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Heimische Ethnomedizin im Allgäu

Peter Germann

Die „Phytaro Heilpflanzenschule Dortmund“ hatte über fünfzehn Jahre das „Sommerforum in der Fränkischen Schweiz“ veranstaltet. Seit einiger Zeit findet der letzte Ausbildungsblock zum Thema „Heimische Ethnomedizin“ im Allgäu statt. Diese Fortbildung für ist primär für Therapeuten gedacht. Sie befasst sich mit unseren eigenen medizinischen Wurzeln und versucht, das alte Wissen in Philosophie und Anwendung in den täglichen Praxisalltag zu integrieren.

Auf tausendzweihundert Metern hatten wir die „Schießer Hütte“ gemietet, zu der nur eine Privatstraße führt. In früheren Zeiten wurde das Haus von der gleichnamigen Unterwäschefirma zum Ferienaufenthalt für Mitarbeiter genutzt, jetzt ist es in Privatbesitz. Beinahe zwanzig Teilnehmer konnten bequem in Zweibettzimmern übernachten und unsere „Phytaro Köchin“ Claudia Backenecker sorgte für das leibliche Wohl. Eine fantastische Aussicht in die Täler machte den Aufenthalt schon allein zu einem Erlebnis.

Ganz in der Nähe liegt der Kräutergarten „Artemisia“. Vor fünfzehn Jahren baute Tilmann Schlosser mit seiner Familie diesen damals heruntergekommenen Hof zu einem wahren Paradies auf. Aus einer Idee ist eine ganze Landschaft gewachsen. Ein besonderes Augenmerk liegt auf der Vielfalt und der Wildnis, die hier langsam um sich greift.

„Artemisia“ ist eine Gärtnerei, welche auch für Pharmafirmen Pflanzen anbaut, ein Seminar- und Fortbildungszentrum.

Tilman Schlosser sagt: “In mir ist ein Garten. Während der Suche im Verborgenen sammle und sortiere ich nach einer anderen Ordnung – meiner Ordnung. Warum verstehen?“

Im nahe gelegenen Stiefenhofen hat Tilmann Schlosser das „Heimathaus Weltengeist“ eröffnet. Aus der alten und der neuen Welt trug er unzählige Pflanzenbücher, unterschiedlichste Kunstrichtungen und Kultgegenstände zusammen. Immer wieder steht die Pflanze im Vordergrund. Die wirklich bemerkenswerte Bibliothek mit vielen Originalen aus dem Mittelalter kann vor Ort gesichtet werden, ein eigenes Nachtschatten Zimmer gibt die Stimmung von Solanaceae wieder, und überall stehen und hängen therapeutische Drogen, wie unter anderem die übermannshohen Dolden der Engelwurz. Tilmann Schlosser versteht sein Haus sowohl als Studienzentrum wie auch begehbare soziale Plastik, das heißt, in dem sich ein Bewusstsein weiterentwickeln kann, das gedeihlich ist für die Entwicklung der Menschen. Es soll kulturenübergreifende Studien ohne Scheuklappen und ideologische Verbrämung ermöglichen. Das Ganze entwickelt sich zu einem öffentlich zugänglichen Besitz und soll vor allem Suchende ansprechen.

„Wissen, das ich aus dem Internet ziehe, befriedigt mich nicht“, erklärt Tilmann Schlosser. „Die Welt ist nicht schwarz oder weiß. Und ich würde mir nie anmaßen, zu sagen: das ist richtig oder falsch.“

Das zusammengetragene Wissen über Kräuter und ihren Zusammenhang mit der Welt ist in diesem „Weltenhaus“ untergebracht. Es sind Bücher aus dem Bereich der Botanik, Ethnobotanik, Kulturanthropologie, mit den Spezialgebieten weltweiter Heilerpraktiken bis hin zu Schamanismus und Animismus. Tilmann Schlosser ging in seinem Leben nicht die Pfade der akademischen Lehranstalten und fühlt sich daher auch keinem wissenschaftszentrischen Denkens verpflichtet.

„Ich habe das Glück, ungebildet zu sein. Deshalb habe ich auch keine Angst, verschiedenste Kulturen und Glaubensrichtungen zusammen zubringen. Meine Suche nach der Wahrheit und dem Geheimnis des Lebens zwischen Licht und Dunkelheit ist stets genährt von der Neugier und Sehnsucht in tiefem Vertrauen in die Lebensfäden, die uns Menschen mit den Tieren und den Pflanzen der Erde, der universellen Schöpferkraft des Himmels und der Geisteswelt dazwischen verbinden.“

Über zwei Tage brachte Tilmann Schlosser der Phytaro- Gruppe die Zusammenhänge zwischen Pflanzen, Wachstum, Interaktionen zu der Umwelt, Signatur und altes sowie neues Naturverständnis näher. Dies ist natürlich nur draußen in Wald und Flur möglich. Es stellte ein schönes und wichtiges Gegenüber zur rein nüchternen Pharmakologie dar, welche in ihrer Aussage zwar stimmig ist, aber nur einen Teilaspekt der therapeutischen Bandbreite und des Interaktionsverständnisses zur Natur in ihrer Ganzheit zeigt. Die Naturheilkunde entspringt nicht dem akademischen Verständnis, sondern den Erkenntnissen der „Ungebildeten“, den Bauern- Philosophen und den Schöpfungsverknüpfungen.

Als weiteres Highlight konnten wir den Ethnobotaniker Dr. Wolf-Dieter Storl gewinnen. Als Autor zahlreicher Bücher, durch Fernsehauftritte und Fortbildungen unter anderem im Fachkreis bekannt, ist er natürlich ein Zugpferd für jeden Phytointeressierten. Seit 1998 lebt er als freischaffender Schriftsteller mit seiner Familie auf einem Einödhof im Allgäu. Storl ist Kulturanthropologe und Etnobotaniker, lehrte über zwanzig Jahre an verschiedenen Universitäten und Hochschulen in den USA, Europas und Indiens. Gleichzeitig betrieb er völkerkundliche Feldforschungen in einer traditionellen Spiritistensiedlung in Ohio, bei alteingesessenen Bauern im Emmental, Medizinmännern der Northern Cheyenne sowie bei Shivaiten in Indien und Nepal. Dieses Konglomerat an unterschiedlichsten Wissensprägungen akademischer sowie ethnologischer Sichten von Therapieansätzen vor allem mit Pflanzen, findet sich in seiner Denkweise und seinen unvergleichlich kurzweiligen Seminaren und Vorträgen wieder. Tage mit Storl werden nie langweilig. Ein schier unerschöpfliches Wissen, was aus der Situation geboren abgerufen werden kann, sein Witz und seine schauspielerischen „Einlagen“ lassen unendlich viele Informationen durch seine Ansprache der verschiedenen Sinnesorgane der Zuhörer geradezu spielerisch aufnehmen. Pflanzen werden in ihrer Umgebung und im Detail betrachtet, gerochen, geschmeckt, zerrieben aufgetragen oder in ihrem Wesen nachgespürt. Es geht nicht, genau wie auch bei Tilmann Schlosser, um abgehobene Pflanzenesoterik, sondern um ein breitbandiges Verständnis der Naturzusammenhänge. Über die schwebenden Philosophen sagte Storl einmal lächelnd: „Die bringe ich in Kontakt mit der Brennnessel – du glaubst gar nicht, wie schnell die geerdet sind!“

Ebenfalls zwei Tage mit Wolf- Dieter Storl waren derart intensiv für die Teilnehmer, dass auf der „Schießer Hütte“ des Abends schon kurz nach dem Essen und nur wenig Wein überall schon die Lichter ausgingen und schlafen gegangen wurde.

Ich hatte die Möglichkeit und Aufgabe, über Pflanzen und deren Wirkungen auf den Ätherleib zu sprechen. Es handelte sich sowohl um bekannte Phytotherapeutika, als auch um nicht gängige Heilpflanzen.

Wie auch in den Jahren zuvor hatte die gesamte Ausbildung zum Thema „Heimische Ethnomedizin“, aber vor allem der gemeinsame Aufenthalt im Allgäu, bei allen Teilnehmern etwas in ihrer Denkweise und Einstellung bewegt. Therapeutische Konzepte werden überdacht und komplettiert, seit Jahren schlummernde Änderungsgedanken finden Umsatz, Freundschaften untereinander bringen neue Projekte hervor und auch Blockaden kommen zum Aufbruch und zur psychologischen Aufarbeitung. Wie in den vorherigen Ethnoausbildungen auch, fanden die zusammenfassenden Aspekte sowie die Präsentationen der Abschlussarbeiten bei „Artemisia“ in der Seehütte statt. Hier standen bei vielen die emotionalen Aspekte wieder im Vordergrund.

Für alle Beteiligten setzt die Ausbildung in „Heimischer Ethnomedizin“ Änderungsprozesse frei, sowohl bei den Teilnehmern, als auch den Lehrenden. Die alte Äußerung „Die Lernenden und die Lehrenden ergeben zusammen die Lehre“ ist hier konkret nachvollziehbar. Daher ist das Angebot zu diesem Thema von mal zu mal anders konzipiert. Es ist nichts Starres, sondern weist eine Kybernetik auf.

Aus den vorherigen Ethnoausbildungen ergeben sich immer wieder selbst organisierte Treffen und Weiterbildungen. So hatte ein Apotheker und seine Frau aus dem Sauerland, der im letzten Jahr seine Abschlusspräsentation vorgelegt hatte, eine Woche vor dem Allgäuaufenthalt zur Drüggelter Kapelle und der Himmelspforte am Möhnesee eingeladen. Zahlreiche Teilnehmer aus dem vorherigen Kurs folgten seiner Einladung zum Austausch und Neuerleben an den beiden beschriebenen Kraftorten östlich des Ruhrgebietes.

Kaspar Schlosser, ein Sohn Tilmanns, sagt: „Schau was dir gut tut und vertiefe es.“

Peter Germann

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Naturheilpraxis 11/2012