FACHFORUM

Die Pflanzen des Jahres 2014

Bernd Hertling

Anders als Blumen- und Baumliebhaber, als Ornithologen, Entomologen oder Reptilien- und Amphibienkundler haben wir Heilpraktiker alljährlich eine doppelte Freude. Wir können uns nämlich sowohl mit einer Arzneipflanze als auch einer Heilpflanze des Jahres auseinandersetzen. Seit 1999 wählt der interdisziplinäre Studienkreis zur Entwicklung der Heilpflanzen, ausgehend vom Institut für Geschichte der Medizin der Universität Würzburg unter Prof. Johannes Gottfried Mayer, die Arzneipflanze des Jahres, während parallel hierzu seit 2003 der Verband der Heilkräuterfreunde Deutschlands, Verein zur Förderung der naturgemäßen Heilweise nach Theophrastus Bombastus von Hohenheim, genannt Paracelsus, die Heilpflanze des Jahres kürt. Letztere entschieden sich für das Jahr 2014 für die Anispflanze, Erstere für den Spitzwegerich, den ich an den Anfang dieser Darstellungen setzen will.


Plantago lanceolata – Spitzwegerich, Arzneipflanze des Jahres

Gestatten Erich Spitzweg, oder besser bairisch als Spitzweg-Erich? Um eventuellen Verwechslungen vorzubeugen, hier gleich der wissenschaftliche Name, Plantago lanceolata L. Jeder kennt dieses Allerweltskraut, das seinem Namen getreu, entlang den Wegen – seien es Wege des Feldes oder der Industrielandschaft – in Staub und Dreck des „Alibigrünzwischenstreifens“ zwischen Straße und Radweg, in Trockenheit und Dürre – aber viel lieber noch in wenig gedüngten Wiesen – sein Auskommen findet. Man muss nicht Willy Astor heißen, um sich mit dem Namen dieses Tausendsassas auseinanderzusetzen, der sich aus dem deutschen „Weg“ und der Endung „rich“ zusammensetzt. Letztere geht auf germanische Sprachen zurück, wobei man unter „rich“ „König“ oder „Herrscher“ versteht. Man denke nur an Königsnamen wie Geiserich, Alarich oder Theoderich. Hier ist eine gewisse Ähnlichkeit mit dem keltischen „rix“, das durch die Figuren aus „Asterix“ bald jedem Kind geläufig ist und die gleiche Bedeutung hat, nicht von der Hand zu weisen. Vermutlich erhielt er seinen Namen aufgrund der Beobachtung, dass nämlich das mehrjährige Kraut, das prächtig mittig auf dem Grünstreifen gedeiht, sein Ährenköpfchen auf dem derben, vierkantig aufgebauten Stängel nach dem Überfahrenwerden durch den Wagen des Landwirts schneller wieder aufrichtet, als die restlichen höheren Gräser es tun. Auf diese Weise wird er zum „Herrn des Weges“.

Im Angelsächsischen Neun-Kräuter-Segen aus dem 11. Jahrhundert heißt es:

„Und du, Wegerich, der Wurzen Mutter /
nach Osten offen, nach innen mächtig! /
über dich Räder rollen, über dich Frauen fahren /
über dich Bräute sich breiten, über dich Stiere stapfen /
allem widerstandest du und widerstehst du /
so widerstehe auch dem Übel und dem Gift und der Ansteckung /
die über das Land fährt.“

Doch er dominiert nicht nur als Herrscher der verschiedensten Wege deren Begleitgrün, sondern er hält auch gleichzeitig die Atemwege frei von schädigenden Einflüssen. Für unsere Vorfahren galt er als die Hustenpflanze schlechthin, sodass das Wort „Spitzwegerichsaft“ als Synonym für Hustensaft gebraucht wurde.

Auch der wissenschaftliche Name läuft unter dem Oberbegriff „sprechender Name“, wo zunächst der lateinische Teil planta (= Fußsohle) auf seine robuste Trittfestigkeit hinweist. Vielleicht kommt die volksmedizinische Indikation, Wegerichblätter zwischen die Zehen zu stopfen oder unter die Sohle in den Strumpf zu stecken, um Hornhaut bzw. Juckreiz zu beseitigen, von einem Wortsympathiezauber. Wer weiß? Sein Wille zur Ausbreitung brachte ihm bei uns auch den weniger sympathischen Namen „Heudieb“ ein, weil dort, wo Wegerich gedeiht, angeblich kein Gras mehr wächst. Ob man diese Bauernweisheit glauben muss, sei dahingestellt, dass sein klebriger Same allerdings allem anhaftet, was mit ihm in Berührung kommt, ist unbestritten, und so verbreitet sich der Wegekönig entsprechend entlang denselben. Er wurde sogar an den Schuhen und Beinkleidern der ersten Auswanderer bis nach Nordamerika eingeschleppt, wo die Indianer den Neophyten „Englishman’s foot“ nannten, da er mit der Ausbreitung der (vorwiegend) britischen Siedler im wahrsten Wortsinne „Schritt hielt“. ...

Anschrift des Verfassers
Bernd Hertling
Heilpraktiker
Nettelkofenerstraße 1
85567 Grafing

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Naturheilpraxis 4/2014