Atemtrakt

Thymian
(Thymus vulgaris)

Von der Signatur zur therapeutischen Anwendung

Margret Rupprecht

Alles in der Natur folgt den Gesetzen der Natur. Das ist an der Wirkungsweise von Thymus vulgaris gut zu erkennen, denn Thymian ist eine Heilpflanze, deren Wesen in enger Verbindung steht zum Gesetz der Polarität. Das Wort Polarität leitet sich vom griechischen polos – Pol an der Erd- und Himmelsachse – ab. Von der ursprünglichen Wortbedeutung her heißt Pol eigentlich Drehpunkt. Die Erde hat zwei äußere Pole, die auf den ersten Moment einen Gegensatz zu bilden scheinen. Und doch ist es dieser scheinbare Gegensatz, um den sich alles dreht.


Die Philosophiegeschichte verstand im Laufe der Jahrhunderte unter Polarität das Auseinandertreten einer Kraft in zwei entgegengesetzte und zur Wiedervereinigung strebende Wirkungsreihen, die sich gegenseitig bedingen, ergänzen oder neutralisieren. In der Goetheschen Naturbetrachtung ist die Polarität ein Grundprinzip der Natur: Deren Wirken beruht auf dem Wechsel von gegensätzlicher Aufspaltung, Spannung, Ergänzung und Wiederzusammenfügung.

In der Philosophie des fernen Ostens ist das Polaritätsprinzip ebenfalls und noch ein wenig früher als bei den Griechen formuliert worden. Laotse machte es zu Leitgedanken in seinem Werk Tao Te King, wo es im 77. Spruch folgenden Ausdruck findet:

„Bei seinem Wirken auf der Welt
agiert das Tao so,
wie man einen Bogen spannt.
Das Obere zieht es nach unten;
Das Untere biegt es nach oben.
Es gleicht Überfluss und Mangel aus,
so dass vollkommene Ausgewogenheit herrscht.
Es nimmt von dem, was zu viel ist,
und gibt dem, was zu wenig ist…“

Die kürzeste Hommage an die Polarität allen Seins findet sich allerdings bei den Griechen. Sie besteht aus nur zwei Worten und befand sich als Inschrift über dem Eingang des Apollontempels in Delphi: Meden agan! – Nichts zu sehr!

Auch seelische und körperliche Gesundheit, Lebensglück und Erfolg sind vor allem dann zu erreichen, wenn es gelingt, sich in der goldenen Mitte zwischen zwei Spannungsfeldern zu halten. Das Abgleiten in das eine oder andere Extrem wird oft zur Ursache der Krankheitsentstehung.

Hier liegt ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis des Thymians: Seine intensiven Wärmequalitäten verfügen über die Fähigkeit, einen Menschen, der seelischer oder körperlicher Kälte ausgesetzt war und dadurch krank geworden ist, wieder in die gesunde Mitte zwischen warm und kalt und das ihm entsprechende „Temperaturmaß“ zurückzuführen.

Signaturenlehre und Anthroposophische Medizin

Ob eine Pflanze mehr kühlenden oder wärmenden Charakter besitzt, wird bei der Betrachtung ihrer äußeren Gestalt erkennbar: Wärme ist Energie. Damit eine Pflanze Wärme abgeben kann, muss sie die dafür nötige Energie zuvor in sich gesammelt und gespeichert haben. Dies geschieht durch harte, kompakte und verdichtete Formen, wie sie z. B. bei Rosmarin und Thymian deutlich zutage treten: Die Blätter sind schmal und fest, die Stängel verholzt. Eine Pflanze von hohem Wärmegrad hat wenig Weiches in ihrer Gestalt, sondern wirkt in ihrer stofflichen Erscheinungsform konzentriert, d. h. sie hat ein hohes Maß an Energie gespeichert. Diese Energie kann sie später, nach schonender Aufbereitung zur Arznei, für die Erwärmung des unterkühlten Organismus zur Verfügung stellen.

Die durchwärmende Wirkung des Thymians lässt sich am eindrucksvollsten erfahren, wenn man ein wenig ätherisches Thymianöl auf die Zunge gibt. Dann breitet sich ein mildes, langanhaltendes Wärmegefühl aus. Es ist kein heftiges und strohfeuerähnliches Brennen, das sich rasch wieder legen würde, sondern eine gleichmäßige, tiefe und tragende Erwärmung, die sich im ganzen Brustkorb ausbreitet, Lunge und Magen energetisiert und wie die Glut eines Bullerofens eine angenehme, intensive, jedoch in keiner Weise als zu heiß oder „verbrennend“ empfundene Hitze ausstrahlt.

In diesem Zusammenhang ist eine weitere etymologische Betrachtung interessant: Die Thymusdrüse hinter dem Brustbein und die Heilpflanze Thymus vulgaris leiten sich beide vom altgriechischen Wort thymos ab. Das Wort ist eine in Sprache gebrachte Form von Energie. Seine Bedeutung ist außergewöhnlich vielfältig und reicht von Leben, Lebenskraft, Wille, Lust, Drang, Trieb und Verlangen über Gemüt, Gefühl und Herz bis hin zu Mut, Tapferkeit, Zuversicht und Leidenschaft. In einer weiteren Bedeutung heißt thymos auch Gesinnung, Geist und Inneres. Letztlich bezeichnet es alle Empfindungen, die sich nach menschlichem Gefühl im Brustkorb abspielen. Dahinter befindet sich ein tiefer Sinn: Wenn ein Mensch sich unterkühlt hat,

Thymus – Arzneikraut seit der Antike

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Thymus vulgaris in der Anthroposophischen Medizin

Hustenelixier (Weleda) Sirup

Arzneimittel zur Behandlung von katarrhalischen Erkrankungen der Luftwege mit Thymus als zentralem arzneilich wirksamen Bestandteil, ergänzt von Althaea radix, Solanum dulcamara, Marrubium vulgare, Anisi fructus, Serpylli herba, Extractum Malti, Ipecacuanha und Pulsatilla vulgaris.
Gemäß der anthroposophischen Menschen- und Naturerkenntnis: Bei akuten katarrhalischen Entzündungen der Luftwege, zur Förderung des Abhustens von zähem Schleim und zur Linderung des Hustenreizes.

Pharmakologische Aspekte

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Literatur
Johannes Hoffmeister: Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Meiner, Hamburg 1955
Roger Kalbermatten: Wesen und Signatur der Heilpflanzen. Die Gestalt als Schlüssel zur Heilkraft der Pflanzen. AT Verlag, Aarau 2002
Laotse: Tao Te King. Eine zeitgemäße Version für westliche Leser. Übersetzt von Stephen
Mitchell und Peter Kobbe. Goldmann, München 2003
Gerhard Madaus: Lehrbuch der biologischen Heilmittel. Band 11. Mediamed Verlag, Ravensburg 1990
Hermann Menge: Großwörterbuch griechisch-deutsch. Langenscheidt, Berlin und
München 1979
Henning Schramm: Heilmittel der anthroposophischen Medizin Grundlagen – Arzneimittelporträts – Anwendungen. Elsevier bei Urban & Fischer, München 2009
Hildebert Wagner, Markus Wiesenauer: Phytotherapie. Phytopharmaka und pflanzliche Homöopathika. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2003
Max Wichtl: Teedrogen und Phytopharmaka. Ein Handbuch für die Praxis auf wissenschaftlicher Grundlage. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2002

Anschrift der Verfasserin:
Margret Rupprecht
Heilpraktikerin
Hohensalzaer Straße 6a
81929 München

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Naturheilpraxis 10/2012