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Über Büchergelehrsamkeit zum Niedergang

Die Kritiker der komplementären und alternativen Heilverfahrenmissachten elementare Kriterien der Wissenschaftlichkeit

Christian Ullmann

„Wo immer man im klassischen China Ansätze zu Naturwissenschaften findet, waren die Taoisten mit Sicherheit daran beteiligt.“ Diese Einsicht findet sich in dem Essay „Medizin und chinesische Kultur“, und sie stammt von Joseph Needham, dem 1995 in Cambridge im Alter von 95 Jahren verstorbenen Sinologen und Biochemiker, der mit seinem vielbändigen Standardwerk „Science and Civilization in Ancient China“ als die größte Autorität auf dem Gebiet der chinesischen Wissenschaftsgeschichte gilt.1 Die taoistischen Ärzte waren in jenen Zeiten, als sie die grundlegenden Werke der chinesischen Medizin verfassten, der Auffassung – so Needham weiter –, „dass das Studium der Natur für den Menschen wichtiger sei als die Verwaltung der menschlichen Gesellschaft, auf die sich die Konfuzianer so viel einbildeten“. In dieser zum Teil extrem empiristischen Grundeinstellung entstanden nicht nur die klassischen Texte der chinesischen Medizin, der (vor mehr als 2000 Jahren von einer Gruppe taoistischer Autoren verfasste) „Innere Klassiker des Gelben Fürsten“ (Huangdi Neijing), sondern im zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung auch der „Klassiker der Einwände“ (Nanjing) oder etwa um die gleiche Zeit die „Abhandlungen über schädigende Kälte und andere Krankheiten“ (Shanhan Zabinglun), das erste klinische Handbuch der chinesischen Medizin. Schließlich seien noch der „Pulsklassiker“ (Mojing) des Arztes Wang Shuhe erwähnt, der vermutlich von 265 bis 317 lebte, sowie der „Systematische Klassiker der Aku-Moxi-Therapie“ (Zhenjiu Jianyijing), das historisch sicher bestimmte Werk über Theorie und Praxis der Akupunktur und Moxibustion von Huangfu Mi als „äußere“ Therapie im Gegensatz zur „inneren“ Arzneimittelanwendung.2

Der äußerst rigorose Empirismus in der Lehre vom Tao war indes nicht die Sache der konfuzianischen Gelehrten-Beamten, die „hoch oben auf ihrem Richterstuhl saßen, Befehle erteilten und ihre Hände allenfalls zum Lesen und Schreiben gebrauchten“ (Needham). Ihnen galt – nach dem Münchner Sinologen Manfred Porkert3 „die Beschäftigung mit der Natur günstigstenfalls als reizvoller Dilettantismus, meistens aber als sinnlose Spielerei“. Die Konfuzianer waren „Meister in der rationalen Spekulation“, wobei sich ihr Interesse aber „fast ausschließlich auf die zwischenmenschlichen Beziehungen“ (Porkert) konzentrierte. „Wissenschaft ist aber“ – so Porkert weiter – „immer auch eine Frage der Macht, und Machtfragen spielen in den Wissenschaften meistens eine viel größere Rolle, als dies die betroffenen Wissenschaftler zugeben würden oder wahrhaben wollen.“ Und als Vorboten dieser Machtausübung verboten die Konfuzianer nach Needham im Jahre 653 taoistischen und buddhistischen Mönchen und Nonnen, Medizin zu praktizieren und verlangten im Jahrhundert darauf in den Prüfungen der Medizinstudenten auch gründliche Kenntnisse in allgemeiner Literatur und klassischer Philosophie.

Konfuzianische Weltauffassung und Machtansprüche wurden „dadurch bestärkt, dass mit der Einführung des Buchdrucks scheinbar das gesamte notwendige Wissen in den Bibliotheken verfügbar war“ (Porkert). Und damit war ein über Jahrhunderte andauernder Niedergang bis ins frühe 20. Jahrhundert eingeleitet. Porkert weiter: „Der Niedergang der chinesischen Medizin als Wissenschaft – die ja gerade auf dem Spannungsverhältnis von rationalem Theoretisieren und systematischem Beobachten der Wirklichkeit bestand, fiel mit einer Entwicklung zusammen, die die gedankliche Spekulation über die empirische Beobachtung stellte. Damals griff die scholastische Unart um sich, ‚neue’ Bücher aus vorhandener Literatur zu kompilieren, und daran beteiligten sich im Laufe der Zeit immer mehr literarisch gebildete, aber in Medizin nicht ausgebildete Staatsdiener. Es ist leicht einzusehen, dass diese Art der Medizin sehr schnell den Bezug zur Wirklichkeit verlor. Der Verfall der wissenschaftlichen Medizin ist also verbunden mit dem Übergang zur reinen Büchergelehrsamkeit. So gesehen hat die Erfindung des Buchdrucks im 9. Jahrhundert indirekt auch zum Niedergang beigetragen.“

Dieser historische Exkurs in einen fremden Kulturkreis ist erforderlich, um besser verstehen zu können, was sich in Teilen der westlichen Medizin in Bezug auf CAM, die komplementären und alternativen Heilverfahren in Europa, besonders in Deutschland, gegenwärtig zu vollziehen scheint. Denn die Parallelen sind kaum übersehbar evident. Was für die chinesische Medizin die Erfindung des Buchdrucks bedeutete, übernimmt in der globalisierten Welt zunehmend das Internet mit seiner „Googlisierung“, das alles interessante Wissen mit ein paar Mausklicks in Sekundenschnelle auf den Bildschirm projiziert und in Bezug auf CAM-Methoden in Wikipedia zum Teil grob verfälscht. Aber was sich in China über mehr als ein Jahrtausend (und damit nur in einer gründlichen historischen Rückschau erkennbar) vollzog, läuft jetzt im Zeitraffertempo weniger Jahre ab.

Medizinische Datenbanken, von allem „Medline“ der amerikanischen National Library of Medicine, ermöglichen inzwischen fast unbegrenzte Einblicke in die weltweit publizierte Zeitschriftenliteratur, mit Titel, Autorennamen, Quellenangaben und meistens auch Abstracts, die eine ungefähre Übersicht über den Zeitschrifteninhalt vermitteln. Vollversionen der Aufsätze können oft honorarpflichtig abgerufen werden. Das hat konsequenterweise vor etwas mehr als 20 Jahren zu der Einsicht geführt, dass die Fülle der weltweit in der Medizinliteratur veröffentlichten Forschungsergebnisse von Ärzten, die sich in täglicher Praxis um die Behandlung ihrer Patienten kümmern müssen, nicht mehr überschaubar ist. Deshalb sollte diese Literatur von darauf spezialisierten Wissenschaftlern gesichtet, lesbar aufbereitet und dann veröffentlicht werden: Dabei sollten sowohl die wissenschaftliche Zuverlässigkeit als auch ihre Reife für die praktische ...

Anmerkungen:
1
Deutsch in: Needham, Joseph: „Wissenschaftlicher Universalismus. Über Bedeutung und Besonderheit der chinesischen Wissenschaft“, Frankfurt/Main 1979
2 Über die historischen Quellentexte ausführlicher in Porkert, Manfred (Mitarbeit Christian Ullmann): „Die chinesische Medizin“, Düsseldorf, Wien 1982
3 Porkert, Manfred (Mitarbeit Christian Ullmann): „Die chinesische Medizin“, Düsseldorf, Wien 1982
4Evidence-Based Medicine Working Group: „Evidence-based medicine. A new approach zo teching the practic of medicine“, JAMA 4. Nov. 1992
5 http://www.nytimes.com/2001/ 12/09/magazine/the-year-in-ideas-a-to-z-evidence-based-medicine.html
6 Inzwischen im Ruhestand
7 Vgl. etwa die Reportage „Pharma-Sklaven“, WDR, 6. Mai 2013 über Arzneimittelversuche in Indien , http://www1.wdr.de/mediathek/video/sendungen/die_story/videopharmasklaven100.html
sowie „Pharma-Labor DDR“, SpiegelOnline vom 13. Mai 2013. Danach seien zwischen 1970 und 1980 in DDR-Kliniken im Aufrag von westlichen Pharmakonzernen bisher unerprobte Arzneien an „mehr als 50’000 Patienten als Testpersonen (eingesetzt) worden, oft ohne es zu wissen – viele starben. Aufgeklärt wurden die Menschenversuche bis heute nicht“. http://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/ddr-tests-pharmaindustrie-fordert-politik-zum-handeln-auf-a-899551.html.
Ferner: Ursula Hilpert-Mühlig: „Todesfälle durch Arzneimittel-Placebotests in der DDR belegt“, In Naturheilpraxis/Der Bayerische Heilpraktiker, 07-08/2013
8 Shang A, Huwiler-Müntener K, Nartey L, Jüni P, Dörig S, Sterne JA, Pewsner D, Egger M.: „Are the clinical effects of homoeopathy placebo effects? Comparative study of placebo-controlled trials of homoeopathy and allopathy“, Lancet 27.08./02.09 2005
9 Eine Gesamtkritik des Stiftung-Warentest-Buches siehe: Ullmann, Christian: „Fakten über die ‚andere Medizin’. Zur Kritik der Stiftung Warentest an den komplementären und alternativen Heilverfahren (CAM)“, Augsburg 2006
10 Aschner, Bernhard: „Die Krise der Medizin. Lehrbuch der Konstitutionstherapie“, 3. Aufl., Stuttgart/Leipzig 1932
11 Wie sich die chinesische Medizin Anfang des 20. Jahrhunderts einem deutschen Beobachter präsentierte, vgl. Vortisch-van Vlothen: „Chinesische Patienten und ihre Ärzte. Erlebnisse eines deutschen Arztes“, Gütersloh 1914.
12 Horn, Joshua S.: „Arzt in China“, Hamburg 1975
13 Vgl. etwa: Institut für Demoskopie Allensbach: „Naturheilmittel 2010 – Ergebnisse einer bevölkerungsrepräsentativen Befragung“, http://www.ifd-allensbach.de/uploads/tx_studies/7528_Naturheilmittel_2010.pdf
14 Dies geht aus der „Antwort der Bundesregierung“ vom 15. Juli 2013 (BT-Drucksache 17/14377) auf eine „Kleine Anfrage“ der SPD-Fraktion über „Komplementärmedizin – Forschung und Anwendung in Deutschland“ (BT-Drucksache 17/14262) hervor.
15 „MAYO CLINIC Book of Alternative Medicine“, New York 2007

Verfasser:
Dr. Christian Ullmann
Baderfeld 26
86911 Dießen am Ammersee
Telefon (08807) 60 05
E-Mail: christian.ullmann@yahoo.de


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