Herz-Kreislauf

Bemerkungen zum Weißdorn

Bernd Hertling

Drogen aus den Blüten und Blättern von Crataegus oxyacantha, Weißdorn, gehören zu den bestdokumentierten Phytotherapeutika überhaupt, kann sie doch der Heilpraktiker bei vielerlei Beschwerden ‚rund ums Herz‘ einsetzen. Bevor ich zu den therapeutischen Möglichkeiten, die der Weißdorn bietet, komme, ein paar Worte zur Botanik.


Botanik

In der Regel fällt uns der Weißdorn im freien Feld oder an Waldrändern eher als Strauch ins Auge. Vor allem, wenn man ihn solitär antrifft, lässt er sich dank seiner eigenwilligen Gestalt eigentlich nicht verwechseln. Anders als andere Sträucher wirkt er mehr in sich geschlossen, streckt nicht so deutlich seine seitlichen Zweige ins Umfeld. Diese vollziehen vielmehr eine drehende, wie zurück zum Zentrum orientierte Wuchsbewegung. Auch ohne medizinisches Vorwissen denkt man bei ihm instinktiv an ein Fließen und rhythmisches Strömen. Ja, seine Äste vermitteln einen Eindruck von Kreisen, von kreisförmigen, wenn man so will, tanzenden Bewegungen.

In der Neuen Pinakothek in München findet sich ein mit „Kleiner Weißdorn“ betiteltes Gemälde Franz Marcs, das ich leider hier nicht wiedergeben kann, das diese zugegebenermaßen eher poetische und eigenwillige Sichtweise schön demonstriert. Obwohl es sich bei seinem Motiv ja um eine Pflanze, noch dazu eine verholzende, handelt, wird so etwas wie Bewegung vermittelt.

Unwillkürlich denkt man hier an Goethes These, dass sich alles pflanzliche Leben in Spiralen vollzieht – was sich übrigens neuerdings ja bestens anhand von Zeitrafferfilmen, wie etwa jenen Jan Hafts über Wiese und Wald – deutlich vor Augen führen lässt. Für dieses Strömen hatten schon die alten Völker Europas einen Blick, doch dazu weiter unten mehr.

Obwohl er vorwiegend als Strauch in Erscheinung tritt, kann der Weißdorn auch als Baum auftreten und dann bis zu 18 m hoch werden. Dabei erreicht er mitunter, für ein Kleingehölz nicht unbedingt alltäglich, ein sehr hohes Alter. Es sind nachweislich Exemplare mit einem Alter von 600 Jahren bekannt!

Innerhalb der Rosengewächse, den Rosaceae, gehört der Weißdorn zur Unterfamilie der Maloidae (= Apfelartige). Seine Grundtypen sind der eingriffelige (= mongyna) und der zweigriffelige (= digyna), die jedoch unmäßig bastardisieren und so die eindeutige Bestimmung einer Spezies im Freiland erschweren. Um diese Situation zu vereinfachen, einigt man sich vonseiten der Pharmazeuten auf den Sammelbegriff oxyacantha.

Nicht nur die Signatur der gesamten Pflanze, auch die ihrer Teile weist auf das Einsatzgebiet hin.

So deuten die üppigen weißen Blüten schon auf das massive Vorhandensein von Flavonoiden, gelblichen oder weißen Pflanzenfarbstoffen mit unter anderem gefäßprotektiver Wirksamkeit, hin. Die Faustregel, dass Pflanzen mit weißen Blüten zur Durchblutungsförderung und Energetisierung „taugen“, um das Paracelsische Wort „Tugend“ einmal in der Verbform zu benutzen, wird gerade am Weißdorn deutlich. Übrigens erscheint die „Farbe“ Weiß an Blüten nur für unser Auge „farblos“. Diese Erscheinung entsteht durch Lufteinschlüsse in den Blütenblättern und signalisiert potenziellen Bestäubern wie etwa Honigbienen das Vorhandensein von Nektar. Aber nicht nur ihnen. Kommt man den Blüten einmal so nahe wie auf dem oben zu sehenden Foto, muss man feststellen, dass sich ihr Aroma weitab der Lieblichkeit ihrer Erscheinung befindet. Da der Weißdorn, auch wenn wir gerne dazu geneigt sind, alle Erscheinungen der Natur anthropozentrisch zu be­trachten und es uns schmeichelt, dass sie so ein wertvolles Heilmittel für uns hat wachsen lassen, nicht primär auf den Menschen ausgerichtet ist, sondern selbst überleben möchte, riecht er für unsere Nasen nicht gerade gut. Aasfliegen, die zur Bestäubung der Blüten ausersehen sind, riechen das anders und fliegen den Strauch in hellen Scharen an, um sich Nektar und Pollen zu holen und nebenbei dann für die schönen Früchte im Herbst zu sorgen.

Die Wissenschaft hat herausgefunden, dass es sich um bestimmte, Amine genannte, Geruchsstoffe handelt, die den Blüten ihre leicht urinöse Note geben. Und so ist man als Rezeptierer gut beraten, dem Tee aus Blüten und Blättern bei entsprechend empfindlichen Patienten im Sinne der Compliance ein Geruchskorrigens beizugeben.

Das sehr eigenwillig und charakteristisch geformte Blatt des Weißdorns ist unverwechselbar. Ein Bild sagt hier wohl mehr als hundert beschreibende Worte.

Auch die Früchte, Steinfrüchte mit meist nur einem Einzelkern, da eine der beiden Samenanlagen in der Regel unfruchtbar ist, deuten mit ihrem imponierenden Rot auf Vitalität und Ausdauer hin. Nicht umsonst war Crataegus ein wesentlicher Bestandteil in Paracelsus Elexier ad longam vitam!

Die Haltbarkeit der Farbe ist beeindruckend, so dass frisch gesammelte Früchte noch nach Jahren in ihrer Farbe erstrahlen.

Doch das verblüffendste Phänomen dieses vielverwendeten Strauches sind seine Dornen. Dornen entstehen immer an Vegetationspunkten, wo sich neue Blüten und Blätter bilden. Sie sind, wieder einmal Chapeau à Goethe, „gewandeltes Blatt“. Doch in aller Regel hat sich das Ur-Blatt, wenn es zum Dorn wird und in spitzer Gestalt auftritt, so weit gewandelt, dass sich an ihm nichts Grünes mehr findet. Anders beim Weißdorn. Hier sprosst im ersten Jahr nach der Dornbildung aus dem scheinbar leblosen Teil neues, frisches Grün hervor.

Dornen sind umgewandelte Blätter und wachsen, wie schon erwähnt, an den Sprosspunkten. Stacheln hingegen treten mehr oder weniger willkürlich ubiquitär an Zweigen und Verästelungen, ja sogar an Blättern (z.B. Him- und Brombeere) auf, so hat denn die Rose strenggenommen keine Dornen, sondern Stacheln, und die englische Weisheit every Rose has got it’s thorn darf man nicht mit Dorn übersetzen, auch wenn es phonetisch nahe läge.

Weißdorn in der Therapie

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Mythologie

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Literatur:
Bäumler, Siegfried: Heilpflanzenpraxis heute, München, 2007.
Brosse, Jacques: Mythologie der Bäume, Freiburg, 1990.
Genaust, Helmut: Etymologisches Wörterbuch der botanischen Pflanzennamen, 3. Aufl. 1996.
Hegi, Gustav: Illustrierte Flora von Mitteleuropa, Bd IV/2 München, 1907.
Karl, Josef: Phytotherapie, München, 1978.
Schilcher, H. et al: Leitfaden Phytotherapie, München, 3. Aufl. 2007.

(Fotos im Text vom Verfasser)

Anschrift des Verfassers:
Bernd Hertling
Heilpraktiker
Nettelkofener Str. 1
85567 Grafing


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Naturheilpraxis 12/2012