, die zu einem Bild des Menschen hinführt: zu acht Stufen seiner seelisch-geistigen Entwicklung, dem Weg seines Reifens und Werdens, wie ihn C.G. Jung als Individuation beschrieben hat. Etliche weitere Menschenbilder – meist als Vierer-Modelle aus verschiedenen Kulturen und Zeitepochen bekannt – lassen eine Parallele erkennen zu dem Bild, wie es sich aus dem Bogen des I-Ging-Achterkreises ergibt.

Die Besonderheit des I-Ging-Modells, wie es sich in den Trigrammen mit ihren Namen, Eigenschaften und Symbolen darstellt, liegt in der Achterstruktur. Diese lässt sich als eine gedoppelte – „gespreizte“ – Vierer-Ordnung entlarven. Jeder der vier Bereiche erfährt durch die Spreizung zur Acht einen Aktionsraum, ein Spektrum, das die einzelnen Wesensbereiche in ihrem dynamischen Entfaltungsprozess erkennen lässt. So wird für die von C.G. Jung definierten Vierer-Modelle – die vierstufige Individuation ebenso wie die vier Grundfunktionen der Psyche – ein Aktionsraum wie auch eine Dynamik für jeden Teilbereich offensichtlich: Ein verständliches und anschauliches Bild der seelisch-geistigen Entfaltung wird transparent.

Für den Therapeuten, speziell den mit der TCM vertrauten. ergibt sich mit diesen neuen Bildern vom Werdegang des Menschen eine erweiterte Sicht seiner Patienten: Er vermag das Individuum auf seinem Weg – seinem Reifen und Werden – zu erkennen und auf diese Weise sinnvoll zu begleiten. Der Therapeut sieht im „Leber-Typ“ nicht mehr nur den von „Wut und Zorn“ Gezeichneten mit seinem aufsteigenden Leberfeuer, sondern durchschaut das viel breiter gefächerte Bild: den Menschen zwischen seinen beiden emotionalen „Polen“ – zum einen den Menschen mit aufwallenden, oftmals unbeherrschten Affekten (Leberfeuer); zum andern den mit Anpassungsfähigkeit und Flexibilität. Diese beiden Varianten des Leber-Typs sind im Achterkreis des I Ging als ein Paar (Tochter/Sohn, also w/m) ausgewiesen: Der Sohn (m) findet sich im Symbol eines Dreiecks mit der Spitze nach unten: Das kennzeichnet ihn in seiner „unteren Mitte“(Dantian, Hara) wie auch in seiner „Oberbreite“ (ausladende Schultern, Platzanspruch!). Die Tochter (w) ist im Symbol einer „Wippe“ gespiegelt, einer Horizontalen, die auf zwei gespreizten Beinen balanciert: Hier wird Anpassungsfähigkeit als Dreh- und Wendemoment deutlich ablesbar. Dank dieser bildhaften Darstellung des emotionalen „Spielraums“ gewinnt der Therapeut einen Einblick in die psychische Analogie – in das weite „Leber-Spektrum“. Er kann seinem Patienten erklären, wie er das Gleichgewicht zwischen diesen beiden Kräften besser finden und steuern kann, und vermag mittels Akupunktur und/oder Phytotherapie die Balance zu regulieren.

Schließlich sei noch ein Symbol erwähnt, das die letzte Etappe des menschlichen Werdens und Reifens versinnbildlicht – des Weges vom Ursprung (Niere!) zum Ziel (Lunge – Herz!), zum Selbst nach C.G. Jung. Dieses I-Ging-Symbol zeigt ausgebreitete, nach oben gestreckte ...

Anschrift des Verfassers
Dr. Jochen Gleditsch
HNO-Arzt
Hetzendorfer Straße 92 A/2/1
A-1120 Wien

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Naturheilpraxis 5/2014