Akupunktur/TCM

Qi - Von der frühen Literatur bis zur Praxis

Stephen Birch

Die innere Ruhe, die den Zustand des Praktizierenden bestimmen soll, ist notwendig für eine erfolgreiche Behandlung des Qi. Diese Aussage taucht mehrfach in der frühen Literatur über Akupunktur auf. Doch wie hat sich diese Sichtweise historisch entwickelt?


Wissen zu erwerben bedeutete in China im Zeitraum zwischen 400 v.Chr. und 100 n.Chr., auf vielen verschiedenen Wegen Überlegungen über die Welt anzustellen und sie zu beschreiben. Damit unterscheidet sich der Wissenserwerb im alten China gänzlich von dem, was wir in unserer heutigen modernen Welt insbesondere im Westen darunter verstehen. Das damalige Wissen war von ganz anderer Natur als das, welches wir heutzutage im Westen in der Schule vermittelt bekommen.

Heute bringt man uns in der Schule ein Wissen über unsere Welt bei, das sich durch gründliche Forschung auf unterschiedlichen Fachgebieten (Physik, Chemie, Biologie etc.) etabliert hat. Unser Wissen bezieht sich auf Dinge dort draußen in der Welt, die unabhängig von uns existieren und deren Eigenschaften genauestens katalogisiert sind. Viele von ihnen stehen in kausalem Zusammenhang zu anderen Dingen (hierfür diente die wissenschaftliche Methode als äußerst nützliches Werkzeug).

In der Traditionellen Chinesischen Medizin, vor allem in ihrer oben genannten Entstehungszeit, war Wissen von ganz anderer Natur: Es war viel praktischer ausgerichtet, denn es ging darum, bestehende Probleme zu lösen.

Ein gutes Beispiel dafür zeigt das Werk des praktizierenden Arztes Chunyu Yis. Ungefähr 150 v.Chr. beschreibt er das Qi nicht als etwas, das sich irgendwo da draußen befindet, sondern er erklärt, wie man es selbst entwickeln kann: „Was das sogenannte Qi anbelangt, sollte man ausgewogen essen und trinken sowie helle Tage für Kutschfahrten und Spaziergänge nutzen, um somit seine Ansichten zu erweitern und Sehnen, Knochen, Fleisch, Blut und Gefäße in gutem Zustand zu erhalten, was wiederum Qi zum Fließen bringt.“

In dem Bewusstsein um die unterschiedlichen Denkweisen stellt man Qi heute üblicherweise als ein philosophisches Konzept dar. Häufig findet man dort eine philosophische Interpretation traditioneller physiologischer Erklärungskonzepte vor.

Ebenso gut könnte man das Konzept einer Zelle ein philosophisches Konzept nennen und demzufolge wäre die Zellphysiologie an sich ein philosophisches Konstrukt. Allerdings verrät uns das nichts über Qi (oder die Zelle!) und lenkt bloß von dem eigentlichen Ziel ab, auf praxisorientierte Weise so etwas wie Qi begreifen zu lernen.

In den vergangenen Jahren habe ich gemeinsam mit Miguel Cabrer Mir und Manuel Rodriguez (beide aus Barcelona) im Rahmen eines Projekts Ursprung, Bedeutung und Anwendung von Qi [üÜ] und den Jingmai [„Sñ¨] eingehend untersucht.1

Dies war dank der Erhöhung von Stipendien über die letzten 15 Jahre möglich. Dass es Stipendien auf den Gebieten Akupunktur und Traditionelle Ostasiatische Medizin (engl. TEAM) in weiterem Sinne überhaupt gibt, scheint weitgehend unbekannt zu sein. Stipendien wurden eher von Praktizierenden in Anspruch genommen, die sich weniger mit Akupunktur oder TEAM beschäftigen. Daher wollten wir diese Bereiche zusammenführen, um Bedeutung und Anwendung des Qi und den Jingmai besser zu verstehen.

In der vormedizinischen (ca. 400 bis 150 v.Chr.) und frühmedizinischen Literatur (150 v.Chr. bis 100 n.Chr.) zur Akupunktur können wir durchgehend verfolgen, wie das Konzept von Qi immer wieder weiter durchdacht und dementsprechend umgesetzt wurde. Dadurch haben wir viele Erkenntnisse gewonnen. Natürlich ist vieles davon nicht sonderlich „wesentlich“ oder „neuartig“, vieles, was praktizierende Akupunkteure ohnehin bereits irgendwie „wissen“. Aber dieses „Wissen“ ist vielmehr auf die innere Überzeugung zurückzuführen, als dass es auf Fakten beruht.

Es macht einen großen Unterschied, ob man im Detail weiß, unter welchen ge- ...

Anschrift des Verfassers
Dr. Stephen Birch
The Japanese Acupuncture Center
W.G. Plein 330
1054SG Amsterdam, Niederlande

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Naturheilpraxis 4/2014