Verdauungstrakt

Artischocke in der Adipositastherapie

Von der Signatur zur therapeutischen Anwendung

Margret Rupprecht

Seit der Antike ist bekannt, dass ein maßvoll geführtes Leben die beste Form des Anti-Agings darstellt, vor allem, wenn es ums Essen und Trinken geht. „Ist der Mensch mäßig und genügsam, so ist auch das Alter keine schwere Last; ist er es nicht, so ist auch die Jugend voller Beschwerden“, schreibt Platon über den Wert des rechten Maßes. Einige Jahrhunderte später formulierte es Seneca, der römische Philosoph, noch deutlicher: „Das rechte Maß, wahrgenommen und gehütet, bewahrt den Menschen vor der Selbstzerstörung.“


Die Idee von der Aurea Mediocritas, der goldenen Mitte, ist keineswegs eine Erfindung der mittelalterlichen Alchemie, bei der man die Sonne in die Mitte des Hexagramms der sieben Planetenkräfte setzte und sie als das belebende und ausgleichende Prinzip des ganzen Kosmos verstand. Schon Cicero bezeichnete mit der goldenen Mitte einen Zustand, quae est inter nimium et parum – der zwischen zu viel und zu wenig liegt. Das Wissen um den Wert der Mitte gehört zu den ältesten Axiomen der europäischen Philosophiegeschichte. Bereits auf dem Apollontempel in Delphi, dessen Wurzeln bis ins 8. Jahrhundert v. Chr. zurückreichen, las man die Inschrift Meden agan! – Nichts zu sehr! Kürzer und prägnanter lässt sich das Postulat von der Wahrung des rechten Maßes kaum zusammenfassen.

Aristoteles hat in seiner Nikomachischen Ethik als Erster den Wert der Mitte – nicht im Sinne von Mittelmaß, sondern von rechtem Maß – genauer definiert und differenziert. Seine dort formulierte Lehre von der Mitte, die Mesótes-Lehre, beschreibt die Tatsache, dass jede Tugend und jeder sittliche Wert in der Mitte zwischen zwei Extremen bzw. Unwerten liegt: Tapferkeit liegt in der Mitte zwischen Feigheit und Tollkühnheit; Freigebigkeit in der Mitte zwischen Geiz und Verschwendung. Diese ontologisch zu verstehende Mitte ist axiologisch, also unter dem Aspekt der Wertlehre gesehen eine Werthöhe.

Ethik ist bei Aristoteles keine Theorie, sondern entwickelt und bewährt sich in der Praxis. So stellt er sich die Frage: Wie trifft man die richtige Mitte? Nur auf den ersten Blick scheint die Mitte das arithmetische Mittel zu sein. Bei näherer Betrachtung erweist sich das arithmetische Mittel aber nicht unbedingt als das Beste: Wenn es zu wenig ist, am Tag gar nichts zu trinken, aber zu viel, zwanzig Liter zu trinken, dann liegt das arithmetische Mittel zwar bei zehn Litern, was jedoch nicht unbedingt das Beste ist. Die Mitte liegt nicht einfach in der Mitte. Die individuell rechte Mitte zu treffen und zu halten galt Aristoteles als ein Höchstmaß an sittlicher Anstrengung, als Maßstab, an dem sich die Extreme zu messen haben, in die abzugleiten stets leichter ist als die dauerhafte Wahrung des rechten Maßes. Dazu ist Kraftanstrengung erforderlich.

So weit der philosophische Exkurs. Er führt zu einem Krankheitsbild, das die Schwierigkeiten mit dem Halten des rechten Maßes auf eine nicht zu übersehende Weise zum Ausdruck bringt: Adipositas. Übergewicht ist die Krankheit des Zuviel, ist Ausdruck einer Dysbalance, bei der das rechte Maß in die Maßlosigkeit abgeglitten ist. Das ist nicht moralisch, sondern lediglich als Beobachtung zu verstehen, wie überhaupt Krankheit nichts mit Moral und dafür umso mehr mit der Not einer Seele und ihrem Ringen um die Bewältigung des Daseins zu tun hat.
Menschen, die das Gefühl für ihr persönliches Maß verloren haben, bei denen – aus welchen Gründen auch immer – das Bedürfnis nach Nahrung und Genuss in ein Zuviel abgeglitten ist, brauchen Unterstützung durch eine beschränkende Gegenkraft, die ihnen hilft, ihre persönliche und individuell zuträgliche Mitte bei der Nahrungsaufnahme wiederzufinden. Dieser Prozess wird von der Artischocke (Cynara scolymus) kraftvoll unterstützt.

Selbstbeschränkung als Ausdruck der Pflanzensignatur

Die Artischocke gehört zur Familie der Korbblütergewächse. Die distelartige, ausdauernde Kulturpflanze mit ihren doppelt fiederschnittigen Laubblättern bildet im ersten Jahr eine Blattrosette und im zweiten Jahr einen bis zu zwei Meter hohen Stängel mit Blütenköpfen. Erntet man sie vor der Blüte, kann man den fleischigen Blütenboden mit den Hüllkelchblättern als Gemüse verwenden. Goethe lernte die Artischocke als Gemüse auf seiner Italienreise kennen und schätzte – Feinschmecker, wie er war – diese Delikatesse dermaßen, dass er einen kleinen Vierzeiler über sie schrieb:

„Ein Liebchen ist der Zeitvertreib,
auf den ich mich jetzt stütze.
Sie hat einen gar so schlanken Leib
und trägt eine Stachelmütze.“

Wobei der „Leib“ der Pflanze so schlank nicht ist – möglicherweise galten zur Goethezeit auch die üppigeren Formen noch als schlank! Die Artischocke hat eine eher massige Gestalt. Die Stängel sind dick, der Blütenkorb üppig und groß und die Hüllblätter ...

Anschrift der Verfasserin
Margret Rupprecht
Quinta Essentia
Heilpraktikerin und Medizinjournalistin
Hohensalzaer Straße 6a
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Naturheilpraxis 3/2014