Klassische Homöopathie

Reaktionen auf die Arzneimittelgabe – Unterschiede zwischen Hahnemann und Kent

Roger Rissel

Nach einem Vortrag beim 17. Therapeutentreffen der DGKH (Moos, 2011) – Wie die Reaktion unserer Patienten auf die Einmalgabe von C-Potenzen zu verstehen sei und wie weiter zu behandeln ist, wird in der Regel von Aussagen, die J.T. Kent gemacht hat, abgeleitet. Ein Vergleich von Kents Aussagen und dem, was Hahnemann schreibt, zeigt deutliche Unterschiede und Widersprüche. Wer von beiden kommt der Praxisrealität näher?


Einleitung

Wenn namhafte Homöopathen zu einem bedeutenden Sachverhalt Stellung nehmen, so sollte es die Regel sein, sich diese vergleichend anzuschauen. Hier werden die Aussagen Kents bezüglich der zu beobachtenden Reaktionen auf die Arzneimittelgabe mit dem Standpunkt Hahnemanns verglichen.

Dies hat auch deshalb einen hochaktuellen Hintergrund, weil von mehreren Autoren Aussagen Kents kritisch hinterfragt werden mit dem Ergebnis, dass sie nicht haltbar seien. So hat Hans Zwemke letztes Jahr bei einer Fachtagung formuliert: „Dies alles sind, nach meiner Überzeugung, die fatalen Auswirkungen des zentralistischen Kent’schen Konstitutionsgedanken, der dazu verleitet, den Charakter eines Menschen als Symptom ändern zu wollen. Ein Gedanke, der dem Hahnemann’schen Entwurf der Homöopathie nicht entspricht.“1 Oder Roland Methner, wenn er zusammenfasst: „Kent beeinflusste und veränderte die Homöopathie Hahnemanns wie kein anderer vor ihm. Gleichzeitig prägte er fast alle wichtigen Lehrer nach ihm (z.B. Pierre Schmidt, Margaret Tyler, Vithoulkas u.a.) und seine Art der Homöopathie ist heute weltweit dominierend.“ 2 Weiter führt Methner aus, Kent habe die Idee „hohe Potenzen wirken auf die Psyche, niedrige auf den Körper“ und den Begriff „Heringsches Heilgesetz“ eingeführt. Auch habe er die Auffassung gefördert, eine körperliche Untersuchung sei bei der Anamnese nicht wichtig und das richtige homöopathische Arzneimittel primär, Lebensführung, Ernährung, Krankheitserreger/Infektionen seien sekundär oder unwichtig.

Als Erstes wird der Frage nachgegangen, warum die Kentschen Aussagen zur Reaktion auf die Arzneimittelgabe als Lehrstandard gelten.

Hat Hahnemann dazu keine Aussagen gemacht?

Um Unterschiede und Abweichungen der Aussagen Kents im Vergleich zu Hahnemann aufzuzeigen, soll das Kent zur Verfügung stehende „Organon“ der 5. Auflage herangezogen werden. Dies ist auch deshalb sinnvoll, weil Kent mit Einzelgaben von C-Potenzen arbeitete wie es in dieser „Organon“-Auflage beschrieben ist. Textstellen aus den „Chronischen Krankheiten“, Band 1 werden ergänzend hinzugenommen.

Die Aussagen von Kent stammen aus dem Buch „Zur Theorie der Homöopathie“, einer Zusammenstellung der Vorlesungen Kents, durch seine Studenten verfasst. Es wird auf die dort in den Kapiteln 34 und 35 angeführten Reaktionen eingegangen.

Es zeigt sich, dass Hahnemann das Thema Reaktionen auf die Arzneimittelgabe ebenfalls umfassend darstellt. Die Tabelle weist aus, inwieweit Kent und Hahnemann übereinstimmen oder Unterschiede zu erkennen sind.

Ausarbeitung der Unterschiede

Zweifelsfrei lehnt sich Kent in seinen Aussagen bezüglich der Reaktionen an das Organon an. Trotzdem gibt es bedeutende Unterschiede zu den Aussagen Hahnemanns. Die auffallendsten Unterschiede finden wir bei den Reaktionen 2. Homöopathische Erstverschlimmerung und 3. Heftige Verschlimmerung. Diese und noch 5. Nur langsam fortschreitende Besserung sollen im Folgenden genauer untersucht werden.

...

Anmerkungen
1 Zwemke, 2010: S. 197
2 Methner, 2010: S. 79 f.
3 Hahnemann, 1833: S. 206-207 § 157
4 Hahnemann, 1833: S. 207 § 158
5 Hahnemann, 1833: S. 207 § 159
6 Hahnemann, 1833: S. 207-208 § 160
7 Hahnemann, 1833: S. 208-209 § 161
8 Kent, 1996: S. 378
9 Kent, 1996: S. 357-358
10 Hahnemann, 1833: S. 284-285 § 275
11 Hahnemann, 1833: S. 285-286 § 276
12 Hahnemann, 1991: S. 148
13 Kent, 1996: S. 376-377
14 Hahnemann, 1833: S. 257-259 § 246
15 Hahnemann, 1833: S. 259-263 § 247
16 Kent, 1996: Spinedi, XXXI

Literatur:
(1) Genneper/Wegener (Hrsg.): Lehrbuch der Homöopathie, 1. Aufl., Heidelberg: Haug, 2001.
(2) Hahnemann, S.: Organon der Heilkunst, Textkritische Ausg. der 6. Aufl., Neuausgabe, Heidelberg: Haug, 1999.
(3) Hahnemann, S.: Organon der Heilkunst, 5. verbesserte und vermehrte Aufl., Dresden und Leipzig: Arnold 1833.
(4) Hahnemann, S.: Die chronischen Krankheiten, Band 1, unveränd. 5. Nachdr. der Ausg. Letzter Hand, Düsseldorf: Schaub, 1835 – Heidelberg: Haug, 1991.
(5) Kent, J.T.: Zur Theorie der Homöopathie, 4. Aufl. Heidelberg: Haug, 1996.
(6) Luft, B./Wischner, M.: Samuel Hahnemann Organon Synopse, Die 6 Auflagen von 1810 – 1842 im Überblick, Heidelberg: Haug, 2001.
(7) Methner, R.: James Tyler Kent. Homöopathie Konkret 2010; (1): 73-85.
(8) Rissel, R.: Reaktionen auf die Arzneimittelgabe. Ein kritischer Vergleich von Hahnemann und Kent. Naturheilpraxis 2004; 05: 692-700.
(9) Rissel, R.: Dosis, Gabe und Potenz. AHZ 2005; 250: 183-190.
(10) Rissel, R.: Wie konnte Hahnemann so missverstanden werden? Homöopathie Zeitschrift 2011/I: 102-109.
(11) Schmidt, J., M. / Kaiser, D. (Hrsg.): Samuel Hahnemann: Gesammelte kleine medizinische Schriften, Heidelberg: Haug, 2001.
(12) Schmidt, J. M.: Die Bedeutung der sechsten Auflage des „Organons der Heilkunst“ (1842) für die Pharmakotherapie. In: Homoeopathica internationalis (Proceedings of the 48th Congress of the Liga Medicorum Homoepathica Internationalis. April 24–28, 1993, Vienna). Wien, München, Bern: Maudrich-Verlag, 1993, S. 227–236.
(13) Zwemke, H.: Kents Lectures on Homoeopathic Philosophy. ZKH 2010; 54 (4): 190-197.

Anschrift des Verfassers:
Roger Rissel
Martin-Wohmann-Str. 17
65719 Hofheim a. Taunus

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Naturheilpraxis 1/2012