FACHFORUM

Als Patient beim Henker

Verrenkungen, Brüche und Wunden

Ernst-Albert Meyer

Es ist kaum bekannt: Bis ins 19. Jahrhundert durften Henker mit behördlicher Genehmigung als Therapeuten tätig sein. Viele Scharfrichter stellten außerdem ihre eigenen Medikamente her, die sie ihren Patienten verkauften. Da die Henker als Heiler einen guten Ruf besaßen, gab es häufig Ärger und Rivalitäten mit den studierten Ärzten (Medici) und Apothekern.


Henker sind „unehrliche Leut“(1)! Der erste Scharfrichter wird im Augsburger Stadtrecht von 1276 erwähnt. Denn im 13. Jahrhundert kam es in den meisten Ländern zu einer Trennung von Rechtssprechung und Strafvollzug. Für letzteres stellten die Städte einen Scharfrichter ein, einen Mann, „der mit der Schärfe des Schwertes richtet“. Später setzt sich der Name „Henker“ durch, abgeleitet von „Henken“, dem Ausdruck für „Hinrichtung“. Von Anfang an gehörten Scharfrichter zu den „unehrlichen Leuten“. Als „Ehrlichkeit“ verstand man im Mittelalter und der frühen Neuzeit die Unbescholtenheit des Rufes (Leumund), die persönliche Ehre. Sie war für die soziale Stellung, das ständische Ansehen von größter Bedeutung.

Dagegen bedeutete „unehrlich“ zu sein, aus der Gesellschaft ausgestoßen und von allen gemieden zu werden. In die Kategorie der „unehrlichen Leute“ gehörte man durch seine Tätigkeit: Schäfer, Müller, „fahrendes Volk“, Gassenkehrer, Büttel, Abdecker, Scharfrichter und Totengräber. Mit ihnen wollte niemand etwas zu tun haben. So wurden Scharfrichter nicht in Zünfte aufgenommen, hatten keinen Zutritt zu Wirtshäusern. Ihnen wurde das christliche Begräbnis verweigert, sie durften keine Priester werden und da die „Unehrlichkeit“ vererbt wurde, blieb ihren Kindern meist nichts anderes übrig, als in eine andere Henkers-Familie einzuheiraten. Deshalb waren viele „Henker-Dynastien“ miteinander versippt und verschwägert. Dabei muss bemerkt werden, dass die soziale Ausgrenzung der Henker regional aber recht unterschiedlich war.

Wie kam der Henker zu seinen medizinischen Kenntnissen?

Im Mittelalter lebten die meisten Henker in ärmlichen Verhältnissen. Erst im 16. Jahrhundert besserte sich ihre wirtschaftliche Lage. Deshalb war der Scharfrichter auf Nebeneinkünfte angewiesen: Er beaufsichtigte die Bordelle, reinigte die Kloaken, bestattete Selbstmörder, tötete streunende Hunde, vertrieb die Aussätzigen aus der Stadt und war als Abdecker tätig. Hier war er für den Abtransport verendeter Tiere aus der Stadt verantwortlich, deren Kadaver er verwerten durfte (z.B. die Haut). So gewannen die Henker Hundefett, das als Salbe für entzündete Gelenke bei Mensch und Pferd angewendet wurde. Doch die meisten Einkünfte erzielten die Scharfrichter durch ihre Tätigkeit als Heiler! Wie kam es dazu? Die Tätigkeit des Henkers bestand im Foltern und Hinrichten. Die Folter diente zur Erpressung von Geständnissen, wobei der Scharfrichter darauf achten musste, dass beim „peinlichen Verhör“ keine tödlichen Verletzungen entstanden. Nach der Folter

Anschrift des Verfassers:
Ernst-Albert Meyer
Fachapotheker für Offizin-Pharmazie und Medizin-Journalist
Oldendorfer Str. 44
31840 Hessisch Oldendorf

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Naturheilpraxis 3/2013