Spiritualität und Therapie

Der Tempelschlaf

Spirituelle Therapieim antiken Asklepioskult

Max Amann

Alle nun, die da kamen, behaftet mit Gebrechen, die von selbst entstehen, oder von grauem Erz an den Gliedern verwundet oder von ferngeschleudertem Stein, oder von Sommerhitze zerstört die Gestalt oder vom Winter, erlöste er (Asklepios) und machte den einen von diesen, den anderen von andersartigen Schmerzen frei – die einen behandelte er mit sänftigenden Besprechungen, andere ließ er Linderndes trinken, oder er legte rings um die Glieder Heilkräuter überall, andere richtete er durch Schritte auf... (Pindar, Dritte Pythische Ode, 4-53)


Ein Arzt, der die Weisheit liebt, ist gottgleich.1

Noch heute gibt es viele Kliniken, die nach Asklepios benannt wurden. Noch heute ist das Symbol der Medizin der Asklepiosstab oder Äskulapstab. Immer noch schwören die angehenden Ärzte den Hippokratischen Eid. Die Medizin kommt ohne Hygiene oder Morphin nicht aus. Es gibt Therapeuten und Therapien. In der Apotheke gibt es Galenica. All diese medizinischen Wörter stammen aus der griechisch-römischen Antike, die von den Namen von Heilgottheiten und berühmten Ärzten abgeleitet wurden.

Der seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. wichtigste griechische Heilgott ist der meist vollbärtig dargestellte Asklepios2, lateinisch Aesculapius3. Sein Hauptkultort (Asklepeion) war Epidauros auf dem Peloponnes, in der Argolis.4 Dorthin kamen Kranke und Heilsuchende um im Tempelschlaf (Inkubation) Traumvisionen von Asklepios zu erflehen. Der Heilgott zeigte sich dann in Träumen, enthüllte die Gründe und Ursachen der Leiden und Krankheiten und offenbarte dem Träumer ein therapeutisch geeignetes Heilmittel, oft eine Heilpflanze. Manche Träumer wurden im Schlaf von dem Heilgott persönlich geheilt. Es wurde sogar berichtet, dass Asklepios manchmal die Tempelschläfer durch chirurgische Eingriffe über Nacht operiert und somit geheilt habe.

Im Asklepeion gab es Priesterärzte, die die Kranken kultisch begleiteten und die im Traum offenbarten Heilmittel zubereiteten und verabreichten. Sie waren zugleich Priester, also Vertreter der Spiritualität, und Ärzte, also Therapeuten oder Heiler. In ihnen vereinigten sich diese Funktionen zu einer Einheit. Der Traum konnte zu einer spirituellen Erfahrung werden, von der anschließend die persönliche individuelle Therapie abgeleitet wurde. Zahlreiche Inschriften (Votivtafeln) an Stelen und Brunnen im heiligen Bezirk von Epidauros zeugen von der Genesung und Dankbarkeit der Patienten. Die spirituelle, geistige und göttliche Erfahrung half dem Träumer, aktiv an seiner Therapie teilhaben zu können.5

Die eingedeutschten Worte Therapeut und Therapie sind abgeleitet von griechisch therapeuein, „heilen“ oder „(Gott) verehren“! Ursprünglich war die Therapie zugleich Heilbehandlung als auch ein spiritueller Prozess. Gesundheit und Spiritualität waren nicht voneinander getrennt, sondern ergänzten sich gegenseitig. In diesem Konzept hatten die nach den etymologisch nah verwandten Worten heil und heilig noch eine holistische Bedeutung.

Der Heilkult im Asklepeion von Epidauros

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Verfasser:
Dr. Christian Rätsch
www.christian-raetsch.de

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Naturheilpraxis 11/2012