Berufspolitisches Referat von Ursula Hilpert-Mühlig
Wie wir es seit Jahren gewohnt sind, gab es auch in diesem Jahr zur Eröffnung die politische Rede von Ursula Hilpert-Mühlig, 2. Vors. des „Heilpraktikerverband Bayern“ und Vizepräsidentin des Fachverband Deutscher Heilpraktiker. Die Rede konnte eindringlicher nicht sein, weil sie die Themen aufgriff, die auch die Politik selbst als Fehlentwicklungen in der Gesundheitspolitik sieht und begreift. Somit war bei aller Kritik von vornherein ein gewisser „Schulterschluss“ mit den Repliken und Einlassungen der Politiker gegeben. Man hat die gleichen Probleme und es lag auf der Hand, dass man das Angebot an die Heilpraktiker unterbreitete, bei der Problemlösung zusammenzuhelfen. Hier die Rede:
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,
In seinem Grußwort zu unserer Tagung bezeichnet der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer chronische Krankheiten als eine „Geißel unserer Zeit“.
Nach einer Einschätzung des Robert Koch Instituts in Berlin zählen sie heute in den Industriestaaten „zu den häufigsten und gesundheitsökonomisch bedeutsamsten Gesundheitsproblemen“.
Diese auffällige für uns befremdliche Betonung der ökonomischen Seite chronischer Krankheiten bedeutet im Klartext, dass diese Leiden sehr viel Geld kosten und damit auch die Sozialsysteme sowie die Produktivität der Volkswirtschaft leiden. Und darüber hinaus stellt diese oberste Gesundheitsbehörde unseres Landes fest:
„Im Zuge des medizinischen Fortschritts und des demographischen Wandels treten zunehmend Mehrfacherkrankungen auf, insbesondere im höheren Alter.“
Ich frage Sie, meine Damen und Herren: Was ist das für ein Verständnis von medizinischem Fortschritt, der Menschen in immer größerer Zahl in die Multimorbidität führt?
Solche Mehrfacherkrankungen führen nach den Kriterien der Schulmedizin regelmäßig zu Verschreibungen einer Vielzahl von Arzneimitteln, der sogenannten Polypharmazie.
Die Medikation der verschiedenen medizinischen Disziplinen, die solche Patienten in aller Regel durchlaufen, beträgt nicht selten mehr als ein Dutzend Arzneimittel täglich.
Diese Patienten kommen auch in die Praxen von Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern; nicht zuletzt weil sie unter einer Summierung vielfältiger Arzneinebenwirkungen leiden. Und das Gebot ist, zunächst die Zahl der Medikamente kontrolliert zu reduzieren.
Nicht nur für uns Heilpraktiker gehören solche Aufgaben zu den fachlich schwierigsten Fällen. Auch viele Hausärzte sehen sich mit den Folgen dieser Polypharmazie allein gelassen.
Denn die sonst so breit aufgestellte Wissenschaft bietet keine zuverlässigen Anleitungen, ja nicht einmal Anhaltspunkte wie und in welcher Reihenfolge sich diese Flut von Präparaten verringern ließe.
Jedenfalls versagen in solchen Fällen des Praxisalltags alle Postulate nach evidenzbasierter, in kontrollierten Doppelblindstudien angeblich bestätigter Medizin.
Als einigermaßen gesichert erscheint nur, dass unterschiedlich große Anteile der Multimorbidität aus unerwünschten Wirkungen zuvor verschriebener Dauermedikationen bestehen also „hausgemacht“ sind.
Die übliche Neuverordnung von weiteren Arzneimitteln, um diese Nebenwirkungen erträglicher zu machen, führt zu weiteren Beeinträchtigungen ein Teufelskreis, der nicht selten in medikamentenbedingte Toxikose mit Zusatzleiden führt.
Trotzdem werden solche chronisch Kranken „glücklicherweise“ wie auch von Gesundheitspolitikern regelmäßig betont wird immer älter; ihr Leben könnte dank der Möglichkeiten der heutigen Medizin nahezu unbegrenzt verlängert werden.
Dass die Betroffenen selbst diese Art von Lebensverlängerung nicht als persönlichen Glücksfall empfinden wollen, zeigt die Tatsache, dass inzwischen die Zahl der Patientenverfügungen zur Vermeidung von „Leben um jeden Preis“ beträchtlich angestiegen ist.
Ich will hier nicht bestreiten, dass die Wahrscheinlichkeit, mit zunehmendem Alter für körperliche und geistige Gebrechen anfälliger zu sein, steigt. Aber es gibt keine naturgesetzliche Notwendigkeit, dass damit der Weg in die Pflegebedürftigkeit bis hin zur Heimunterbringung vorgezeichnet ist.
Die Menschen, die mit bewusster Lebensführung und mit individueller Beratung ein hohes Alter bei guter Gesundheit erreichen, sind längst noch nicht ausgestorben.
Und daran müssen wir uns orientieren!
Das heißt, über die Ausübung der Heilkunde hinaus zur präventiven Erhaltung der Gesundheit von Patienten beizutragen. Das ist eines der wesentlichen Postulate der Naturheilkunde, der wir uns entsprechend unserem Berufsethos zutiefst verpflichtet fühlen.
Heilungsprozesse vollziehen sich im Alter in der Regel langsamer als in jungen Jahren, ohne dass man die Beschwerden voreilig als „chronisch“ einschätzen und mit stark wirkenden Arzneimitteln intervenieren muss. Auch dem tragen wir Heilpraktiker Rechnung, indem wir dem Selbstverständnis der Naturheilkunde folgend auf die individuellen Gegebenheiten unserer Patienten eingehen. Das erfordert Zeit und Zuwendung, die wir gerne einbringen und die für jeden heilenden und helfenden Beruf selbstverständliche Haltung sein sollte.
Wenn über chronische Krankheiten gesprochen wird, richtet sich der Blick einseitig auf die immer älter werdende Bevölkerung. Tatsächlich aber waren noch nie so viele Kinder von chronischen Krankheiten betroffen.
Zwar verzeichnen wir einen Rückgang der klassischen Kinderkrankheiten, dafür sind wir konfrontiert mit einer Zunahme an mangelnder Immunkraft, die für eine vitale Selbstheilungsreaktion jedoch unabdingbar ist.
Auch hier ist leider vieles von der Medizin „hausgemacht“, denken wir in etwa an zu frühe, zu häufige und nicht selten auch überflüssige Gaben von Antibiotika. Dazu gibt es längst zahlreiche Studien in verschiedenen Ländern (randomisiert kontrolliert und doppelverblindet), die belegen, dass beispielsweise die Zunahme von Asthma als die am meisten verbreitete chronische Krankheit bei Kindern mit dem Antibiotika-Gebrauch im Säuglings- und frühen Kindesalter signifikant korreliert; ebenso die Zunahme von Allergien und chronischen Hauterkrankungen.
Diese evidenzbasierten medizinischen Erkenntnisse finden jedoch wenig bis keinen Niederschlag im schulmedizinischen Alltag. Und auch die vielfachen wissenschaftlichen Belege über antibiotisch wirksame Pflanzenstoffe, die nicht unterdrückend in das Immunsystem eingreifen, werden dort nicht beachtet.
Zwischen dem Lebensabschnitt des Alters und dem der Kinder- und Jugendzeit gibt es noch die sogenannte „Sandwich-Generation“, die wie wollen wir sie nennen? Erwerbstätige Erwachsene.
Hier erleben wir eine erschreckende Zunahme an chronischen psychischen Erkrankungen wie etwa Depression und Angststörungen; das lässt sich an den Verkaufszahlen von Antidepressiva und Beruhigungsmitteln ablesen, und auch am Anstieg der Suizidrate.
Das Mit-halten-wollen oder müssen in einer zunehmend gesundheitsgefährdenden Gesellschaftsstruktur (Dauerstress, Konkurrenzkampf, Arbeitsplatzsorgen, ständige Verfügbarkeit, zerbrechende Familienstrukturen u.ä.m.), dieses Dauerfitsein wird nicht selten mit leistungssteigernden Medikamenten aufrechterhalten Doping für den Alltag auf Rezept.
Es lässt sich vorausahnen beziehungsweise ist auch schon vielfach belegt, dass chronische Lebensbelastungen sowie die Flut von chemischen Präparaten die Krankheitsbereitschaft insgesamt das heißt körperlich und seelisch, und im Übrigen auch geistig erhöht und chronische Verlaufsformen begünstigen.
Kritische Stimmen und das sind durchaus auch Wissenschaftler sprechen davon, dass dieser „medizinisch-industrielle Komplex“ (ein Begriff des bekannten Philosophen Ivan Illich) die Menschheit an ihrer genetischen Ausstattung trifft und irreversibel schädigen kann.
Solche epigenetischen Vorgänge sind ebenfalls vielfach belegt und sie haben zudem Auswirkungen auf die Folgegenerationen.
Im Übrigen schon vor gut 200 Jahren vom Begründer der Homöopathie, Samuel Hahnemann, erkannt und in seinem Hauptwerk „Die chronischen Krankheiten“ als vererbbare miasmatische Belastungen beschrieben.
Erstaunlicherweise sind nun wir Heilpraktiker (denen man ja keinen Schmusekurs zur Wissenschaft nachsagt) diejenigen, welche die Erkenntnisse aus diesen Studien, dieses evidenzbasierte Wissen in praxi umsetzen. Denn diese Erkenntnisse entsprechen dem Paradigma der Naturheilkunde, das unter anderem besagt, dass jedem lebenden Organismus vitale Selbstheilungskräfte zu eigen sind, die es mit naturgemäßen Mitteln zu fördern gilt: also Therapie für die Lebenskraft, für ein lebensgerechtes Milieu, und nicht antipathisch nur auf Symptome gerichtet und damit die Lebenskraft schwächend.
Und die vielfältigen Heilerfolge oder bleibende Linderung von Beschwerden geben dieser Denkweise durchaus Recht.
Obwohl jene natur- und erfahrungsheilkundlichen Methoden, die unser Berufsbild prägen, in der Bevölkerung große, und weiterhin wachsende Zustimmung finden (lt. demoskopischer Umfragen über 70% der Bürger), werden sie von vielen Vertretern der konventionellen Medizin und selbsternannten Skeptikern, aber auch in meinungsbildenden Medien und Talkshows als „unwissenschaftlich“ diskreditiert oder die Homöopathie betreffend sogar als „Lüge“ plakativ herabgewürdigt.
Leider finden sie damit auch Resonanz unter Politikern, wie aus einer erst kürzlich gestellten Anfrage einer Bundestagsfraktion an den Bundestag hervorgeht mit der Überschrift: „Komplementärmedizin Forschung und Anwendung in Deutschland“
Darin heißt es, dass sich die „Angebote (der Komplementärmedizin) dadurch auszeichnen, dass ein wissenschaftlicher Nachweis ihrer Wirksamkeit regelmäßig nicht vorliegt“ und „die Wirkung zahlreicher Methoden und Konzepte der Komplementärmedizin in erster Linie auf Placebo-Effekten beruht“.
Eine solche pauschalisierende Unterstellung ist natürlich außerordentlich fragwürdig.
Das Wissen beispielsweise über Heilpflanzen und deren Inhaltsstoffe genügt auf breiter Basis höchst anerkannten Kriterien der Wissenschaftlichkeit. Ich weise hier nur auf das umfangreiche Lebenswerk des Münchner Professors Hildebert Wagner vom Zentrum für Pharmaforschung und Pharmazeutische Biologie der Universität München hin, dessen Verdienste mit insgesamt fünf Ehrendoktor-Titeln gewürdigt wurden.
Die osteopathische Therapie ist in den USA und einigen europäischen Ländern eine akademische medizinische Disziplin. Osteopathen arbeiten dort gleichberechtigt mit konventionellen Medizinern in Kliniken zusammen.
Allein in den USA wird die komplementärmedizinische Forschung aus staatlichen Mitteln mit jährlich etwa 125 Millionen Dollar gefördert. Diese Mittel fließen zum Großteil in weltweit führende Universitäten und Kliniken wie Harvard und die Mayo Clinic, die nicht gerade dafür bekannt sind, dass sie Placebo-Phantomen nachjagen.
Es ist immer wieder erstaunlich, wie über die Fülle wissenschaftlich gesicherter Erkenntnisse im Bereich der komplementären und alternativen Medizin hinweggegangen und entgegen aller prüfbaren Tatsachen deren Unwissenschaftlichkeit behauptet wird.
Gleichzeitig erstaunt es aber auch, dass gesicherte Erkenntnisse über medizinische Fehlentwicklungen, über offensichtliche gesundheitsbeeinträchtigende Auswirkungen zu vieler Arzneimittelgaben zu keinem erkennbaren Umdenken beitragen.
Aber ein derart ignorantes Verhalten ist in vielen Wissenschaften leider nicht außergewöhnlich. „Wissenschaftler seien eben auch nur Menschen“, stellte ein bekannter Wissenschaftssoziologe einmal fest, und die Quellen ihres Widerstandes gegen wissenschaftliche Forschung der ja oftmals paradox anmutet seien eher religiöser und ideologischer Natur als rationaler Abwägung.
Das sollte nicht unberücksichtigt bleiben, wenn sie als Experten ihres Fachs wegweisend werden und ihre Äußerungen dann als „Maß aller Dinge“ gelten was sich ja durchaus auch in gesundheitspolitischen Entscheidungen niederschlägt. Politiker sind nicht zwingend auch Fachleute, sie sind oftmals fachliche Laien und daher auf Expertenmeinung angewiesen. Und da hat die jeweilige Besetzung eines Beratergremiums durchaus Einfluss.
Während Wissenslücken in den meisten Wissenschaften nicht als sonderlich bedrückend empfunden werden etwa die letzten Einsichten in den Urknall oder die Todesursachenforschung altägyptischer Mumien , verbergen sich hinter den Erkenntnislücken der Medizin in aller Regel kranke, leidende Menschen, die in ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkt sind. Menschliches Leid auch und gerade in Form chronischer Krankheiten nimmt bedauerlicherweise keine Rücksicht auf den jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis.
Viele der Patienten, die eine Heilpraktiker-Praxis aufsuchen, tun dies nicht wegen einer romantischen naturheilkundlichen Schwärmerei, sondern nach einem oft langen und auch leidvollen Weg durch die Instanzen der Schulmedizin. Sie kommen auf Empfehlung oder inspiriert durch positive Berichte im Bekannten- oder Arbeitskollegenkreis. Und nicht selten können wir mittels unserer unkonventionellen medizinischen Herangehensweise tatsächlich zu einer Linderung der Beschwerden oder gar zur Heilung beitragen.
Naturheilkunde und Wissenschaft passt das zusammen? Warum nicht?
Wie ich bereits ausführte, wissen wir als Heilpraktiker sehr wohl wissenschaftliche Erkenntnisse zu schätzen, insbesondere wenn sie durch methodisch nachvollziehbare Studien und frei von einseitiger dogmatischer Sichtweise und von Lobbygruppen unabhängigen Forschungseinrichtungen erhoben sind.
Nicht anfreunden können wir uns hingegen mit Aussagen, die angebliche Mängel naturheilkundlicher Methoden mittels einer oberflächlichen Abfrage in einer medizinischen Datenbank für Zeitschriftenliteratur festgestellt.
Und mit Hinweisen auf angeblich randomisierte Doppelblindstudien, die irgendwo auf dieser Erde vorgenommen worden waren und deren diagnostische Grundlagen wir nicht überprüfen können, wird dann angeblich bewiesen, dass die vom Patienten so empfundenen Besserungen gar nicht evidenzbasiert sein können und deshalb als Fiktion zu werten sind oder bestenfalls auf Placebo-Effekten beruhen; ergo der Patient irrt, wenn er sich besser fühlt.
Solche Methoden liegen nicht selten medienwirksamen Aufbereitungen zugrunde und gipfeln dann in Forderungen, dass Patienten vor solchen Behandlungen geschützt und Behandler, die solche Methoden anwenden, eingeschränkt gehören. Und solche Forderungen machen auch vor der Politik nicht halt.
Spätestens jetzt wird die Angelegenheit zu einem Demokratie-Problem für mündige Bürger, die ihre Patientenrechte wahrnehmen wollen. Nämlich die freie Entscheidung für Behandler ihrer Wahl und für Therapiemethoden, von denen sie erlebt haben, dass sie ihnen guttun, die von einer Mehrheit der Bevölkerung als günstig bewertet werden.
Meine verehrten Damen und Herren,
Die Anerkennung naturheilkundlicher, komplementärer und alternativer Medizin ist uns ein großes Anliegen. Aus humanitären Gründen, und um deren Erhalt zu sichern.
Hier kann die Politik durchaus Akzente setzen. Sie kann die Rahmenbedingungen vorgeben, in dem sie Lobbyisten-unabhängige Forschung entsprechend fördert.
Und sie könnte sich auch dafür einsetzen, dass Experten aus der Erfahrungsheilkunde also solche, die in zum Teil jahrzehntelanger Praxistätigkeit empirisch gewonnenes Wissen über Wirkung naturheilkundlicher Methoden beisteuern können , dass diese gleichberechtigt neben denjenigen Wissenschaftlern zu Wort kommen, die ihre Kenntnisse aus Statistiken und Metaanalysen beziehen, ohne je selbst Patienten naturheilkundlich oder wie auch immer behandelt zu haben.
Wir Heilpraktiker stehen als die Erfahrungsheilkundler auf diesem Gebiet dafür gerne zur Verfügung.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Naturheilpraxis 1/2014