SPEZIAL

Was das Auge übrig ließ

Claude Monet, der graue Star und die Anfänge der abstrakten Malerei

Margret Rupprecht

Wo liegt der Beginn der abstrakten Malerei? Über diese Frage wird unter Kunsthistorikern gern diskutiert, sind doch die Anfänge der Gegenstandslosigkeit eben nicht scharf zu fassen. Gern wird Kandinsky als derjenige bezeichnet, der das erste abstrakte Bild gemalt haben soll, doch gab es einen Maler, der die Auflösung des Gegenstandes viel früher als Kandinsky betrieb und damit den abstrakten Malern die Richtung wies: Claude Monet (1840–1926). Was weniger bekannt ist: Es war eine Krankheit, die den Maler Monet dazu zwang, die Auflösung der Körperlichkeit und Materialität der Dinge hin zur bloßen Erscheinung in seinem Spätwerk so stark voranzutreiben, wie es bei seinen berühmten Seerosenbildern der Fall ist. Monet litt in den letzten zwanzig Jahren seines Lebens unter einem doppelseitigen grauen Star.


Bereits als junger Maler in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts war es Monets Ziel, seine Motive im Freien, also im natürlichen tages- und jahreszeitlichen Sonnenlicht zu malen. Das war neu. Schon damals war Monet bemüht, im Bild das festzuhalten, was er „Augenblicklichkeit“ nannte. Beeinflusst von William Turner, in dessen Bildern sich die Konturen im Licht auflösen, malte Monet seine Motive geprägt von den Licht- und Farbstimmungen verschiedener Tageszeiten. Wetterwechsel oder eine Änderung der Lichtverhältnisse beim Malen konnten ihn zur Verzweiflung treiben. Beim Versuch, den wahren Eindruck eines Augenblicks festzuhalten, musste Monet oft genug scheitern, da er an einem Bild naturgemäß länger malen musste, als der festzuhaltende Augenblick währte. „Ich denke nur noch an mein Bild. Wenn es nicht gelingt, werde ich wahrscheinlich verrückt“, beschrieb er bereits in den 1860er Jahren seine Passion.

Als im April 1874 die Malerfreunde Monet, Renoir, Sisley und Pissarro in den gerade leerstehenden ehemaligen Atelierräumen des bekannten Pariser Fotografen Nadar eine größere Gruppenausstellung veranstalteten, ernteten sie für ihre weniger an der Körperlichkeit als an der Erscheinung der Dinge orientierte Malerei viel Hohn und Polemik. Das dort ausgestellte Bild von Monet – Impression, soleil levant, eine neblige Hafenansicht von Le Havre – brachte den Malern den Spottnamen „Impressionisten“ ein, den sie jedoch schließlich als Ehrennamen akzeptierten und der seitdem den Stil ihrer Malerei bezeichnet: das Zurücktreten der Linie, die Betonung des malerisch Verfließenden, das Ineinanderübergehen von Farbflächen und die Farbigkeit von Schatten. Nicht mehr der wahrgenommene Gegenstand und seine realistische Wiedergabe als vielmehr der Wahrnehmungsprozess und die Färbung der Dinge im Licht eines konkreten Augenblicks standen nunmehr im Mittelpunkt des künstlerischen Interesses.

Der Landschaftsmalerei galt Monets große Leidenschaft. Dabei stützte er sich auf progressive Vorbilder, z.B. Courbet und die Meister von Barbizon. Ihre lebendig wirkenden Landschaftsbilder gingen auch auf das damals gerade aufkommende Arbeiten im Freien – „en plein air“ – zurück. Dieser Gewohnheit blieb Monet bis ins hohe Alter treu, auch wenn er später wegen seiner rheumatischen Beschwerden manche Bilder im Atelier fertigstellen musste. Das schnelle Arbeiten in freier Natur, das Zusammenfassen der Formen, das vom bloßen Abbilden wegführte und die atmosphärische Wirkung eines Augenblicks auf der Leinwand festzuhalten suchte, führten zu einer Bildsprache, die zunehmend stärker von einer Auflösung der Gegenstände geprägt war.

Im Spätwerk des allmählich mehr und mehr erblindenden Malers Monet bekommt dieser Prozess eine Eigendynamik, die über das, was man heute als klassischen Impressionismus versteht, weit hinausgeht. Die Flecken und amorphen Flächenformationen, das Maximum an atmosphärischer Wirkung und der hohe Abstraktionsgrad in den Farbteppichen transzendieren die „Augenblicksmalerei“ des frühen Impressionismus. In den Seerosenbildern des Alterswerks wird die Auflösung des Motivs bis an die Grenzen getrieben.

Monet selber sprach über sein Spätwerk als „Reflexlandschaften“. Denn längst hatten seine Augen die Fähigkeit verloren, Motive scharf zu erfassen und ihre Umrisslinien deutlich zu sehen. Es waren nur noch Farbflecken, die die Netzhaut des alten Monet erreichten.

Kunstgeschichtlich und psychologisch interessant ist die Art und Weise, wie Monet mit seiner Krankheit umging: Zwar klagte er immer wieder über den schleichenden Verlust seiner Sehkraft, dennoch thematisierte er sie nicht in seinem Werk. Vielmehr versuchte er, mit ihr zu leben, und nutzte sie kreativ: Im selben Maße, wie seine Sehschärfe nachließ, ...

Anschrift der Verfasserin
Margret Rupprecht
Hohensalzaer Straße 6a
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Naturheilpraxis 4/2014